Evonik setzt für den Bau der eigenen Anlagen neuerdings auch auf 3D-Druck. Aus Metallpulver entstehen dabei Reaktoren und Apparate, die ihr Vorbild in der Biologie finden. Das dient der Umwelt – und der Wirtschaftlichkeit.
Wenn man nicht aufpasst, übersieht man die Revolution nur allzu leicht. Hinter riesigen Fräsmaschinen, vorbei an Werkstattkabinen, aus denen Schweißlicht durch Gummivorhänge flackert, inmitten einer Flut an Sinneseindrücken aus Hammerschlägen und Metallgeruch, steht an einer Wand eine Glaskabine. Der Eintritt ist nur mit Mundschutz und durch eine Schleuse gestattet. Hinter den großen Fenstern fertigt ein Techniker in einem schrankgroßen 3D-Drucker Bauteile aus Metallpulver.
Die Methode, mit der Evonik auf dem Hanauer Werksgelände neue Reaktoren und Bauteile entwickelt und herstellt, eröffnet der chemischen Industrie völlig neue Möglichkeiten für deren Anlagen und Verfahren. Die Chancen liegen in einer verbesserten Leistungsfähigkeit der Anlagen, reduzierten Kosten und weniger Umweltbelastung.
Was Daniel Adam gerade an seinem Computer vor der Glaskabine für den Druck vorbereitet, gleicht eher einem anatomischen Modell als dem einer Maschine: ein Gebilde aus verschieden dicken Leitungen, die sich vereinen zu einer größeren Struktur, aus der dann wieder Verzweigungen heraussprießen – ähnlich dem menschlichen Venensystem. Schicht für Schicht prüft der Ingenieur das Konstrukt, plant Stützgeflechte ein, wo die feinen Leitungen im Metallpulverbad abknicken würden. Wer in dem Maschinenbauteil Vorbilder aus der Biologie erkennt, liegt nicht falsch: „Wir schauen uns tatsächlich an, wie die Natur Strukturen optimiert, zum Beispiel bei Kapillaren, Muskeln oder Wurzeln“, sagt Senada Schaack, im Bereich Verfahrenstechnik und Engineering von Evonik verantwortlich für 3D-Druck.
OPTIMALE FORM
Eigentlich hat sich Schaack nie besonders für Biologie interessiert. Schon in ihrer Heimatstadt Sarajevo hatte sie ein Maschinenbau-Studium aufgenommen. Wegen des Bosnien-Kriegs verschlug es sie nach Hannover, wo sie über die Simulation von Mehrphasenströmungen promovierte. Später fing sie bei Evonik an.
Ihre Begeisterung für die Möglichkeiten von Simulationen brachte sie schließlich dazu, dem Konzern die Gründung eines Kompetenzzentrums für 3D-Druck in der Fertigung von Apparaten für chemische Prozesse vorzuschlagen. „Wenn ich die Möglichkeiten des 3D-Drucks mit denen der Computersimulation verbinde, kann ich für Apparate eine optimale Form finden, die mit klassischen Methoden nicht umzusetzen wäre“, sagt Schaack. Seit 2018 forscht sie nun mit einem Dutzend Mitarbeitern im von ihr ersonnenen Kompetenzzentrum Simulation und Additive Manufacturing 3D – kurz SAM 3D – daran, wie Reaktoren und Bauteile für die Chemieanlagen des Evonik-Konzerns mithilfe des 3D-Drucks noch effizienter und sicherer werden können.
Drehen, Bohren, Fräsen, Schweißen: Mit solchen Techniken entstehen bisher Reaktoren, in denen die chemische Industrie produziert. Für deren Leistungsfähigkeit und Effizienz lassen sich Chemiker, Verfahrenstechniker und Maschinenbauer eine Menge einfallen. „Wenn ich mit Simulationen in Kombination mit 3D-Druck die Form von vornherein so maßschneidern kann, dass ich an jeder Stelle optimale Bedingungen habe, benötige ich noch viel weniger Energie, weniger oder gar kein Lösungsmittel und erziele noch bessere Ausbeuten“, erklärt die Ingenieurin. „Wir können so einen spürbaren Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leisten.“
EIN PROTOTYP IN ZWEI MONATEN
Mehr Nachhaltigkeit – das ist Schaacks Motivation, ihre zentrale Idee hinter dem Projekt. Doch es bietet auch großes wirtschaftliches Potenzial, denn mithilfe von 3D-Druck ist der Entwicklungsaufwand deutlich niedriger, als wenn konventionelle Methoden zum Einsatz kämen. „Eine neue Konstruktion haben wir in zwei Tagen gedruckt und können sie testen, verbessern und wieder testen“, sagt Schaack. Künftig will sie optimierte Prototypen innerhalb von zwei bis drei Monaten vorlegen. So lange braucht man manchmal mit den üblichen Methoden schon für den ersten experimentellen Aufbau.
