Sie ist eine der Größten ihrer Art weltweit: Die neue Methanol-Anlage des Projektentwicklers European Energy in der dänischen Stadt Apenrade soll künftig 42.000 Tonnen des Alkohols pro Jahr liefern – unter anderem als Treibstoff für das Containerschiff „Laura Mærsk“. Der Clou: In der Anlage mit den graugrünen Hallen und den vielen Rohrleitungen wird Methanol umweltfreundlich hergestellt – aus Kohlendioxid und aus Wasserstoff, der in einer Elektrolyseanlage direkt vor Ort erzeugt wird.
In diesem Elektrolyseur wird Wasser mithilfe von Strom aus Sonnen- und Windenergie in seine Bestandteile Sauerstoff und Wasserstoff zerlegt.
Der Wasserstoff wird gleich vor Ort weiterverarbeitet. Fachleute sprechen bei solchen Anlagen von „Power-to-X“. Das bedeutet, Strom aus erneuerbaren Energien zu nutzen, um damit wertvolle Rohstoffe herzustellen, die bislang aus Erdgas, Kohle oder Mineralöl gewonnen werden – zum Beispiel Methanol. Die Energiewirtschaft und die Industrie setzen große Hoffnungen auf Power-to-X. Analysten erwarten für die kommenden Jahre, dass der Power-to-X-Markt stark wachsen wird. Im vergangenen Jahr wurde er auf rund 700 Millionen US-Dollar weltweit taxiert, bis 2032 soll er sich auf 1,6 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppeln. Es bleibt jedoch viel zu tun. Denn noch ist unklar, ob und wie schnell es gelingen wird, die Industrie mit Power-to-X nachhaltig aufzustellen – nicht zuletzt die chemische Industrie.
»Die chemische Industrie steht vor einem Paradigmenwechsel.«
Prof. Robert Franke Koordinator des Projekts „Power2ValueChemicals“
Immerhin soll Power-to-X künftig nicht nur Wasserstoff und Methanol liefern, sondern auch andere Chemikalien, von denen die Industrie große Mengen benötigt und die bislang zu erheblichen Teilen aus Erdöl und Erdgas gewonnen werden. „Die chemische Industrie steht vor einem Paradigmenwechsel. Wir müssen uns auf lange Sicht von den fossilen Rohstoffen verabschieden“, sagt Professor Dr. Robert Franke, Chemiker bei der Evonik-Tochtergesellschaft Oxeno. Deren Experten haben sich mit Industrie- und Forschungspartnern zusammengetan, um im Großprojekt „Power2ValueChemicals“ auszuloten, wie Power-to-X klassische chemische Prozesse grüner machen kann. Sie wollen Kohlendioxid als Rohstoff nutzen, um daraus Kohlenmonoxid (CO) herzustellen, das die Industrie bislang aus Erdgas gewinnt.
CO wird unter anderem für die Produktion von Parfüms, Schmierstoffen, pharmazeutischen Wirkstoffen oder auch Polyamid benötigt. Mit dem „Power2ValueChemicals“-Ansatz wäre die chemische Industrie doppelt grün. Denn zum einen nutzte man das Klimagas Kohlendioxid als Rohstoff und würde es in Produkten binden. Zum anderen könnte man auf den fossilen Rohstoff Erdgas verzichten.
Lohnt sich der Aufwand?
„Power2ValueChemicals“ ist ein außergewöhnliches Vorhaben, weil bislang selten die gesamte Kette von der CO-Gewinnung aus Kohlendioxid bis zum fertigen Chemieprodukt im industriellen Maßstab durchexerziert wurde. In einem der beiden Fallbeispiele soll sie Valeriansäuremethylester als Endprodukt liefern; eine Verbindung, die sich unter anderem in reifen Ananasfrüchten findet und der Parfümindustrie als wichtiger Duftstoff dient. „Wir müssen nicht nur technische Fragen lösen, sondern auch analysieren, wie hoch der Energieaufwand und die Kosten der gesamten Wertschöpfungskette sind“, sagt Franke, der das Projekt „Power2ValueChemicals“ koordiniert. „Es bedarf einer validen und kritischen Praxiseinschätzung, um zu entscheiden, ob eine solche Anlage im Industriemaßstab aufgebaut werden könnte.“ Insofern wird es spannend, wenn jetzt nach und nach die Experimente anlaufen und die Versuchsanlagen in Betrieb gehen.
