Die Aufgabe, die vor ihnen lag, war kniffliger als erwartet. Sabine Kanbach und ihr Team suchten nach einem Herstellungsverfahren für ein neues Lipid. Mit diesem chemischen Baustein lassen sich Lipidnanopartikel erzeugen, die eine schützende Hülle um Wirkstoffmoleküle bilden, etwa in Impfstoffen. Stabil soll dieser Schutz sein, ein hoher Reinheitsgrad ist Pflicht, dazu müssen sich die Lipide gut verarbeiten lassen. Das Ziel des Expertenteams war klar, doch der Weg lag verborgen im Nebel unbekannter Faktoren.
„Wir hatten sehr viele verschiedene Parameter“, erinnert sich die Chemikerin, die in der Abteilung Forschung und Entwicklung der Health-Care-Sparte von Evonik in Hanau arbeitet. Die Ausgangsstoffe ließen sich noch ohne Computerhilfe eingrenzen – doch danach wurde es schwierig. Welches Lösungsmittel sollten sie wählen und welche Temperatur? Wie ließ sich die gewünschte Reaktion in Gang setzen, und wie lange sollte sie laufen?
»Es wäre für uns überhaupt nicht möglich gewesen, selbst zu berechnen, was man alles variieren muss.«
Sabine Kanbach Chemikerin in der Forschung und Entwicklung bei Evonik Health Care
Üblicherweise hätte sich Kanbach mithilfe von Erfahrungswerten und Experimenten an das Ergebnis herangetastet – ein langwieriges und auch kostenintensives Vorgehen. Doch diesmal wandte sich die 33-Jährige an AIChemBuddy, ein Expertensystem, das künstliche Intelligenz mit Fachwissen kombiniert. Evonik hat es für genau solche Fälle entwickelt, in denen die schiere Fülle möglicher Kombinationen das menschliche Vorstellungsvermögen an seine Grenzen bringt. Gefüttert mit allen wichtigen Daten und ersten Testergebnissen aus dem Projekt, grenzte die Software die Liste mit Reagenzien ein, half bei der Optimierung der Synthese und fand einen Weg, den Reinheitsgrad zu verdoppeln. „Es wäre für uns überhaupt nicht möglich gewesen, selbst zu berechnen, was man alles variieren muss“, erzählt Kanbach. Mit Computerhilfe war ihr Team schließlich dabei, „auf Nachkommastellen die Parameter anzupassen“, und gelangte wenige Wochen nach dem Start bereits ans Ziel: „Wir sind am ,Sweet Spot‘.“
Die Unterstützung durch AIChemBuddy hat die Entwicklungsphase extrem schnell vorangebracht. Das Expertenteam bekam dadurch Spielraum, sich frühzeitig auf weitere Parameter zu fokussieren, die zum Beispiel in der Verfahrensentwicklung wichtig werden.
Inspiration und Unterstützung
AIChemBuddy ist ein Paradebeispiel dafür, wie KI hilft, komplexe Prozesse effizienter zu gestalten und neue Produkte schneller zu entwickeln. Jedes dritte Unternehmen der chemischen und pharmazeutischen Industrie in Deutschland nutzt bereits die smarten Algorithmen für diese Zwecke, wie eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt. Am innovativsten sind dabei aus Sicht der Autoren Firmen, die die KI nicht von der Stange kaufen, sondern in eigene Systeme investieren, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.
Evonik besitzt mehrere KI-Tools, darunter den firmeninternen Chatbot EvonikGPT, der Texte generieren und Dateien verarbeiten kann. AIChemBuddy wendet sich an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Forschung. „Der klassische Nutzer, den wir immer im Kopf haben, kommt im Labor an irgendeinem Punkt nicht weiter“, sagt Thomas Asche. „AIChemBuddy ist da, um Inspiration zu geben oder ein Optimum zu berechnen.“
Als Materialforscher kennt der 37-Jährige die Herausforderung, mit einer Vielzahl offener Parameter zu jonglieren. Sein Interesse an Digitalthemen führte ihn 2021 in die Digitalisierungsabteilung von Research, Development & Innovation bei Evonik in Marl. RD&I lieferte zunächst Impulse und Ideen und verwirklichte AIChemBuddy dann zusammen mit der Verfahrenstechnik und der Evonik-IT.
