Das Gerät sieht aus wie eine übergroße Waschmaschine: Hinter dem runden Fenster im rechteckigen Gehäuse dreht sich langsam eine Trommel. Sie fasst 56 Liter und wälzt 30.000 weiße Kapseln, wie man sie von Medikamenten kennt. Kaum zu sehen ist der feine Sprühnebel, der aus zwei Düsen als Beschichtung gleichmäßig auf die Kapseln aufgetragen wird. Es ist ziemlich laut in diesem Raum im Erdgeschoss eines Evonik-Labors am Standort Darmstadt. Peter Niepoth steht deshalb im Nebenraum und überwacht den Prozess durch eine Glasscheibe hindurch. Der Chemielaborant ist als Innovation Project Manager verantwortlich für die technische Umsetzung während der Entwicklung von Eudracap colon – ebenjener Kapsel, die nebenan zu sehen ist.
„Die versprühte Suspension darf keine zu großen Tropfen bilden, sonst verkleben die Kapseln. Sie dürfen aber auch nicht zu fein sein, sonst wird der Nebel durch die Prozessluft getrocknet, bevor er auf der Kapsel auftrifft“, erläutert Niepoth die Herausforderung.
Die Beschichtung macht aus einer simplen Kapsel aus Zellulose ein Hightech-Vehikel, das in der Medizin völlig neue Behandlungsmethoden ermöglicht: Dank Eudracap colon lassen sich erstmals empfindliche Wirkstoffe wie biotechnologisch hergestellte Proteine und Peptide (Biologics), RNA-Therapeutika oder auch lebende Mikroorganismen zur Veränderung der Darmflora sicher durch den Magen schleusen und gezielt erst im Dickdarm freisetzen – dort, wo sie direkt ihre Wirkung entfalten oder vom Körper aufgenommen werden.
Behandelt werden könnten auf diese Art etwa Darmkrebs oder Darminfektionen und chronische Erkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn. Auch Wirkstoffe gegen zahlreiche weitere schwerwiegende Erkrankungen würden optimal über die Schleimhaut des Dickdarms aufgenommen, könnten sie dorthin gelangen – darunter Mittel gegen Parkinson, Alzheimer, Diabetes, Fettleibigkeit und chronische Schmerzen. Bislang bleibt mangels oraler Darreichungsmöglichkeiten meist nur die für Patienten aufwendige und unangenehme Injektion.
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Gewaltiges Marktpotenzial
Eudracap colon ermöglicht es, Wirkstoffe – sogenannte Actives oder APIs (Active Pharmaceutical Ingredients) – gegen all diese Erkrankungen komfortabel als Kapsel zu verabreichen. Mehr als 750 Wirkstoffkandidaten für die orale Anwendung aus den Bereichen Mikrobiom, Oligonucleotide und Biologics befinden sich derzeit in der klinischen Entwicklung.
Als einen „Glücksfall“ bezeichnet Produktmanagerin Dr. Bettina Hölzer den Zeitpunkt der Entwicklung von Eudracap colon. „Als wir vor einigen Jahren das Marktpotenzial für eine derartige Kapsel evaluiert haben, war zwar klar, dass es für dieses Produkt Bedarf gibt“, erinnert sie sich. Doch während der Entwicklung ist so manches geschehen, weshalb die Größe des Markts die Erwartungen heute sogar übertrifft.
Mit der Covid-19-Impfung erhielt zum Beispiel die RNA-Technologie ungeahnte Aufmerksamkeit. Seitdem boomt die Entwicklung von RNA-Wirkstoffen. Bislang müssen diese fast immer gespritzt werden. Auch die Forschung am Darmmikrobiom und an Bakterienstämmen als Therapieansatz hat stark zugenommen. Sie eröffnet Behandlungsmöglichkeiten, die vor zehn Jahren niemand für möglich gehalten hat.
Überdies gibt es in der Pharmabranche großes Interesse an oralen Biologics wie GLP-1-Rezeptor-Agonisten, die unter anderem helfen, den Blutzuckerspiegel und die Magenentleerung zu regulieren. Zuletzt hat die Abnehmspritze Wegovy derartige Peptid-Wirkstoffe sogar im Lifestyle-Bereich populär gemacht.
Eudracap colon baut auf einer 70-jährigen Erfolgsgeschichte auf: So lange schon nutzen vor allem Pharmahersteller das funktionelle Polymer Eudragit von Evonik als Beschichtung, um Tabletten, Pellets, Partikel oder auch Kapseln aus Gelatine oder Hydroxypropylmethylcellulose (HPMC) durch den Magen zu schleusen. Unbeschichtet würden Magensäure und Enzyme diese Darreichungsformen zersetzen und den Wirkstoff zu früh freisetzen. Die klassische Eudragit-Technologie eignet sich jedoch nur für Actives, die den Beschichtungsprozess, das sogenannte Coating, überstehen.