Der Prozess lässt sich grob in zwei große Bereiche aufteilen. Er beginnt mit der Elektrolyse, in der Kohlendioxid (CO2) in seine Bestandteile zerlegt wird: je ein CO-Molekül und ein Sauerstoff-Atom (O). Anschließend wird mithilfe des CO Valeriansäuremethylester hergestellt. Für die Elektrolyse kommen in „Power2ValueChemicals“ zwei Pilotanlagen von Siemens Energy zum Einsatz. Sie wurden bei dem Projektpartner in Erlangen und München entwickelt und getestet und liefern zuverlässig Kohlenmonoxid. Noch aber ist die CO-Ausbeute gering, der Prozess muss optimiert werden. „Diese Aufgabe gehen wir jetzt gemeinsam mit Siemens Energy an“, sagt Dr. Alexander Bauer, Elektrochemiker am Forschungszentrum Jülich, einem weiteren Projektpartner. „Wir verändern systematisch und simultan die Parameter Druck und Temperatur sowie andere Einstellungen, um mehr CO herauszuholen.“
Dabei tauchen die Forscher tief in die chemischen und technischen Details der Elektrolyse ein. Deren Herzstück ist ein Katalysator aus Silber, eingebettet in eine Kunststoffmembran. An diesem Katalysator findet die Spaltung des CO2 zu CO und einem Sauerstoffatom statt.
„Wir haben die Katalysatormembran und die gesamte Anlage für die Kohlenmonoxid-Herstellung über mehrere Jahre selbst entwickelt“, erklärt Dr. Elfriede Simon von Siemens Energy. Derzeit verfügt das Unternehmen über zwei Elektrolyseanlagen.
In Jülich geht jetzt zunächst die kleinere Anlage in Betrieb. Deren Katalysatormembran-Reaktionsfläche misst rund 300 Quadratzentimeter. Später soll dann die große Anlage mit ihrer 5.000 Quadratzentimeter großen Membran nach Jülich gebracht werden. „Für uns ist es sehr viel einfacher, Experimente zunächst an kleinen Anlagen durchzuführen“, sagt Bauer. „Man benötigt weniger Gase und Flüssigkeiten, und das ganze Handling fällt leichter.“
»Wir kitzeln die optimalen Bedingungen heraus.«
Alexander Bauer Elektrochemiker am Forschungszentrum Jülich
Die Ausbeute einer Elektrolyse wird üblicherweise optimiert, indem man nacheinander einzelne Parameter verändert, etwa den Druck. „Wir hingegen verändern gleichzeitig mehrere Parameter, um die optimalen Bedingungen herauszukitzeln“, erzählt Bauer. Für jede Einstellung führt er mehrere Experimente durch, um festzustellen, ob sich der Prozess dabei signifikant verbessert. „Letztlich ist es ein statistisches Optimierungsverfahren“, sagt er. Man nennt das auch „experimentelles Design“.