Die Möglichkeiten, die der 3D-Druck für die Verfahrensentwicklung bietet, haben sich bei Evonik schnell herumgesprochen. Nicht nur in Hanau und Marl, wo das Team angesiedelt ist: Aus dem ganzen Konzern kommen Anfragen und Ideen, das Kompetenzteam konferiert regelmäßig mit anderen Standorten, sei es in Vancouver, Birmingham oder Singapur. Bei Workshops mit den Geschäftseinheiten von Evonik stellen Schaack und ihr Team ihre Arbeitsweise vor und entwickeln mit den Kolleginnen und Kollegen Lösungen für bislang ungelöste Probleme.
Die Gruppe rund um Schaack ist relativ jung, das Potenzial sehen ebenso die Älteren. Deren Reaktion kann man in einem Wort zusammenfassen: endlich! Endlich ist es möglich, Ideen umzusetzen, die teils seit Jahrzehnten im Raum stehen, aber technisch nicht realisierbar waren. „In den Workshops kommen wir auf Themen wie Mikroreaktoren, die um 2000 aufkamen und dann ad acta gelegt wurden“, sagt Johannes Ehrlich, der bei Evonik den Spezialanlagenbau leitet. „Jetzt sind sie wieder interessant.“.
Mit den filigranen Strukturen, die Schaacks Team berechnen und drucken kann, entstehen Lösungen für klassische Herausforderungen der Chemie. Zum Beispiel die enorme Abwärme, die bei vielen Reaktionen entsteht. „Bei solchen exothermen Verfahren können sich Hotspots bilden, die schädlich sind für das Produkt und auch für die Anlage“, sagt Andreas Gumprecht, der sich gerade mit seinen Kollegen durch ein Simulationsmodell klickt, das an der SAM 3D errechnet wurde. „Mithilfe dieser Methode können wir für solche anspruchsvollen Reaktionen Apparate mit Geometrien für einen verbesserten Wärmeaustausch entwickeln.“
WENIGER AUFWAND, MEHR KONTROLLE
Noch steht die neue Fertigungstechnologie am Anfang. „Sie ist kein Ersatz für den klassischen Anlagenbau, sondern eine Ergänzung“, sagt Johannes Ehrlich. Gedruckte Reaktoren brächten aber schon heute „mehr Laufruhe ins System“ durch weniger Einzelteile, weniger Wartungsaufwand – und mehr Kontrolle. „Üblicherweise hat ein Reaktor eine Temperatur- und eine Druckmessung“, sagt Ehrlich. „Jetzt planen wir 16 Sensoren ein und können viel mehr Daten erfassen.“ Bislang konnte man so viele Sensoren auf engem Raum nicht mittels herkömmlicher Fertigung realisieren. Durch den 3D-Druck ist es nun möglich, die Zugänge für Sensoren im Bauteil direkt mitzudrucken.
3D-Druck-Reaktoren bewähren sich bei Evonik bereits in ersten Produktionsanlagen. Die meisten Projekte seien jedoch noch im Labor- oder Pilotstadium, so Schaack. Der Hauptgrund: Aus Edelstahlpulver gedruckte Reaktoren sind ein Novum in der chemischen Industrie. Je nach Einsatzbereich müssen die Bauteile zertifiziert werden. „Da es hier noch keine Vorgaben gab und wir nicht warten wollten, sind wir mit dem TÜV selbst aktiv geworden und haben gemeinsam den Zertifizierungsprozess entwickelt“, sagt Ehrlich. Nach erfolgreicher TÜV-Zertifizierung darf Evonik nun als eines der ersten Unternehmen Metalldruckreaktoren mittels additiver Fertigungsverfahren herstellen.
Die Qualität der Prozesse und Produkte nutzen Schaack und ihr Team als Werbung in eigener Sache. Sie wollen in den kommenden drei Jahren nicht nur die Zeitspanne verkürzen von der ersten Idee bis zur Umsetzung in der Produktion. „Jetzt, da wir alle Grundlagen und die ganze Prozesskette aufgebaut haben, wollen wir unser Know-how auch dem gesamten Evonik-Konzern sowie dessen Kunden als Entwicklungsplattform anbieten“, sagt Schaack.
Die Revolution soll schließlich nicht nur in Hanau und Marl stattfinden.