Der Pioneer Park liegt idyllisch am Rand von Hanau, direkt am Wald. Ganz in der Nähe fließt das Flüsschen Kinzig. Die Bewohner der neuen Siedlung werden hier künftig spazieren gehen, Kinder können im Wald toben. 5.000 Menschen sollen in wenigen Jahren auf dem ehemaligen Kasernengelände der U. S. Army wohnen. Das Militär hatte den Standort in der Nähe von Frankfurt am Main nach dem Zweiten Weltkrieg bezogen und 2008 stillgelegt. Die alten Baracken und Werkstattgebäude wurden abgerissen, jetzt entsteht hier ein Wohnquartier. Noch wirkt das Gelände etwas kahl, doch viele Reihen- und Einfamilienhäuser sowie kleine zweigeschossige Wohnblöcke sind bereits bewohnt.
Ungewöhnlich an diesem Neubaugebiet sind die armdicken Metallrohre, die an vielen Stellen aus dem Boden ragen. Sie reichen mehrere Meter tief in den Erdboden bis hinab zum Grundwasser. Regelmäßig kommen Techniker vorbei, um hier Wasserproben zu nehmen, denn im Boden befanden sich lange Zeit unerwünschte Hinterlassenschaften der U. S. Army – Chlorkohlenwasserstoffe (CKW). Diese sind fettlöslich und wurden jahrzehntelang in der Textilreinigung oder zum Säubern von Maschinen verwendet, auch in der ehemaligen Pioneer-Kaserne.
Die Substanzen können für Menschen gesundheitsschädigende Folgen haben, wenn sie damit in Berührung kommen beispielsweise durch Gemüse, das mit belastetem Wasser gegossen wurde.
Dass an diesem Ort nun Menschen wohnen und arbeiten können, ist einem Produkt von Evonik zu verdanken. Eine umweltfreundliche Substanz namens EHC Reagent bewirkt im Boden, dass Chlorkohlenwasserstoffe in harmlose Substanzen umgewandelt werden. Das günstige und nachhaltige Verfahren könnte künftig auf vielen Konversionsflächen, die zuvor industriell oder militärisch genutzt wurden, zum Einsatz kommen und bietet Kommunen und der Immobilienwirtschaft somit eine interessante Lösung.
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Verhängnisvolle Waschsubstanzen
Bodenverunreinigungen stellen weltweit ein gewaltiges Problem dar. Nach Schätzung der Europäischen Umweltagentur sind allein in Europa rund 250.000 Flächen bekannt, die durch Altlasten verunreinigt sind. Hinzu kommen rund 1,8 Millionen Flächen, die im Verdacht stehen, kontaminiert zu sein.
Damit auf diesen Grundstücken neue Wohnungen oder moderne Gewerbegebiete entstehen können, sind aufwendige Vorarbeiten nötig. Dazu werden in Deutschland und anderen europäischen Ländern Altlasten bislang meist ausgebaggert und deponiert („dig and dump“). Alternativ wird das verschmutzte Grundwasser abgepumpt und gereinigt („pump and treat“). „Diese Verfahren machen rund 90 Prozent des Marktes aus“, sagt Mike Mueller, der hinter der Entwicklung von EHC Reagent steckt.
Auch in Hanau mussten die Verantwortlichen handeln, bevor die frühere Army-Fläche neu genutzt werden konnte. Besonders viel CKW gelangte dort über die Jahre durch eine Wäscherei in den Boden. Das Militär nutzte Reinigungsmittel, die diese Verbindungen enthielten, um die Kleidung der Soldaten zu reinigen. Auch ein paar Hundert Meter weiter bei den alten Werkstätten, wo früher Fahrzeugteile entfettet wurden, gelangten CKW ins Erdreich; insgesamt rund drei Tonnen.