THEORIE TRIFFT REALITÄT
Doch selbst eine optimal eingestellte Elektrolyseanlage liefert stets Nebenprodukte, beispielsweise Wasserstoff oder Sauerstoffverbindungen. Außerdem bleibt Kohlendioxid übrig, das nicht in CO und Sauerstoff gespalten wurde. „Die Elektrolyse produziert immer eine Mischung an Gasen. Daher sprechen wir von Produktgas und nicht von reinem Kohlenmonoxid“, sagt Bauer. Für die „Power2ValueChemicals“-Partner besteht eine Herausforderung darin, dass solche Gasmischungen in der chemischen Industrie unüblich sind. Kohlenmonoxid wird heutzutage über die Dampfgasreformierung aus Erdgas gewonnen. Diese liefert sehr reines CO. „In ,Power2ValueChemicals‘ müssen wir also auch ausloten, ob unsere etablierten Produktionsprozesse mit den anderen Bestandteilen im Produktgas zurechtkommen“, so Evonik-Experte Franke.
Ob das klappt, soll jetzt die Produktion des Valeriansäuremethylesters zeigen. Die zentrale chemische Reaktion für dessen Herstellung ist die Methoxycarbonylierung, in deren Verlauf das CO-Molekül in ein Butenmolekül eingebaut wird – eine kleine Molekülkette aus vier Kohlenstoffatomen und acht Wasserstoffatomen (siehe Grafik unten). Wie gut die Methoxycarbonylierung mit dem Gasgemisch aus der Elektrolyse funktioniert, prüfen die Projektpartner gleich doppelt: zum einen im Labor mit extrem empfindlichen Messgeräten und zum Zweiten in einer großen Technikumsanlage.
Power2VC
So funktioniert die Umwandlung von Kohlendioxid in wertvolle Chemikalien.
Die Laborexperimente finden bei einem weiteren Projektpartner statt, dem Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion (MPI CEC) in Mülheim an der Ruhr. Die Technikumsanlage wiederum wird am Evonik-Standort in Marl in Betrieb gehen. In einem Dauertest von 4.000 Stunden, das entspricht knapp einem halben Jahr, überprüfen die Experten dort, ob die Methoxycarbonylierung mit dem Gasgemisch stabil läuft. Ist das nicht gewährleistet, sind die Konsequenzen weitreichend. Die Anlage müsste gereinigt und eventuell sogar auseinandergebaut werden. Die Folge: ein Produktionsausfall von vielen Stunden oder gar mehreren Tagen.
Das Forscherteam am MPI CEC in Mülheim schaut sich deshalb im Detail an, wie die chemischen Reaktionen ablaufen. Die Chemieingenieurin Lisa Steinwachs hat dafür eine mannshohe Laboranlage aus Edelstahlbehältern und Schläuchen entwickelt und aufgebaut, die, von durchsichtigen Acrylglaswänden abgeschirmt, in einem der Mülheimer Laborräume steht.
»Derzeit läuft der Prozess bei 30 Bar. Eventuell brauchen wir höhere Drücke.«
Lisa Steinwachs Chemieingenieurin am MPI
Die eigentliche Methoxycarbonylierung findet in einem Edelstahlbehälter von der Größe einer Kaffeekanne statt. Er ist etwa zur Hälfte mit Methanol gefüllt. Von oben wird das Produktgas mit dem CO eingeleitet. Hinzu kommt ein Katalysator, der fein dosiert in den Reaktor gepumpt wird. Er treibt die entscheidende Reaktion an – den Einbau von CO in die kurze Kohlenwasserstoffmolekülkette. Statt des Butens, das man für den Valeriansäuremethylester benötigt, nutzt Steinwachs derzeit einen anderen Kohlenwasserstoff: Hexen. Buten liegt als Gas vor, Hexen hingegen ist flüssig und lässt sich daher gut mit dem flüssigen Methanol mischen. „Dadurch ist die Reaktion besser zu steuern“, so die Expertin. „Wenn wir erste Erfahrungen gesammelt haben, werden wir auf gasförmiges Buten umsteigen und Valeriansäuremethylester herstellen.“