Als Asche zu RD&I kam, liefen dort bereits erste Versuche, maschinelles Lernen zur Entwicklung neuer Materialien zu nutzen. Die Ergebnisse waren ermutigend, doch die Partner – externe Softwareunternehmen – verlangten eine Umsatzbeteiligung oder Zugriff auf sensible Daten. Für Evonik war das inakzeptabel. „Deswegen haben wir uns gefragt: Können wir das auch allein?“, erzählt Asche. „Seitdem arbeitet Johannes an diesen Themen.“
Periodensystem und Algorithmen
Johannes Dürholt sitzt neben Asche in einem Konferenzraum bei der Creavis in Marl. In der Welt von Evonik ist die Creavis strategische Innovationseinheit und Business Incubator. Dürholt, 34-jähriger Experte für theoretische Chemie, fühlt sich in der Welt der Algorithmen genauso wohl wie bei Ausflügen ins Periodensystem. Als Data Scientist bei der Verfahrenstechnik arbeitet er häufig mit Forscherinnen und Forschern im Labor zusammen. „Oft geht es um Versuchsplanung“, sagt Dürholt. „Und genau darum kümmert sich jetzt AIChemBuddy.“
Der Name deutet an, was das System leisten soll: als „Kumpel“ die Menschen im Chemielabor mit künstlicher Intelligenz unterstützen. „Es geht uns nicht darum, eine ,Hyperintelligenz‘ anzubieten“, erklärt Asche. Vielmehr wolle man den Forscherinnen und Forschern „einen virtuellen Kollegen an die Seite stellen, den man in kniffligen Situationen fragen kann: Was würdest du tun?“.
Eins betonen die Entwickler immer wieder: Alle Entscheidungen bleiben beim Menschen – und wer der KI hilfreiche Tipps entlocken will, muss sein Thema ziemlich gut kennen. Mit plauderfreudigen Chatbots hat das System nichts gemein. Bei aller Benutzerfreundlichkeit ist es doch ein Spezialist für Spezialisten: Wer sich einloggt, stößt auf eine intuitive Bedienoberfläche, die den Nutzer auffordert, ein Projekt anzulegen, Daten hochzuladen oder Ergebnisse von Berechnungen auszuwerten. Manches ähnelt dem Tabellenkalkulationsprogramm Excel, anderes dem Präsentationstool Powerpoint. Das System bietet eine Vielfalt an Möglichkeiten.
Tennisbälle aus Altreifen
Thomas Asche und Johannes Dürholt geben Interessenten eine persönliche Einführung. In diesem Onboarding erklären sie, was AIChemBuddy kann – und was nicht. Manche, erzählt Asche, hätten die Vorstellung, dass man in eine KI einfach alles hineinwerfen könne: ein paar Experimentaldaten hier, eine Handvoll Forschungsberichte da, gemischt mit einer vagen Vorstellung davon, was am Ende herauskommen soll. Doch das sei nicht die Rolle der künstlichen Intelligenz, betont der Digitalmanager. „AIChemBuddy ist keine Kristallkugel.“
Nutzen bringe der smarte Assistent vor allem dann, wenn bereits Ergebnisse aus Experimenten vorliegen, die sich deutlich verbessern lassen; oder wenn ein Screening zeigen soll, welche Variablen für ein Projekt überhaupt relevant sind. „Wir schlagen Experimente vor auf Basis des gewünschten Outputs“, sagt Asche. „Dieses Optimieren ist das Kernelement der Plattform.“
Wie aus nüchterner Analyse am Ende dennoch Magie entstehen kann, zeigt die Wiedergeburt von Autoreifen als Sportgerät. Vor zwei Jahren erfuhr Dürholt von Vestaro, einem Joint Venture zwischen Evonik und dem Münchner Entwicklungsunternehmen Forward Engineering: Die Partner hatten sich vorgenommen, auf Basis von Altreifen ein Ausgangsmaterial für die Herstellung von Tennisbällen zu entwickeln. Etwa 25 Millionen Tonnen Gummi fallen jährlich an, weil das Profil der Reifen abgenutzt ist – für eine mögliche Wiederverwertung ist die Quelle also da.
Eigentlich. Bloß stellte sich im Labor heraus, dass es sehr schwierig ist, die richtige Mischung aus Additiven von Evonik, Recyclingmaterial und Naturkautschuk zu finden, um den umweltfreundlichen Tennisbällen die gleichen Eigenschaften zu geben wie herkömmlich produzierten. „Und es gab großen Zeitdruck im Projekt“, erinnert sich Dürholt.