Empfindliche Fracht
Therapien mit Bakterien, die das Darmmikrobiom ändern sollen, gehören nicht dazu. Die Mikroorganismen lassen sich nicht als Tablette verpressen – Druck, Luftfeuchtigkeit und Wärme würden sie abtöten. „Die klassische Alternative wäre, eine HPMC-Kapsel zu befüllen und zu beschichten, damit sie sicher durch den Magen kommt“, sagt Hölzer. Aber auch die mit einer Beschichtung verbundene Wärme und mechanische Belastung würden die Bakterien nicht überleben. Ähnlich gelagert ist die Situation bei Peptiden und RNA. Sie müssen im Magen vor den Verdauungsenzymen geschützt werden. Doch genau wie die Bakterien halten Peptide und RNA dem Coating oft nicht stand. Es galt also, eine Lösung zu finden, die den Wirkstoff schont und ihn sicher in den Dickdarm transportiert.
„Die naheliegende Idee war, eine vorverschlossene HPMC-Kapsel mit Eudragit zu funktionalisieren“, erinnert sich die organische Chemikerin. „Der Hersteller des Wirkstoffs könnte diese dann öffnen, sein Active einfüllen und die Kapsel final verschließen.“ Doch das klingt einfacher, als es ist: Würde sich die leere Kapsel während der Beschichtung öffnen, bestände die Gefahr, dass sie sich verformt und die Hälften anschließend nicht mehr zusammenpassen. Wäre die Kapsel hingegen komplett beschichtet, ließe sie sich nicht mehr ohne Weiteres öffnen, um sie zu befüllen. Und hätte das Coating im Bereich des Spalts eine Unterbrechung, würde der Schutz gegen Magensäure und Enzyme nicht verlässlich funktionieren.
»Die Größe des Markts für funktionalisierte Kapseln übertrifft unsere Erwartungen.«
Bettina Hölzer Produktmanagerin Eudracap
„Anfangs war meine größte Sorge, ob sich unsere Idee in kommerziellem Maßstab umsetzen lässt“, erzählt Hölzer. Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet: Dass eine vorverschlossene Kapsel sich während des Coating-Prozesses öffnet, blieb dank technischer Gegenmaßnahmen die Ausnahme. Auch die Herausforderung, eine lückenlose Beschichtung nach dem finalen Schließen der Kapsel sicherzustellen, konnte das Team dank seiner langjährigen Erfahrung mit Coating-Prozessen meistern.
Der wichtigste Teil der Lösung bestand darin, die Suspension homogen in genau der richtigen Dicke aufzusprühen: dünn genug, dass die Kapsel einfach geöffnet und wieder verschlossen werden kann; dick genug, dass sich die Schicht im Spalt beim Schließen zusammendrückt und diesen lückenlos abdichtet. Dabei erlebte das Team eine positive Überraschung: Durch das Upscaling, also das Hochfahren der Stückzahlen, wurde die Beschichtung für Eudracap colon noch einmal homogener.
Weniger Kosten, mehr Tempo
Für Pharmaunternehmen hat die vorbeschichtete und vorverschlossene Kapsel sowohl im Entwicklungs- als auch im Fertigungsprozess Vorteile. „Die Kapseln sind funktionalisierte Container. Es muss also keine komplexe Formulierung mehr entwickelt werden, um das Active durch den Verdauungstrakt zu transportieren“, sagt Hölzer. „Das reduziert Entwicklungs- und Produktionskosten und verkürzt die Zeit bis zum Markteintritt des neuen Medikaments.“ Außerdem lassen sich die vorbeschichteten Eudracap-Kapseln in den Fabriken der Pharmaunternehmen mit den vorhandenen Maschinen befüllen, die auch für andere Kapseln genutzt werden. Weil die befüllte Kapsel nicht mehr beschichtet werden muss, entfällt für die Kunden ein kompletter Prozessschritt.
Damit hatte das Projektteam eines der zwei großen Probleme gelöst. Die zweite Herausforderung bestand darin sicherzustellen, dass der Wirkstoff wirklich nur im Dickdarm freigesetzt wird. Denn in den davorliegenden Regionen des Verdauungstrakts würden Säuren und Enzyme einen Großteil der Wirkstoffe zersetzen, bevor sie aufgenommen werden können. Außerdem bietet nur der Dickdarm die Möglichkeit, Wirkstoffe gleichmäßig über einen längeren Zeitraum hinweg aufzunehmen.
Einmal durch den Körper
Grundsätzlich wird die Kapsel durch einen speziellen Polymermix so eingestellt, dass sie sich erst oberhalb eines bestimmten pH-Werts auflöst. Denn vom Magen an, in dem aufgrund der Verdauungssäfte je nach Sättigung ein pH-Wert zwischen 1 und 5 herrscht, steigt der pH-Wert im Normalfall stetig: Im Dünndarm beträgt er bei gesunden Menschen etwa pH 5,5, und erst im Dickdarm übersteigt der pH erstmals einen Wert von 7,0.
