Forschung und Entwicklung leben von internationaler Kooperation, denn die großen Probleme unserer Zeit verlangen nach globalen Antworten. Wer auf nationale Abschottung und Ausgrenzung setzt, gefährdet unsere Zukunft als Innovationsstandort.
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Den kategorischen Imperativ schrieb uns Immanuel Kant schon 1785 ins Stammbuch. Auch knapp 240 Jahre später hat seine Aufforderung nichts an Aktualität eingebüßt. Heute wie damals gilt: Wir müssen einstehen für die Werte, die uns am Herzen liegen. In einer Demokratie sind wir alle aufgerufen, uns zu engagieren – gerade jetzt, in Zeiten, in denen einige einst sicher geglaubte Werte wieder zur Disposition stellen wollen.
Insbesondere Wissenschaft und Forschung stehen in der Verantwortung. Die furchtbaren Auswüchse, die es haben kann, wenn Forscher die demokratische Basis verlassen und sich vor den Karren diktatorischer Regime spannen lassen, lehrt uns unsere deutsche Geschichte nur zu gut. Jedem Wissenschaftler steht heutzutage der immense Gewinn durch offenen internationalen Austausch und Kooperation vor Augen – da verbieten sich Gedankenspiele der natio nalen Abgrenzung von allein.
Trotzdem gewinnen in vielen Ländern Europas Rechtspopulisten an Zustimmung. In sechs von 27 EULändern sind sie bereits an der Regierung beteiligt. In Italien, Ungarn und Kroatien stellen sie gar den Regierungschef oder die -chefin. Ihr politisches Programm ist zwar meist schlicht und alles andere als wohlmeinend, dennoch scheint es für viele Menschen attraktiv. Andersdenkende und anders aussehende Menschen werden diffamiert, der baldige Zerfall von Werteordnung und Kultur wird beschworen. Scheinbar einfache Lösungen sollen globale Probleme beseitigen. Das Heil suchen die Menschenfänger in strammem Nationalismus und in einer ausgeprägten Feindlichkeit gegenüber allem vermeintlich Fremden: Wahlweise soll rigorose Abschottung oder – sprachlich unauffälliger, aber dafür umso perfider – die millionenfache „Remigration“ von Menschen die Lösung sein.
Dem müssen wir uns entgegenstellen! Die Freiheit, zu denken und sagen zu können, was man denkt – diese Freiheit macht den Unterschied. Auch in der Forschung. Der kategorische Imperativ ist dabei die Richtschnur, die verhindert, dass Freiheit in Beliebigkeit umschlägt. Denn ein Freiheitsbegriff, der sich in einem tumben „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ erschöpfte, würde der Willkür den Weg ebnen.
Freiheit lebt in einer Gesellschaft von Verantwortung. Sie ermöglicht es, sich zu engagieren und zu forschen, für unser Land und für unseren Wohlstand. Innovation braucht offene Grenzen und offene Herzen!
Was geschieht, wenn Freiheit und Verantwortung gleichermaßen verloren gehen, zeigt das dunkelste Kapitel unserer Vergangenheit: Der nationalsozialistischen Machtübernahme folgte in den 1930er-Jahren die „Säuberung“ des Wissenschaftssystems. Andersdenkende wurden systematisch ihrer Freiheit beraubt. Dies löste den größten intellektuellen Exodus der neueren Geschichte aus: Das Regime zwang den Physiker Albert Einstein und den Schriftsteller Thomas Mann ins Exil und mit ihnen Tausende weitere Koryphäen. Dem „Anschluss“ Österreichs folgte die Vertreibung von Vordenkern wie dem Mathematiker und Philosophen Kurt Gödel oder dem Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Dies hat die Wissenschaft in Deutschland und Österreich massiv und langfristig geschwächt. Übrig blieb eine gleichgeschaltete „Deutsche Wissenschaft“, die sich frei von eigener Verantwortung auch für grausame Forschungsprojekte hergab. Ideologie ersetzte das Streben nach echter Erkenntnis und pervertierte damit den Grundgedanken von Wissenschaft.
43 NATIONEN FORSCHEN IN EINER ORGANISATION
Heute ist die Wissenschaft sehr international aufgestellt, und auch die Diskussion über Verantwortlichkeit und Grenzen von Wissenschaft wird global geführt. Ein Beispiel: Bei der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts kooperierten mehr als 1.000 Wissenschaftler aus 40 Ländern. Der Blick auf Evonik belegt das: In unserer Forschungsorganisation arbeiten Menschen aus 43 Nationen zusammen, um nachhaltige Lösungen zu entwickeln, die das Leben ein Stück besser machen – Tag für Tag.
Offenheit und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit sind grundlegende Prinzipien, die wissenschaftlich Herausragendes ermöglichen. Das zeigen die Erfolge der europäischen Integration: Mit einem Anteil von fast 25 Prozent an der weltweiten Wissensproduktion – bei einem Anteil von nur knapp sechs Prozent an der Weltbevölkerung – ist Europa ein starker Motor des Fortschritts. Der ungehinderte Austausch mit den führenden Köpfen unserer Zeit und eine ungebrochene Strahlkraft für junge Talente sind dafür unverzichtbar.
Ob Europa ein Magnet für Wissenschaftler aus aller Welt bleibt, darüber kann jeder Einzelne von uns bald mitentscheiden. Anfang Juni sind rund 350 Millionen Europäerinnen und Europäer aufgerufen, das zehnte Europaparlament zu bestimmen. Wir haben es in der Hand: Nutzen wir unsere Stimme, damit die globalen Herausforderungen angegangen werden, mit denen wir alle konfrontiert sind.
DEMOKRATIE BRAUCHT AKTIVE DEMOKRATEN
Mit einer Stimmabgabe gibt man jedoch selbstverständlich nicht die eigene Stimme ab. Die Verantwortung, für die eigenen Werte und den gesellschaftlichen Zusammenhalt einzutreten, kann man nicht delegieren. Demokratie braucht aktive Demokraten: Wo stünde die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung ohne Rosa Parks? Als die Afroamerikanerin 1955 im Bus für einen Weißen Platz machen sollte, weigerte sie sich. Ihr Nein wurde zum Fanal der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller macht in ihren Romanen das Leben unter dem rumänischen Diktator Ceaușescu erfahrbar. In ihrem Werk beleuchtet sie die Rolle des Individuums im System und erinnert mit ihrer präzisen Sprache daran, kritisch zu denken und Verantwortung zu übernehmen.
Diese Beispiele zeigen: Jeder Einzelne kann und muss Rückgrat beweisen. Diskriminierung und emotionale Verrohung, das Verharmlosen hasserfüllter Rhetorik und die Unterscheidung in wertvolle und weniger wertvolle Menschen dürfen wir nie hinnehmen.Der amerikanische Historiker Peter Hayes, der die Geschichte der Evonik-Vorgängergesellschaft Degussa in der Zeit des Nationalsozialismus untersuchte, hat es anschaulich auf den Punkt gebracht: Wenn Freiheit und Menschenrechte in Gefahr geraten, sollten wir uns nicht mit der Frage „Was bleibt mir übrig?“ zufrieden geben. Stattdessen sollten wir uns fragen: „Was verbiete ich mir grundsätzlich?“ So werden wir handlungsfähig und können Populisten und Menschenfängern entgegentreten.
Denn wahre Toleranz ist ohne Haltung nicht zu haben. Dies verlangt einen eigenen Standpunkt. Die Bereitschaft, Nein zu sagen. Der Philosoph Karl Popper formulierte das so: „Wir sollten im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt.“