Entscheidend für die Methoxycarbonylierung ist, wie sich der Katalysator verhält. Kommt er mit dem Gasgemisch zurecht? Oder reagiert er mit dem im Reaktionsgas enthaltenen CO2 zu festen Komplexen, sodass er irgendwann versagt? Zerfällt er gar von ganz allein in einer „autokatalytischen Zersetzung“? „Solche Fragen klären wir an unserer kleinen Anlage, bevor der Langzeitversuch in Marl startet“, sagt Steinwachs, „denn die kann man leichter auseinanderbauen und reinigen, wenn die Reaktion plötzlich zusammenbricht.“
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Ab 70 Bar wird es spannend
In Mülheim lassen sich chemische Reaktionen in einer Operando-Analyse live beobachten. Dafür ist das Labor mit entsprechenden Analysegeräten ausgestattet, mit denen die Wissenschaftler verfolgen können, welche Moleküle im Reaktor entstehen und miteinander reagieren – und ob der Katalysator durch Kohlendioxid oder dessen Reaktionsprodukte blockiert wird. Zum Inventar zählen unter anderem Kernspinresonanzspektroskope, die Moleküle über Magnetfelder bestimmen, und Geräte, die die Stoffe mit Infrarotlicht nachweisen. „Die Operando-Methode ist etwas Besonderes“, sagt Dr. Andreas Vorholt, Chemiker und Arbeitsgruppenleiter am MPI CEC. „Sie hilft uns wesentlich dabei, die Methoxycarbonylierung mit dem Produktgas aus der Elektrolyse Schritt für Schritt zu verbessern.“
»Wir finden heraus, welche Probleme und Risiken es gibt.«
Andreas Vorholt Chemiker und Arbeitsgruppenleiter am MPI CEC
Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass das Kohlendioxid im Produktgas das CO verdünnt. Für die Reaktion mit dem Katalysator bedeutet das, dass Katalysator und CO seltener zusammenfinden – und der Prozess am Ende nur wenig Valeriansäuremethylester liefert. Letztlich muss der Druck im Reaktionsbehälter erhöht werden, damit CO und Katalysator enger zusammenrücken. „Derzeit läuft der Prozess bei 30 Bar. Eventuell brauchen wir höhere Drücke“, sagt Lisa Steinwachs. Werden etwa 70 Bar benötigt, würde es spannend. Dann könnte das Kohlendioxid in den überkritischen Zustand übergehen, eine Art Zwitterzustand zwischen fest und flüssig, bei dem Kohlendioxid besonders reaktiv ist. Das würde den Prozess deutlich anspruchsvoller machen, weil die Anlage robuster ausgelegt werden müsste – etwa mit dickeren Stahlbehältern sowie robusteren Dichtungen und Schläuchen. „Im Projekt sind wir auch für das De-Risking zuständig. Wir finden heraus, welche Probleme und Risiken es gibt, ehe die aufwendig zu betreibende große Technikumsanlage in Marl in Betrieb geht“, sagt Andreas Vorholt.
Alles in allem sei „Power2ValueChemical“ ein außergewöhnliches Projekt, betont Robert Franke. Es wird durch die Kopernikus-Initiative des Bundesforschungsministeriums unterstützt, die große Energieprojekte fördert. „Unser Projekt ist eines der am stärksten chemieorientierten unter dem Dach von Kopernikus“, sagt Franke. „Wir haben einen großchemischen, praxisnahen Verbund geschaffen und uns komplexe Katalysatorsysteme vorgeknöpft, mit denen wir die gesamte Wertschöpfungskette durchspielen.“ Als Industriepartner verfüge Evonik über die nötige Expertise, um einzuschätzen, ob sich die grüne Methoxycarbonylierung am Ende rechnet.
Evonik und Siemens Energy führen im Projekt deshalb auch eine Lebenszyklusanalyse von der Elektrolyse bis zum fertigen Ester durch. „Noch ist das Ergebnis offen“, sagt Franke. „Power2ValueChemicals“ trage jedoch wesentlich dazu bei herauszufinden, wie sich der Abschied der Chemie von fossilen Rohstoffen bewerkstelligen lässt.