»Mit Proben haben wir die Größe des belasteten Bereichs ermittelt.«
PETER MARTUS TECHNISCHER LEITER BEI DER UMWELTBER ATUNG AECOM
Die Projektentwicklungsgesellschaft LEG Hessen-Hanau, die das Gelände vor einigen Jahren übernommen hatte, entschied, das 500.000 Quadratmeter große Areal umfassend zu sanieren. Unterstützt wurde sie vom Ingenieurunternehmen Aecom aus Frankfurt. „Im ersten Schritt haben wir Boden- und Grundwasserproben genommen, um die Größe des belasteten Bereichs zu ermitteln“, sagt Dr. Peter Martus, technischer Leiter bei Aecom. Die Untersuchung zeigte, dass das Grundwasser von Ost nach West unter dem ehemaligen Wäschereigebäude und dem ehemaligen Werkstattbereich hindurchfließt und die CKW als unterirdische Schadstofffahne sogar über das Kasernengelände hinaus verlagert. Der belastete Bereich war mit rund 11.000 Quadratmetern größer als ein Fußballfeld und bis zu 15 Meter mächtig.
Bei kleineren Altlasten wie etwa an Tankstellen lässt sich der Boden meist relativ einfach abtragen oder das belastete Grundwasser reinigen. Hier schieden beide Verfahren aus. Der Bodenaustausch bis in mehrere Meter Tiefe und in voller Breite wäre unwirtschaftlich gewesen. Eine Pump-and-Treat-Behandlung hätte viele Jahre gedauert. Zudem hätte man das strenge Sanierungsziel vermutlich nicht erreicht. Peter Martus schlug deshalb ein alternatives Verfahren vor: die Reinigung des Bodens an Ort und Stelle („in situ“). Dabei werden Substanzen in den Boden gepresst, die Schadstoffe zerstören oder binden und dadurch unschädlich machen.
Die LEG Hessen-Hanau willigte ein, und Martus nahm Kontakt zu seinem Kollegen Gordon Bures vom Sanierungsunternehmen Sensatec auf. Bures stammt aus Kanada. „Dort und in den USA wird für die Sanierung von CKW-Altlasten schon länger EHC Reagent von Evonik eingesetzt“, sagt der Schadstoffexperte, „und das schien uns auch in Hanau das Mittel der Wahl zu sein.“
Eisen und Pflanzenfasern
EHC Reagent besteht aus zwei umweltfreundlichen und nachhaltigen Hauptinhaltsstoffen: grobem Eisenpulver, das aus Metallschrott hergestellt wird, und pflanzlichen Fasern, die bei der Produktion von Pferdefutter anfallen. Hinzu kommt ein Verdickungsmittel. Rührt man EHC Reagent mit Wasser an, entsteht eine dickflüssige Masse, die sich gut ins Erdreich pumpen lässt. Die Kombination von Kohlenstoff aus den Futterresten und elementarem Eisen verleiht dem Produkt eine besondere Eigenschaft: Es greift die giftigen Chlorkohlenwasserstoff-Moleküle auf mehreren Wegen an und baut sie so gründlich ab.
Angesichts der enormen Größe des Geländes tasteten sich die Partner in Hanau langsam voran: In einer Pilotphase wurde zunächst im besonders stark belasteten Bereich um die ehemalige Wäscherei EHC Reagent in den Boden gepumpt. „Wir wollten sehen, wie stark die CKW tatsächlich abgebaut werden“, sagt Bures. Nachdem die Injektion der EHC-Masse abgeschlossen war, nahmen Mitarbeiter von Aecom regelmäßig Grundwasserproben. Nach einigen Monaten konnten sie erkennen, dass die CKW-Moleküle durch die biologischen und chemischen Reaktionen im Boden von den Chloratomen befreit, also dechloriert, wurden. Später waren im Grundwasser als Abbauprodukte nur noch kleine Kohlenstoffverbindungen, Chlorid und Wasser nachweisbar. „Das ist ein großer Erfolg“, sagt Bures. Anschließend wurden Injektionsbohrungen im gesamten belasteten Areal durchgeführt. Wie die Grundwasseranalysen zeigen, sind die CKW inzwischen fast überall in den sanierten Bereichen abgebaut.
»EHC Reagent schien uns in Hanau das Mittel der Wahl zu sein.«
GORDON BURES TECHNISCHER LEITER BEIM SANIERUNGSUNTERNEHMEN SENSATEC
Bures gehört zu den Entwicklern des Injektionsverfahrens, bei dem ein Bohrgestänge langsam in den Untergrund geschlagen wird. Etwa alle 50 bis 75 Zentimeter wird der Vortrieb gestoppt und über das Rohr EHC Reagent ins Erdreich gepresst.
