Die Europäische Weltraumagentur ESA hat wie die Amerikaner und die Chinesen den Mond ins Visier genommen. Generaldirektor Jan Wörner über den Wettbewerb im All, umweltfreundliche Treibstoffe – und die Inspirationskraft der Raumfahrt
Millionen kennen den Hauptkontrollraum des Europäischen Raumflugkontrollzentrums ESOC in Darmstadt aus dem Fernsehen. Bei Missionen wie dem Start der Merkursonde „BepiColombo“ im vorigen Oktober verfolgen hier Techniker der Europäischen Weltraumagentur ESA auf Dutzenden Monitoren Flugbahnen und Systeme von Raketen und Modulen. An diesem Wintertag ist der Raum für das ELEMENTS-Interview mit Jan Wörner reserviert. Mit schnellen Schritten eilt der ESA-Generaldirektor herein und wirft den blauen Dienstparka über einen Tisch. Auf dem rechten Ärmel ist das Logo der „Horizons“-Mission befestigt, die mit der Landung des deutschen ISS-Astronauten Alexander Gerst im Dezember zu Ende ging. „Öffentlichkeitsarbeit muss sein“, sagt Wörner und lacht. Dann nimmt er auf einem der Stühle Platz, auf denen sonst seine Techniker sitzen.
Professor Wörner, die Chinesen haben gerade erfolgreich eine Sonde auf den Mond geschickt, die Amerikaner bereiten ebenfalls eine neue Mission dorthin vor. Wieso erlebt der Erdtrabant fast 50 Jahre nach der Landung von Apollo 11 ein Comeback?
JAN WÖRNER Es ist eigentlich kein „Back to the moon“, sondern ein „Forward to the moon“. Diesmal gibt es keinen Wettlauf zweier Supermächte, sondern wir werden alle zusammenarbeiten. Die Landung auf der Rückseite des Mondes ist ein großer Erfolg der chinesischen Raumfahrt. Ich würde mich freuen, wenn die internationale Zusammenarbeit im All künftig noch enger würde. Aus diesem Grund hat der Mond für mich einen hohen geopolitischen Wert.
Sie selbst haben vorgeschlagen, ein „Moon Village“ zu errichten. Was verbirgt sich hinter der Weltraumidylle?
Der Begriff stammt nicht von mir, aber ich habe ihn übernommen, weil mir die Analogie gefällt. Wenn Sie ein Dorf auf der Erde gründen, ist das kein Beschluss einer Regierung, sondern eine Sache vieler Leute mit ganz unterschiedlichen Interessen. Im Moon Village geht es ebenfalls darum, in einer gemeinsamen Basis verschiedene Interessen zusammenzuführen, zum Beispiel Robotik oder astronautische Projekte. Akteure sind nationale Raumfahrtagenturen, Forschungseinrichtungen oder Industrieunternehmen.
Warum richtet sich das Interesse derzeit so sehr auf den Mond?
Aus Vernunftgründen. Wer glaubt, in wenigen Jahren mit Astronauten zum Mars zu fliegen, dem kann ich ganz schnell erklären, warum das nicht geht: Wir haben auf dem Mars etwa 40 Prozent der Erdanziehungskraft und eine Atmosphäre. Sie müssen beim Starten wie beim Landen Dinge überwinden, die Sie auf dem Mond nicht haben. Sie brauchen also eine Rakete und Treibstoff. Wenn Sie mit Menschen so eine weite Strecke im All zurücklegen, müssen Sie zudem etwas für die Gesundheit tun. Zwei Jahre Reisezeit ohne jegliche Möglichkeit eines medizinischen Eingriffs kann ich mir nicht vorstellen. Hinzu kommt die dauerhaft hohe Strahlung
Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich von einer neuen Mondmission?
Über den Mond ist relativ wenig bekannt. Die Landungen in den Sechziger- und Siebzigerjahren erfolgten alle dicht am Äquator, und da ist es staubtrocken. Wenn Sie an die Pole gehen, finden Sie Wasser. Auf der Rückseite des Mondes könnte man Observatorien bauen, um von dort aus ins All zu schauen.
Erwarten Sie, auf Rohstoffvorkommen zu stoßen?
Es gibt Unternehmen, die sich versprechen, Rohstoffe vom Mond zur Erde zu bringen. Ich bin da skeptisch, weil ich glaube, dass unsere Raketen dafür einfach zu teuer sind. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Unternehmen Touristen auf den Mond bringen. Der Mensch hat es – zum Glück – in seinen Genen, dass er dorthin reisen möchte, wo er noch nicht war. Das ist übrigens auch ein Argument, warum ich auf astronautische Raumfahrt setze. Offensichtlich ist das persönliche Erleben für Menschen enorm wichtig.
