Ökosysteme sind weltweit bedroht. Katrin Böhning-Gaese, Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums, hält eine Umkehr jedoch für möglich – unter strikten Voraussetzungen.
Frau Böhning-Gaese, sie waren kürzlich am Kilimandscharo. Wie ist es um die Biodiversität an Afrikas höchstem Berg und seinen schmelzenden Gletscher bestellt?
Gletscher sind für die Biodiversität und die Menschen nicht zentral. Wichtig ist die Vegetation auf dem Berg. Wir haben dort eine trockene, heiße Landschaft. Wenn da kein Berg wäre, gäbe es nur ein paarmal im Jahr Niederschlag. Der Kilimandscharo generiert Steigungsregen. Die Bäume und Büsche, Flechten und Moose melken sozusagen die Wolken – und das ist wichtig für die Gewinnung von Wasser. Inzwischen leben 1,4 Millionen Menschen auf dem Berg und drumherum.
Wie können Wälder so viele Menschen versorgen?
Das Besondere am Kilimandscharo sind die „Chagga Homegardens“. In diesen Baumgärten wachsen Bananenbäume, unterhalb von ihnen Kaffeepflanzen, und wiederum darunter gedeiht Gemüse. Die Bananenblätter werden auf die Erde gelegt, verhindern so das Austrocknen und Abschwemmen des Bodens und geben Nährstoffe zurück. Da steht auch mal eine Kuh, es gibt Schweine und Hühner. Gleichzeitig hat man große Regenwaldbäume stehen lassen. Daraus entsteht eines der nachhaltigsten und an Biodiversität reichsten Systeme, die wir kennen. Am Berg können Menschen sich gesund und nachhaltig ernähren. Das wäre ein Modell für viele Gebiete Afrikas.
In weiten Teilen der Welt ist das Bewusstsein für Klimaschutz und den Erhalt der Natur nur sehr schwach ausgeprägt. Woran liegt das?
Die Menschen müssen verstehen, dass Klimawandel mit Biodiversitätsverlust zusammenhängt. Es geht darum zu erkennen, was für den Schutz von Klima und Biodiversität getan werden muss. Fast jede Naturschutzmaßnahme ist auch eine Klimaschutzmaßnahme, aber nicht jede Klimaschutzmaßnahme dient der Artenvielfalt. Denken Sie an den Anbau von Bioenergiepflanzen.
In der Erdgeschichte gab es fünf Massenartensterben. Immer gingen dominierende Arten zugrunde. Jetzt sprechen Sie vom sechsten Massenartensterben, die dominierende Art ist der Mensch. Ist das noch zu stoppen?
Ja, wir arbeiten beim Thema Biodiversität mit den gleichen Typen von Modellen wie in der Klimaforschung: also Zukunftsszenarien, bei denen wir verschiedene Zukünfte betrachten. Wir als Gesellschaft und in der Politik entscheiden, welchem Szenario wir folgen wollen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird die Biodiversität weiter abnehmen. Aber es gibt auch ein Szenario, mit dem wir die Kurve kriegen.
Das würden wir gern kennenlernen.
Um die Biodiversität bis 2030 zu stabilisieren und bis 2050 sogar ansteigen zu lassen, brauchen wir drei Maßnahmenpakete: erstens große Schutzgebiete, die gut gemanagt sind, und eine Renaturierung von Ökosystemen, zweitens eine nachhaltige und produktive Landwirtschaft und drittens eine Änderung im Konsum, nämlich weniger Lebensmittelverschwendung und eine stärker pflanzenbasierte Ernährung. Wird das alles umgesetzt, dann erholt sich die Biodiversität und kann sogar ansteigen.
2022 gab es beim Weltnaturgipfel COP15 einen Durchbruch: Die Staatengemeinschaft verabschiedete im kanadischen Montreal ein Rahmenabkommen, wonach 30 Prozent der Erdoberfläche bis 2030 unter Schutz gestellt werden sollen. Kann das gelingen?
Grundsätzlich schon. In Deutschland sind wir nah dran. Wir sind allerdings miserabel darin, den Schutz auch gut umzusetzen. Der Nationalpark Wattenmeer zum Beispiel ist einzigartig auf der Welt. Aber dort wird legal in der Kernzone Fischerei mit Grundschleppnetzen betrieben. In manchen Ländern des globalen Südens sind die Herausforderungen kleiner als bei uns, weil sie mit einer geringeren Bevölkerungsdichte zu tun haben. Brasilien hätte, wenn es seine großen Wälder schützen würde, locker das 30-Prozent-Ziel erreicht.
In der Vergangenheit haben wir viele Ziele nicht erreicht. Lag die Latte womöglich zu hoch?
Wenn sich die Politik keine ehrgeizigen Ziele setzt, hat man schon verloren. Der nächste Schritt ist, diese Ziele messbar zu machen, sodass sie eingefordert werden können. Hier sind wir schon besser geworden: Die Ziele des Montreal-Abkommens sind häufiger quantitativ als früher. Es gibt auch mehr Konsens in der Öffentlichkeit und den Medien darüber, dass man mehr machen muss. Wir können Gesetzesänderungen oder ein Umlenken der Subventionen nur durchsetzen, wenn es diesen gesellschaftlichen Rückhalt gibt.