Der Druck erweitert den Porenraum im Untergrund, sodass sich die Masse in einem Radius von bis zu fünf Metern um das Bohrloch verteilt. Im Pioneer Park wurden insgesamt 200 Tonnen EHC Reagent in den Boden gebracht. Nach und nach hat es die CKW-Moleküle zerstört, sodass das Grundwasser, das heute den Bereich durchströmt, keine Schadstoffe mehr mit sich trägt. Da die EHC-Reagent-Suspension zähflüssig ist, kann das Grundwasser sie nicht fortspülen. Sie bleibt für mehrere Jahre an Ort und Stelle.
Reaktion im Boden
Die CKW werden über drei verschiedene Wege abgebaut, zum einen mithilfe von Bodenbakterien, zum anderen über zwei chemische Reaktionspfade mithilfe des Eisens: So dient der in den Futtermittelabfällen enthaltene Kohlenstoff den Bakterien als Nahrung. Sie bauen die Futterreste ab und setzen dabei verschiedene Fettsäuren frei, unter anderem Ameisensäure, Buttersäure und Milchsäure. Diese Fettsäuren ernähren wiederum andere Bakterien, die CKW dechlorieren. Die chemische Reaktion mit dem Eisen läuft direkt ab: Im ersten Fall reagiert das Eisen unmittelbar mit den Chlorverbindungen. Im zweiten löst es sich zunächst im Grundwasser, um dann über einen leicht veränderten Reaktionspfad die CKW abzubauen.
Vom Start-up in den Konzern
Mike Mueller begleitet die Entwicklung von EHC Reagent von Beginn an. Der US-Amerikaner hat das Produkt mit seinem Start-up zuerst in den USA und in Kanada etabliert. Die Firma ging dann im US-Unternehmen Peroxychem auf, das 2020 von Evonik übernommen wurde. Seitdem arbeitet Mueller bei dem Spezialchemieunternehmen –und führt EHC Reagent als vielversprechende Substanz für In-situ-Verfahren in den europäischen Markt ein. „Die Stärke von EHC Reagent liegt in der Verbindung von bakteriellem und chemischem Abbau. Das macht das Verfahren besonders effizient“, sagt Mueller.
Mit der Evonik-Lösung lassen sich selbst die strengsten Vorgaben erfüllen. Da sich in direkter Nachbarschaft des Pioneer Parks eine Trinkwasserentnahmestelle befindet, haben die zuständigen Behörden einen CKW-Höchstwert von 20 Mikrogramm pro Liter Wasser vorgegeben. Das entspricht Trinkwasserqualität. Normalerweise werden für städtische Bereiche Grenzwerte von einigen 100 Mikrogramm als Sanierungsziel festgelegt. Die Wasserproben, die regelmäßig auf dem Gelände genommen werden, zeigen, dass die 20 Mikrogramm in weiten Teilen bereits unterschritten werden. An insgesamt 140 Stellen werden auch in den kommenden Jahren regelmäßig Messungen vorgenommen.
Manche Investoren und Behördenvertreter tendierten noch immer dazu, den kontaminierten Boden wegzuschaffen, berichtet Mueller. Die Vorstellung, die Schadstoffe im Untergrund zu behandeln, sei manchen nicht geheuer. Doch mittlerweile konnte der Amerikaner die zuständigen Ämter in mehreren Bundesländern davon überzeugen, dass EHC Reagent eine sinnvolle Alternative ist. Inzwischen wurde es europaweit in mehr als 200 Projekten eingesetzt.
Mit einer Menge von 200 Tonnen EHC Reagent ist der Pioneer Park das bislang größte Sanierungsvorhaben in Europa, bei dem die Substanz zum Einsatz kommt: „Hätte man den kontaminierten Bereich ausgehoben, wären Hunderte Lkw-Fahrten nötig gewesen, um das Erdreich wegzuschaffen“, sagt Mueller. Peter Martus und seine Kollegen bei Aecom haben im Detail analysiert, wie viel umweltfreundlicher das In-situ-Verfahren gegenüber dem Aushub oder dem Reinigen des Grundwassers ist. Dabei haben sie Lkw-Transporte, den Stromverbrauch der Pumpen und viele andere Parameter einbezogen. Im Pioneer Park verursacht die Sanierung mit EHC Reagent demnach 90 Prozent weniger Kohlendioxidemissionen als der Aushub kontaminierter Erde und 70 Prozent weniger als das Abpumpen und Reinigen des Grundwassers.
