Wie sollte Material beschaffen sein, das sich optimal wiederverwerten lässt? Was ist der wahre Wert von Plastikabfällen? Und wo sind Verbote nötig? Ein Streitgespräch über Wege hin zu einer nachhaltigeren Kunststoffwirtschaft.
Herr Sartorius, Ihr Verband feiert gerade „100 Jahre Kunststoff”. Schauen wir doch mal in die Zukunft:Braucht die Welt in 100 Jahren noch Plastik?
INGO SARTORIUS Kunststoff ist aus dem Leben nicht mehr wegzudenken. Der Werkstoff ist vielseitig und leistungsfähig – übrigens auch für die Ökologie:Leichtbau im Automobil sorgt für weniger Emissionen und schont damit das Klima. Das gilt ebenso für die Isolierung am Bau. In der Medizin und der Verpackung sind Kunststoffe hocheffizient, bieten Sicherheit und Hygieneschutz.
BERNHARD BAUSKE Kunststoffe haben seit den Fünfzigerjahren einen beispiellosen Siegeszug angetreten. Die Menge an Kunststoff, die wir jedes Jahr produzieren, entspricht ungefähr dem Gewicht der gesamten Menschheit. Der Grund ist, da will ich Herrn Sartorius recht geben, dass das Material in der Tat vielseitig und leistungsfähig ist. Der entscheidende Nachteil ist bloß: Kunststoffe sind nicht biologisch abbaubar. Selbst in Deutschland, wo die Abfallwirtschaft einigermaßen funktioniert, landen jährlich fast 450.000 Tonnen Kunststoff in der Umwelt – davon drei Viertel in Form von Mikroplastik.
Was bedeutet das?
BAUSKE Wo Plastik in die Umwelt gelangt, reichert es sich an. So steigt die Belastung in der Natur stetig. Wir stoßen sogar in der Arktis und in der Tiefsee auf Kunststoffteilchen und alte Verpackungen. Da können Sie so viele Naturschutzgebiete einrichten, wie Sie wollen – Plastik findet immer einen Weg und schädigt die Ökosysteme mit den darin lebenden Tieren.
SARTORIUS Dass Kunststoffe als Abfälle in die Umwelt und in die Meere gelangen, ist nicht hinnehmbar. Da brauchen wir in der Tat Lösungen. Und unsere Industrie wirkt daran mit.
BAUSKE Der erste Schritt sollte doch wohl die Vermeidung sein! Und zwar da, wo große Mengen anfallen, die schnell zu Müll werden: bei den Einwegprodukten. Bei einer Einwegtüte spielt es keine Rolle, ob sie aus Kunststoff oder aus Papier besteht. Die Ökobilanz einer Papiertüte kann sogar schlechter ausfallen. Daher lautet eine unserer Forderungen: Einwegtüten müssen komplett vermieden werden.
Theoretisch könnten wir Kunststoff doch immer wieder verwenden.
BAUSKE Theoretisch ja. Aber ich bin skeptisch, ob wir mit Kunststoffen, wie wir sie heute herstellen und verwenden, jemals zu einer echten Kreislaufwirtschaft kommen.
Warum?
BAUSKE Kunststoff ist leistungsfähig, aber auch sehr komplex. Einige Kunststoffprodukte haben 40 bis 200 verschiedene Zusatzstoffe. Dieses Material zu recyceln ist aufgrund der unterschiedlichen Materialeigenschaften nicht einfach. Hier muss eine Harmonisierung her.
Wenn Forscher neue Materialien entwickeln, um ganz spezielle Anforderungen zu lösen, arbeiten sie oft mit Kunststoffen – für Verpackungen ebenso wie für Knochenimplantate. Laufen wir Gefahr, diese Möglichkeiten künftig einschränken zu müssen?
SARTORIUS Absolut! Kunststoffe werden ja nicht entwickelt und hergestellt, damit sie irgendwann mal Abfall werden, sondern wegen des Nutzens, den sie in ihren jeweiligen Anwendungen bringen. Die Gesellschaft für Verpackungsmarktforschung in Wiesbaden hat herausgefunden, dass in Deutschland allein durch Innovationen während der vergangenen 20 Jahre in der Industrie pro Jahr etwa eine Million Tonnen Verpackungswerkstoff eingespart wurden. Ein gutes Viertel des Materials wird also vermieden, wenn man so will, bevor das Produkt überhaupt auf den Markt kommt. Eine Schwierigkeit liegt aber in der Tat darin, dass diese optimierten Verpackungen komplexer sind. So gibt es etwa spezialisierte Mehrschichtverbunde, bei denen ein werkstoffliches Recycling schwierig wird.