Die Chemiker und Produktentwickler zogen Dürholt und eine Kollegin als Experten der Verfahrenstechnik hinzu. Die beiden betrieben als Erstes das, was Fachleute „Datenhygiene“ nennen: Sie prüften, welche Werte für die KI nutzbar sind, entfernten Ausreißer und strichen wenig Erfolg versprechende Informationen. Denn je sauberer die Daten, desto verlässlichere Ergebnisse liefert die KI.
Nach wenigen Tagen dieser menschlichen Vorarbeit benötigte der Algorithmus hinter AIChemBuddy nur ein paar Minuten, um Vorschläge für mehrere Kompositionen aus Alt und Neu zu liefern. „Die Kautschukexperten waren sehr beeindruckt“, erzählt Dürholt. Seit Kurzem ist der Ball unter dem Namen „Code Planet“ im Handel. Mit ihm präsentiert Hersteller Balls Unlimited den ersten nachhaltigen Tennisball. Nach Auskunft des Unternehmens bestehen 40 Prozent seines Kerns aus recycelten Altreifen.
Schluss mit „Pi mal Daumen“
Der Erfolg zeigt eindrucksvoll, wie die hausintern entwickelte KI-Lösung Projekte an entscheidenden Stellen voranbringen kann. Und er bestärkt Experten in der Ansicht, dass Unternehmen, die gezielt künstliche Intelligenz einsetzen, einen klaren Wettbewerbsvorteil in solchen Bereichen haben, bei denen sonst persönliche Erfahrung und Intuition im Vordergrund stehen. In zu vielen Laboren werde noch „per Pi mal Daumen“ gearbeitet, kritisiert Jakob Zeitler, Pioneer Fellow am Statistics and Big Data Institute der Universität Oxford.
„Wenn wir ins Labor gehen und Experimente laufen lassen, ist das ein bisschen wie Kuchenbacken“, erklärt er. Auch da gibt es unterschiedliche Variablen, von den Zutaten über das Mischungsverhältnis bis zur Temperatur und der Zeit im Backofen, und jede Veränderung hat Einfluss darauf, ob der Kuchen schmeckt, der Teig aufgeht oder der Boden anbrennt. In der Küche mögen diese Variablen noch überschaubar sein, sagt Zeitler, aber in der Chemie gebe es viele „Wechselwirkungen zwischen komplizierten Faktoren, die für uns nicht direkt erkennbar sind“.
Die KI orientiert sich nur an Zahlen, Mustern und mathematischen Zusammenhängen – Parametern, die dem menschlichen Auge oft verborgen bleiben und deren Änderung zu verblüffenden Ergebnissen führen kann. Zeitler erinnert sich an Chemieexperimente, bei denen der Algorithmus wieder und wieder einen Säuregehalt vorschlug, der widersinnig schien. In der Praxis aber erwies sich die errechnete Rezeptur als überlegen. „Es hat auf einmal doch funktioniert, weil die Säure sehr kompliziert mit anderen Faktoren interagiert“, erklärt der Forscher. „Da das statistische Modell diesen hochdimensionalen Raum besser versteht als jeder Mensch, kann es Reaktionen vorhersagen, die unserer Intuition widersprechen.“
Die KI macht Vorschläge
Mathematisch beruhen solche Erfolge auf einer Methode, die sich bayessche Optimierung nennt. Sie nutzt eine begrenzte Zahl von Ausgangsdaten – etwa Ergebnisse aus Laborexperimenten – und berechnet auf Grundlage von Modellen, was passiert, wenn sich einzelne Parameter ändern. AIChemBuddy sucht anhand der vorliegenden Erfahrungen nach aussichtsreichen Wegen, um ein Resultat zu erreichen, das die Forscher vorgegeben haben. Die KI beendet ihren Job mit einem Vorschlag für ein vielversprechendes Experiment. Die Methode eignet sich somit besonders gut für das Erkunden eines vorgegebenen Suchraums, in dem die besten Bedingungen für das Zusammenspiel bestimmter Faktoren ermittelt werden sollen.
