Jens Monsees hat sieben Jahre für Google gearbeitet, heute ist er Digitalchef von BMW. Welche Chancen birgt die Digitalisierung für die deutsche Industrie? Und wo stehen wir im internationalen Vergleich? Ein Gespräch über Kundenwünsche, Freude am Fahren und den Zahnbürstentest von Larry Page
Herr Monsees, Sie sind bei BMW verantwortlich für die Digitalisierung. Was bedeutet Digitalisierung für die Autoindustrie?
Im Moment wird Digitalisierung in Verbindung mit der Autoindustrie häufig unter negativen Vorzeichen diskutiert: Da geht es um Risiken für Arbeitsplätze und Beschäftigung und um die vermeintliche Gefahr, dass die deutschen Autobauer ihres Geschäfts beraubt würden. Das ist eine Sicht von außen, die wir nicht teilen. Wir sehen dagegen in der Digitalisierung unserer Industrie riesige Potenziale, riesige Chancen.
Welche?
Es geht darum, für unsere Kunden einen Mehrwert zu schaffen. Wir machen ja Digitalisierung nicht um der Digitalisierung willen. Wir suchen den Benefit, den Mehrwert für den Kunden. Wenn es gelingt, diesen zu liefern, dann eröffnet uns die Digitalisierung neue Geschäftsfelder.
Zum Beispiel?
In der klassischen Produktentwicklung geht das bisher so: Wir machen Forschung und Entwicklung, dann werden daraus neue Produkte. Dann folgen Marketing und Vertriebsmodelle, und schließlich soll der Kunde das Produkt kaufen. So lief das früher, alles sehr linear. Mit Data Analytics und dem Internet der Dinge haben wir jetzt die Möglichkeit, viel früher zu verstehen, was der Kunde wirklich braucht und will. Nicht wir versuchen zu fühlen, was für den Kunden sinnvoll sein könnte. Sondern datengestützte Analysen und künstliche Intelligenz bieten die Basis, seine Bedürfnisse besser zu verstehen. Aus diesen heraus können wir dann unsere Produkte und Services entwickeln, komplett vom Kunden her gedacht. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel, ganz andere Prozesse und eine andere Mentalität.
Die Weiterentwicklung der Autos scheint immer mehr von Software getrieben zu sein. Moderne Autos fahren und parken fast von allein, übermitteln pausenlos riesige Mengen an Daten und wirken fast schon wie Computer auf Rädern. Macht Ihnen das keine Angst?
Wir konzentrieren uns bei der Digitalisierung auf die Chancen, nicht auf Sorgen und Bedenken. Für uns ist dabei die Privatsphäre und Sicherheit unserer Kunden besonders wichtig. Warum also sollte mir diese Entwicklung Angst machen?
Nun, der Onlinehandel im Internet bedroht viele klassische Einzelhändler in ihrer Existenz. Ebenso ändern sich die Geschäftsmodelle der Banken und Versicherungen. Und für die Autoindustrie gibt es düstere Szenarien, wonach die Autobauer eines Tages zu bloßen Zulieferern der Softwarekonzerne degradiert würden.
Diese Befürchtung teile ich nicht, aber die Idee dahinter muss man schon ernst nehmen. Wenn ich heute ins Auto steige, nehme ich mein Spotify und alle meine digitalen Dienste mit. Die kommen dann von anderen Anbietern, nicht direkt von BMW. Wenn wir den Kunden in den Mittelpunkt stellen, muss das alles kompatibel sein und reibungslos funktionieren.
Und wenn nicht?
Wenn sich viele um einen Kunden streiten, dann kommt nachher vielleicht ein Dritter aus dem Silicon Valley oder aus China und sagt: Wenn ihr diese Lücken nicht schließt und eben kein wirklich kundenfreundliches Produkt anbietet, dann übernehmen wir eben euer Geschäft. Das ist ja schon passiert, in der Reiseindustrie und im Handel.
Wie wollen Sie das für die Autoindustrie verhindern?
Indem wir erstens unser gesamtes Geschäft vom Kunden her aufziehen. Und zweitens uns vom Gedanken verabschieden, dass man für jedes Bedürfnis die beste Kundenlösung im eigenen Haus entwickeln kann. Wir schließen Partnerschaften und backen gemeinsam für den Kunden einen schönen großen Kuchen, der dann mehreren Firmen gehört.
Sie teilen den Kunden, und Sie teilen das Geschäft? Können Sie denn damit noch wachsen?
Wir wachsen dann alle.
Oder führen diese Partnerschaften am Ende dazu, dass für Sie vom großen Autokuchen einfach weniger übrig bleibt?
Nein, mehr. Auf jeden Fall mehr. Der Kuchen wird ja immer größer.
Und die Verteilung? Wie entscheiden Sie künftig, was Sie selbst machen und wo Sie sich auf Partnerschaften einlassen müssen?