In der Landwirtschaft erleben wir, dass die Politik Vorschriften rasch zurücknimmt, wenn nur laut genug protestiert wird.
200 Bauern mit 200 Treckern – das sieht immer nach viel Widerstand aus. Aber ich glaube, das Renaturierungsgesetz der EU, mit dem bei uns das 30-Prozent-Ziel erreicht werden soll, wird durchkommen. Anders als etwa das Pestizidgesetz, das zu eng gefasst und nicht gut durchdacht war. Aber auch wenn Landwirte gegen manche Maßnahme protestieren, müssen wir sehen, dass sich etwa Ökolandverbände für Renaturierung starkmachen. Die Landwirtschaft ist ein wichtiger Schlüssel: Weltweit werden drei Viertel der Ackerflächen für Tierfutter verwendet. Würde sich der Tierkonsum halbieren, wäre sehr viel Fläche frei.
Also freie Felder für die Industrie?
Nein, Ziel für die Industrie muss die Kreislaufwirtschaft sein: reduce, reuse, recycle. Das heißt, dass Biomasse nicht angebaut und dann verbrannt wird, sondern dass Abfallstoffe ganz anders verwendet werden. Die Förderung der Bioenergie hat die falschen Anreize gesetzt: Da wurden wunderbare Wiesen umgegraben, um Energiemais anzubauen. Wir müssen genau schauen, dass wir diesmal eine Strategie verfolgen, die uns nicht wieder auf die Füße fällt. Werden nachwachsende Rohstoffe in die chemische Wertschöpfung eingebracht, ist das etwas anderes, als sie in den Tank zu stecken und nach Bruchteilen von Sekunden wieder in die Luft zu blasen.
Wie profitiert die Wirtschaft denn von mehr Artenvielfalt?
Im aktuellen Bericht des World Economic Forum steht, dass für die nächsten zehn Jahre fünf Umweltrisiken zu den größten Bedrohungen für die Wirtschaft zählen. Biodiversität und der Kollaps der Ökosysteme sind auf Platz drei hochgerutscht. Auf Platz eins liegen Wetterextreme, dahinter kritische Veränderungen des Erdsystems. Sieht man es von der negativen Seite her, kann man formulieren: There is no business on a dead planet. Positiv betrachtet können sich Unternehmen, die jetzt in Biodiversität investieren, Marktvorteile verschaffen, denn die Regulatorik wird dies bald ohnehin verlangen.
Können Industriestandorte überhaupt fair miteinander konkurrieren? So vorteilhaft grüner Strom in der EU sein mag – mit dem Fracking-Gas in den USA kann er preislich nicht mithalten.
Da ist die Politik gefragt. Die Europäische Union führt jetzt Berichtspflichten für Unternehmen ein. Sie müssen künftig die Größe ihres Fußabdrucks in mehreren Umweltdimensionen belegen – von der Biodiversität und dem Schutz von Ökosystemen bis hin zur Kreislaufwirtschaft.
Führt das zum gewünschten Ziel? Die Chemieproduktion wächst derzeit vor allem in China.
Über die Lieferketten-Richtlinie haben wir zumindest ein Instrument, das in andere Länder hineinreicht. Wollen chinesische Anbieter in Europa Geschäfte machen, müssen sie nachweisen, unter welchen Bedingungen ihre Produkte hergestellt wurden. Vielleicht wird es noch dauern, bis die Wichtigkeit der Biodiversität auch in Peking erkannt wird. Die chinesische Bevölkerung hat jedoch erlebt, was passiert, wenn Wirtschaftsförderungspolitik Naturbelange völlig ausblendet. Es führt zu einer unglaublichen Luftverschmutzung oder zu Staubstürmen, die die Städte belasten. Hier hat China mittlerweile sehr ehrgeizige Pläne durchgesetzt.
Was wünschen Sie sich von der Wirtschaft?
Unternehmen sind zwar Teil des Problems, sie sind aber auch Teil der Lösung. Durch strengere Berichtspflichten wird das Ambitionsniveau höher gelegt. Unterm Strich sollten Unternehmen einen positiven Einfluss auf die Biodiversität haben. Das würde das Geschäftsmodell in die richtige Richtung treiben. In der Lebensmittelbranche setzen Unternehmen bereits auf Tierwohl oder auf ein stark pflanzenbasiertes Sortiment – weil die Verbraucher das nachfragen.
Wie lange wird es dauern, bis wir eine Trendwende spüren oder wenigstens messen können?
Wer einen Garten naturnah umgestaltet, bemerkt den Unterschied in wenigen Jahren. Dasselbe gilt für die Landwirtschaft. Beim Wald kann das länger dauern: In Tansania wird gerade versucht, in einer ausgedörrten und zum Teil versalzenen Savanne ein großes Naturschutzgebiet einzurichten. Die Bäume wachsen langsam, weil es relativ trocken ist – aber es gibt schon wieder die ersten Impala- und Zebraherden. Sie sehen: Es kann schnell gehen.