AIChemBuddy verlässt sich auf eine Softwarebibliothek für bayessche Optimierung namens BoFire. Johannes Dürholt trägt ein T-Shirt mit dem Logo der KI, das in Schwarz durch sein hellblaues Hemd schimmert. BoFire ist das Ergebnis einer Kooperation unter Konzernen, die auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen mag: Neben Evonik beteiligen sich unter anderem BASF, Boehringer-Ingelheim und neuerdings auch Bayer an der Weiterentwicklung des KI-Systems. „Alle haben an ähnlichen Problemen gearbeitet“, erklärt Dürholt, alle hatten Kosten für den gleichen Lösungsansatz. „Da haben wir gesagt: Warum bündeln wir nicht unsere Kräfte und machen es open source?“
Das war der nächste, aus Managementsicht ungewöhnliche Schritt: Der Quellcode für BoFire liegt offen im Internet. Hat da niemand Bedenken, dass Wettbewerbsvorteile und Firmengeheimnisse preisgegeben werden? Nein, antwortet Thomas Asche: „Die Intelligenz entsteht ja aus den Daten, mit denen wir die Modelle trainieren. Das heißt: Alles, was für uns einen Wert generiert, bleibt innerhalb von Evonik.“
Auch AIChemBuddy gehört als Anwendung allein Evonik. Vereinfacht gesagt, ist BoFire der Antrieb, den alle Beteiligten gemeinsam entwickeln – aber zu einem leistungsfähigen Motor wird er erst durch Finetuning in Kombination mit firmeninternen Daten. Jedes Unternehmen baut überdies das Chassis selbst: die App, die bestimmt, was Anwender mit der KI machen können.
Evonik hat in der Chemieindustrie für den Einsatz von BoFire eine Pionierrolle übernommen und dem Instrument den Weg in die Branche geebnet.Evonik hat in der Entwicklung von BoFire eine Pionierrolle übernommen und steuert auch einen Großteil der Codebasis bei. „Weitere Beteiligte sind gern gesehen, denn gemeinsam machen wir BoFire noch leistungsfähiger“, sagt Dürholt.
KI ersetzt nicht das menschliche Know-how
Seinen virtuellen Wohnsitz hat AIChemBuddy in einem Rechenzentrum in Frankfurt am Main, und wenn er in Aktion tritt, zeigt er sich genügsam: „Der Energieverbrauch entspricht dem von zwei bis drei Laptops“, sagt Asche.
Bei Evonik steht AIChemBuddy allen Mitarbeitern zur Verfügung. Dahinter steckt auch die Hoffnung, möglichst viele neue Fans für das KI-System zu finden. Denn je häufiger der digitale Helfer Projekte flottmacht, desto eher rechnet er sich für das Unternehmen. Das Gleiche gilt für die Beschleunigung der Entwicklungsarbeit, wie beim Projekt von Sabine Kanbach.
Die Hanauer Chemikerin sieht bereits die Möglichkeiten, Einsichten aus ihrem aktuellen Projekt für kommende Aufgaben zu nutzen. „Unsere Lipid-Synthese haben wir jetzt sehr weit optimiert“, berichtet sie. „Diese Erkenntnisse kann man gut auf andere Hilfsstoffe übertragen, die nach dem gleichen Schema funktionieren.“ Kanbach ist so begeistert von den Ergebnissen, dass sie weitere Kolleginnen und Kollegen für die KI gewinnen will. Bisher zögerten viele noch, berichtet sie. Bei manchen überwiege wohl die Gewohnheit, andere machten sich Sorgen, dass die KI ihren Arbeitsplatz gefährden könnte.
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Kanbach hält die Sorge für unbegründet: „Ich habe nicht das Gefühl, dass mich der AIChemBuddy ersetzt“, sagt sie. „Wir geben schließlich selbst die Experimente vor und setzen uns mit den Ergebnissen auseinander.“ In diesem engen Miteinander von Mensch und Maschine sehen auch die Entwickler den besonderen Wert ihres Systems. „Das Chemikerwissen ist superwichtig“, betont Johannes Dürholt. Je mehr Wissen der Mensch der KI zum Beispiel in Form von Grenzen für die einzelnen Parameter vorgebe, desto leichter falle es der Maschine, gute Lösungsansätze herauszufinden.
„Wer sein Wissen hineingibt, kommt schneller zum Ziel“, ergänzt Thomas Asche – und das spreche sich im Unternehmen herum. Bislang nutzen etwa 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus allen Geschäftsbereichen AIChemBuddy.
„Wir haben viele Anwendungsfälle aus der Forschung und der verfahrenstechnischen Entwicklung. Auch für Simulationen und die Optimierung von Prozessen wird er bereits genutzt.“ Aber es dürften gern noch mehr Nutzer sein. „Es geht hier nicht um ein Rennen ,KI gegen Chemiker‘“, betont Asche, „sondern um das Rennen ,Chemiker ohne KI‘ gegen ,Chemiker mit KI‘. Und dieses Rennen werden wir gewinnen.“