Die Schnittstelle zum Kunden müssen wir selbst mit innovativen und digitalen Diensten besetzen. Das müssen wir besser machen und tiefer integriert machen, als es vielleicht ein Google oder ein Apple kann. Das ist der Weg. Larry Page nannte das bei meinem früheren Arbeitgeber Google immer den Zahnbürstentest: Jeder Mensch braucht eine Zahnbürste und benutzt sie zweimal am Tag. Wenn ich ein Produkt oder einen Service erfinde, der ähnlich ein Bedürfnis befriedigen hilft, dann wird sich das monetarisieren lassen.
Und dazu sind wir imstande in Deutschland?
Wir? Auf jeden Fall! Deutschland ist ein Land der Ingenieure.
Aber die besten Softwareingenieure sitzen offenbar woanders.
Ich war sieben Jahre bei Google, die kochen da auch nur mit Wasser. Es gibt allerdings einen wesentlichen kulturellen Unterschied: Wenn ein Ingenieur in Deutschland bei der Lösung eines Problems 98 Prozent erreicht, dann redet er über die zwei Prozent, die noch fehlen. Wenn ein Amerikaner 60 Prozent erreicht, dann ist das schon awesome, great und wonderful.
Was lernen Sie daraus?
Ich glaube schon, dass wir damit viel selbstbewusster umgehen sollten und wirklich in Chancen denken. Ich weiß aus meiner Zeit in Amerika, dass sich Google und Amazon auch viele Dinge bei deutschen Industrieunternehmen abschauen: diese absolute Prozessorientierung und dieses fast Perfektionistische im Detail. Und Dinge, sehr komplexe Dinge, gut zu planen.
Zugleich machen sich Amerikaner gern ein bisschen lustig über das sogenannte Overengineering.
Wenn es sich wirklich um Overengineering handelt, dann ist es nicht gut. Aber schauen Sie sich mal ein Logistikzentrum von Amazon an, da geht es auch um Effizienz, um Präzision und darum, dass große Räderwerke präzise ineinandergreifen. Da lernt, glaube ich, die IT-Industrie viel von der deutschen Produktionsindustrie.
Ist das dann Industrie 4.0?
Genau. Und dies ist aus meiner Sicht eher ein europäisches oder deutsch geprägtes Thema. Auf der anderen Seite stehen natürlich die flexible Herangehensweise, das agile Arbeiten und die absolute Ausrichtung auf den Kundennutzen, etwa bei Apple. Alles gute Sachen, die werden jetzt sehr schnell von der Automobilindustrie aufgegriffen, um eigene Lücken zu schließen.
Wenn wir das alles können und wissen: Wieso kommen dann weltweit erfolgreiche Unternehmen wie Google, Amazon und Facebook alle aus den USA – und nicht aus Deutschland?
Mit der Frage habe ich mich länger beschäftigt. Ich glaube, es hat auch damit zu tun, dass die USA und auch China, wo diese großen Ecosystems entstanden sind und wo die sehr erfolgreichen Unternehmen groß geworden sind, einen riesigen Binnenmarkt haben. Dadurch können sie ohne große Kooperationen oder Adaptionen auf andere Kulturen und Sprachen erst einmal ihren Binnenmarkt erobern. Damit werden sie bereits sehr groß, bevor sie dann rausgehen in die Welt. Ein Beispiel dafür ist der Onlinehändler Alibaba aus China, der jetzt nach Europa und nach Amerika kommt.
Im Vergleich zu Amerika und China ist der deutsche Markt eher klein …
… deshalb können wir Dinge wie das autonome Fahren eben nicht monolithisch für uns allein entwickeln und einfach bauen. Warum können wir dann nicht mit anderen Herstellern zusammen eine Plattform bauen und das Thema gemeinsam entwickeln?
Auch über Deutschland hinaus?
Nehmen Sie mal das Beispiel Airbus, in Konkurrenz zu Boeing. Da haben die Europäer mal nicht über die einzelnen Tortenstücke des Kuchens geredet, sondern gemeinsam etwas Großes aufgebaut. Da hat man durch Kollaboration über Grenzen hinweg eine kritische Masse erreicht.
In der Autoindustrie geht es Ihnen jetzt darum, gemeinsam mit Mercedes und Audi auf die kritische Masse zu kommen.
… um genügend Daten einzufahren. Digitale Systeme sind immer kritische Masse: Je mehr Leute im System sind und meine Dienste nutzen, desto mehr kann ich individualisieren, desto mehr lerne ich über die Bedürfnisse dieser Leute. Das heißt dann auf Neudeutsch Ecosystem. Ich muss einen Gravitationskern kreieren, der vielleicht nicht mehr allein in meiner eigenen Industrie liegt. Das kann auch ein Neutraler in der Mitte sein, um den herum die Autoindustrie dann wächst.
Am Ende werden doch Ihre bisherigen Kernprodukte, die Fahrzeuge, austauschbar.
Die BMW Group gibt immer das Versprechen auf ein Premiumprodukt. Deshalb wird bei uns auch das Lenkrad an Bord bleiben und damit die Freude am Fahren. Zugleich wollen wir unseren Kunden über differenzierte Fahrstrategien die Option geben, während der Fahrt an einer Videokonferenz teilzunehmen, statt selbst zu fahren. Damit bietet die Digitalisierung auch dem Kunden unter dem Strich vor allem eines: viele neue Chancen.