„Allerdings ist der pH-Wert im Darm bei Patienten mit Darmerkrankungen häufig etwas niedriger“, erklärt Hölzer. Deshalb musste das Team noch einen weiteren Faktor einbeziehen: die mechanischen Druckbelastungen im Verdauungstrakt. Labortests, die sowohl den pH-Wert-Verlauf als auch die mechanische Belastung simulieren, halfen dabei, eine Lösung zu entwickeln, die die Wirkstofffreisetzung im Dickdarm sicherstellt. Dort werden Peptide und RNA bestmöglich absorbiert, und Mikroorganismen finden den idealen Ort vor, um sich anzusiedeln.
„Aber treffen wir dann genau den Punkt, den wir erreichen wollen?“, fragt Innovation Project Manager Niepoth. Um das zu gewährleisten, analysierte das Team die Freisetzung der Wirkstoffe an zwei ähnlichen Geräten.
Das erste Gerät, ein Zerfallstester, steht im Darmstädter Labor im Erdgeschoss. Mehrere transparente Gefäße werden dort in einen Wassertank abgesenkt. Darin befinden sich Röhrchen, in jedem davon eine Kapsel. Ein kleines Gewicht auf der Kapsel, eine sogenannte Disc, fungiert als Sensor. Ein Arm, der nach oben und unten fährt, hält Kapsel und Flüssigkeit in Bewegung und simuliert so den Transport im Verdauungstrakt.
„In den Gefäßen sind unterschiedliche pH-Werte eingestellt und eine Temperatur, die der des menschlichen Körpers entspricht“, erläutert Niepoth. Bei pH 1,0 sollte die Kapsel auch nach zwei Stunden noch nicht zerfallen. Und erst bei pH 7,2 sollte in maximal einer Stunde die gesamte Füllung freigesetzt werden. Das geschieht, indem die Kapsel zunächst weich wird und sich dann auflöst. Der Sensor sinkt dadurch zu Boden und löst ein Signal aus: Auflösung abgeschlossen, die Zeitmessung wird angehalten.
Auf dem Weg in die Anwendung
Ein Stockwerk höher misst ein Freisetzungsgerät mit einem optischen Sensor, wie viel des Inhalts bereits in die Lösung freigesetzt wurde. „Anfangs dienten uns beide Geräte zur Entwicklung des richtigen Coatings“, erklärt Niepoth. Jetzt, da die Entwicklung abgeschlossen ist, findet hier die Qualitätskontrolle statt. Befüllt werden die Kapseln dazu händisch, entweder in einem einzelnen Halter mit Trichter oder mithilfe eines Bretts, mit dem sich 30 bis 50 Kapseln gleichzeitig bearbeiten lassen. In der kommerziellen Produktion verläuft dieser Schritt automatisiert: Für mehrere Zehntausend Kapseln braucht eine kleine Produktionsmaschine weniger als eine Stunde.
Eudracap colon ist seit September 2024 für Tierstudien und Labortests erhältlich und soll bis Ende dieses Jahres auch als IPEC-GMP-zertifiziertes Produkt erhältlich sein – eine Voraussetzung dafür, es in der Humanmedizin zu nutzen. Ein Schwesterprodukt ist schon weiter: Eudracap enteric weist die gleichen Eigenschaften auf, das Coating ist jedoch so eingestellt, dass die Kapsel den Wirkstoff bereits im oberen Dünndarm freisetzt.
„Für Eudracap enteric haben wir einen Kunden, dessen Therapeutikum sich bereits in Phase III der klinischen Entwicklung befindet – der letzten Stufe vor der Zulassung. Er hat sich nach Phase II entschieden, auf unsere Kapseln zu wechseln, und damit bessere Ergebnisse erzielt als mit allem anderen, was bisher am Markt ist“, erzählt Hölzer.
Ein anderer Kunde berichtet, dass dank der Evonik-Kapsel rund 90 Prozent der eingefüllten Bakterien die Magenpassage überleben, wo es mit der zuvor von ihm genutzten Methode deutlich weniger waren. Wirken sollen die Präparate beider Kunden gegen Infektionen mit Clostridium difficile, einem gegen viele Antibiotika resistenten Bakterium, das Bauchschmerzen und Durchfall verursachen kann, was im schlimmsten Fall tödlich endet. Dass ein Kunde in Europa und einer in den Vereinigten Staaten sitzt, freut Hölzer besonders: „Dadurch kennen die beiden wichtigen Zulassungsbehörden Eudracap schon.“
Eine dritte Plattform heißt Eudracap Select. „Damit können wir kundenspezifische Anforderungen erfüllen“, erläutert die Chemikerin. Wenn etwa ein anderer pH-Wert für die Auflösung gewünscht ist, lässt sich die Polymermischung anpassen. Auch abweichende Kapselgrößen sind möglich. „Außerdem können die Kapseln nicht nur Mikroorganismen, Peptide und RNA sicher an das Ziel schleusen, sondern grundsätzlich mit jedem denkbaren Active befüllt werden“, berichtet Hölzer. Jetzt, da die technische Entwicklung von Eudracap colon erfolgreich abgeschlossen ist, kann sich das Team neuen Projekten widmen. Hölzer: „Für viele moderne Therapien gibt es noch keine zufriedenstellenden Formulierungen und Darreichungsformen. Hier setzen wir an.