»Der Mix aus bakteriellem und chemischem Abbau macht das Verfahren besonders effizient.«
Mike Mueller MANAGER DES BODEN- UND GRUNDWASSERSANIERUNGS- TEAMS VON EVONIK ACTIVE OXYGENS IN DER REGION EMEA UND NAHOST
Wirtschaftlicher ist das In-situ-Verfahren obendrein: Eine Bodensanierung mit Aushub, Abtransport und Deponierung oder Aufbereitung des Bodens wäre mindestens dreimal so teuer gewesen wie die In-situ-Behandlung mit EHC. Für die Bauwirtschaft und Investoren seien Militär- und Industriebrachen attraktive Flächen, auf denen Wohnungen errichtet werden können, sagt Mueller. „Mit EHC Reagent lassen sich die Grundstücke nachhaltig und vor allem auch leise von Altlasten befreien.“
Dass das Pioneer-Park-Projekt ein voller Erfolg ist, sehen offenbar auch andere so: 2024 wurde es mit der wichtigsten deutschen Auszeichnung der Sanierungsbranche geehrt, dem Brownfield Award. Das Projekt erhielt den dritten Platz in der Kategorie „Besonders nachhaltig“.
Projekt auf Evonik-Werksgelände
Mit einer Altlast befasst sich Evonik derzeit auch in einem zweiten Projekt in Hanau. Hier geht es um die In-situ-Sanierung eines mit Arsenverbindungen belasteten Bereichs auf dem Werksgelände. 1875 entstand dort die Königlich-Preußische Pulverfabrik, die in Zeiten des Ersten Weltkriegs auch Arsen verarbeitete. Hinzu kommt Arsen aus natürlichen, sogenannten geogenen, Quellen: Unter Teilen des Geländes war das Arsen ursprünglich in festen Eisenverbindungen im Boden gebunden, in sogenannten Raseneisenerzfeldern. Durch die Arbeiten in der Pulverfabrik sowie andere industrielle Tätigkeiten während der langen Nutzungsdauer wurde der Boden aber chemisch so verändert, dass sich das Arsen aus dem Raseneisenerz löst. „Heute stehen wir vor der Aufgabe, diese historische Altlast zu sichern, damit das Arsen nicht weiter das Grundwasser belastet“, sagt Pascal Endres, der bei Evonik für das Altlastenmanagement am Standort Hanau zuständig ist.
Bislang wird das Grundwasser permanent abgepumpt, um zu verhindern, dass es Arsen über das Werksgelände hinausträgt. Das Pumpen kostet jedoch eine Menge Energie. Zudem müssen die Pumpen regelmäßig gewartet werden. „Nach Abwägung verschiedener Varianten und intensiver Konzeptabstimmung mit der zuständigen Behörde und unserem Umweltgutachter haben wir uns entschlossen, eine In-situ-Maßnahme einzusetzen. Das ist die nachhaltigere Sicherungsmethode“, sagt Endres. Wie zuvor auf dem Pioneer-Park-Gelände werden derzeit Injektionsbohrungen durchgeführt. Zum Einsatz kommen in Hanau allerdings andere Produkte: Geoform ER und Metafix, zwei Reagenzien, die im Untergrund geeignete geochemische Bedingungen zur Immobilisierung des Arsens schaffen.
Dabei bildet sich das extrem haltbare und reaktionsträge Mineral Arsenopyrit, das auch in natürlichem Gestein vorkommt. „Kohlenwasserstoffe wie im Pioneer Park kann man chemisch abbauen, Metalle wie Arsen nicht“, erklärt Endres, „daher ist es sinnvoll, diese vor Ort dauerhaft chemisch zu binden, sodass sie das Grundwasser nicht mehr belasten.“