Eine Kooperative auf dem Mond – das klingt verlockend. Aber müssen wir uns nicht sorgen, dass andere Teilnehmer das Wissen der Europäer absaugen?
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Alien und hätten die Fähigkeit, alles, was auf der Erde passiert, zu sehen, zu hören und zu verstehen. Wären Sie sich so sicher, sofort erkennen zu können, wer die Guten und wer die Bösen sind? Ich bezweifle das. Isolation hat in unserem Weltsystem außerdem niemals funktioniert und auch nicht geholfen. Erst Öffnung hat etwas gebracht. Die ESA kooperiert mit vielen Ländern weltweit – aber wir sind natürlich vorsichtig.
In den USA drängen mit Unternehmen wie Blue Origin, SpaceX oder Virgin Galactic immer mehr private Anbieter von Weltraumflügen auf den Markt. Verschläft Europa diesen Trend?
Es ist nicht so, dass wir da weit hinterherhinkten. Nehmen Sie OHB, den Entwickler der Galileo-Satelliten. Das war einmal ein ganz kleines Unternehmen: Otto Hydraulik Bremen. Irgendwann sind die in die Raumfahrt eingestiegen – und wollen jetzt sogar eine eigene kleine Rakete entwickeln. Die Firma Arianespace, die unsere Trägerraketen ins Weltall schießt, ist ebenfalls eine private Firma.
Und die gerät durch die neuen US-Konkurrenten mächtig unter Druck.
Ich will den Druck nicht leugnen. Bisher hat die Ariane 5 sehr erfolgreich gearbeitet – nicht weil sie besonders billig wäre, sondern wegen ihrer Zuverlässigkeit und weil wir in Französisch-Guayana einen günstig gelegenen Startplatz haben. Mit der Ariane 6, die im Juli 2020 zum ersten Mal starten soll, reduzieren wir die Kosten gegenüber der Ariane 5 um die Hälfte. Elon Musk hat mit SpaceX offensichtlich ein gutes Geschäftsmodell. Aber er arbeitet auch mit besonderen Randbedingungen, was die Bezahlung und die soziale Absicherung seiner Mitarbeiter angeht sowie die Verträge mit der NASA und anderen. Wir können in diesem Wettbewerb nicht ohne Weiteres mithalten …
… was nicht zuletzt an der Konstruktion der ESA mit ihren 22 Mitgliedern liegt. Wie wollen Sie diese überzeugen, mehr Geld für die Raumfahrt bereitzustellen?
Eine gründliche Untersuchung unserer Aktivitäten hat gezeigt, dass 1 €, der in die Raumfahrt investiert wird, 6 € zurückbringt. Einen weiteren Effekt halte ich allerdings für mindestens ebenso wichtig: Wir leiden unter der „europäischen Krankheit“, dem Zukunftspessimismus. Für die Perspektive eines Kontinents ist es nicht gut, wenn wir der nächsten Generation ständig erzählen, es gebe nur Probleme.
Deswegen fragen wir nach den Chancen.
Weltraum fasziniert. Wenn wir auf einem Kometen landen, sagen die Leute: „Boah!“ Und wenn Alexander Gerst ein halbes Jahr in der Internationalen Raumstation Versuche macht, sind sie ebenfalls begeistert. Das ist ein wichtiger positiver Gehirnvorgang. Manche Leute stellen fest, wie andere einen Traum Realität werden lassen. Und einige sagen: Das kann ich doch auch. Es ist gut zu erkennen, dass unser System uns die Möglichkeit gibt, Ideen umzusetzen. Diese Botschaft hoffe ich durch die Raumfahrt in die Gesellschaft hineinzubringen.
Die Mehrheit der Steuerzahler schaut vermutlich eher auf handfeste Ergebnisse. Was sagen Sie denen?
Raumfahrt ist Infrastruktur. Genaue Zeitmessung geschieht über Satelliten. Die moderne Wettervorhersage, Navigation, Telekommunikation – all das wäre ohne Raumfahrt undenkbar. Sämtliche Energienetze werden aus dem All koordiniert. Wir können mit der Raumfahrt zudem neue Materialien entwickeln wie Titan-Aluminit, eine Legierung, die sich für Turbinenschaufeln einsetzen lässt. Beim Legierungsverfahren müssen Sie die Viskosität prüfen. Auf der Erde fällt Ihnen entweder die Legierung auseinander, wenn Sie sie eine Weile auf derselben Temperatur halten, oder sie wird fest. Wir überlegen sogar, Medikamente in der Schwerelosigkeit des Alls zu produzieren.