BAUSKE Das ist ein wichtiger Zielkonflikt: Eine sehr dünne Verpackung erfordert weniger fossile Ressourcen. Weil sich die Schichten aber weder trennen noch sinnvoll zusammen verwerten lassen, landet die Verpackung am Ende in der Verbrennung. Setzt sich die Entwicklung wie bisher fort, gehen künftig 10 bis 13 Prozent des CO₂Budgets, das wir zur Erreichung des 1,5- Grad-Klimaziels nutzen dürfen, nur für Herstellung und Verbrennung von Kunststoffen drauf.
Bringen uns neue Biokunststoffe einer Lösung näher?
BAUSKE Leider nein. Schon die Produktion biobasierter Rohstoffe für Plastik kann problematisch sein. Ich denke da an den Einsatz von Pestiziden, soziale Probleme in den Ländern, in denen die Pflanzen hierfür angebaut werden, und an die Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion. Darüber hinaus sind biobasierte Kunststoffe nicht per se biologisch abbaubar. Am wichtigsten ist es, Kunststoffe möglichst lange im Umlauf zu halten.
Und was ist mit biologisch abbaubaren Kunststoffen?
BAUSKE Selbst die bergen Probleme. In kaltem Salzwasser zersetzen sie sich beispielsweise längst nicht so schnell wie im warmen Komposthaufen. In industriellen Kompostwerken sind sie zudem nicht willkommen, weil die dortigen Rottezeiten viel zu kurz sind. Deutsche Kompostierer sortieren heute meist jeglichen Kunststoff aus, weil sie nicht erkennen können, ob er sich zersetzt oder nicht. Eine biologisch abbaubare Plastiktüte wird also herausgefischt und verbrannt. Zudem fühlen sich Verbraucher animiert, Verpackungen aus Biokunststoff einfach in die Landschaft zu werfen. Biologisch abbaubare Kunststoffe sollten nur da eingesetzt werden, wo sie schwer rückholbar sind, zum Beispiel in der Land und Forstwirtschaft.
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SARTORIUS Natürlich sollte der Verbraucher in keinem Fall zum „Littering“ verleitet werden. Allerdings können wir das Abfallsystem in Deutschland nicht mit dem anderer Länder vergleichen. Wir haben in Europa ganz unterschiedliche Vorgehensweisen. In Italien etwa ist der Umgang mit zertifizierten kompostierbaren Kunststoffen von der Herstellung über die Handhabung bis zur Kompostierungs oder Vergärungsanlage etabliert.
Wichtig ist, dass Sammel und Sortiersysteme auf diese Materialien eingestellt werden und andere etablierte Verwertungswege nicht stören.
Wie sieht er denn dann aus, der Weg zur Kreislaufwirtschaft?
BAUSKE Der erste Ansatz wäre – und dafür tritt der WWF auch ein – ein internationales Abkommen, das die Staaten dazu verpflichtet, keinen Plastikmüll mehr in die Meere gelangen zu lassen. Eigentlich eine relativ einfache, überschaubare Forderung. Doch das setzt voraus, dass Länder ihr Abfallmanagement in den Griff bekommen. Dazu benötigen sie Unterstützung und Know-how-Transfer. Ein zweiter Punkt: Wir brauchen dringend eine erweiterte Produzentenverantwortung, für die auf nationaler Ebene ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden muss. Und drittens: In Südostasien haben das Beratungsunternehmen McKinsey und die Umweltschutzgruppe Ocean Conservancy vor ein paar Jahren ermittelt, dass etwa 80 Prozent des Kunststoffs in Verpackungsabfällen für Müllsammler nur einen geringen Wert haben. Er wird deshalb meist auf wilden Müllkippen entsorgt und gelangt von dort aus in die Umwelt.
Wir müssen also dafür sorgen, dass Folien und andere Materialien werthaltig genug sind, damit sie eingesammelt werden und wieder zu gleichartigen Produkten verarbeitet werden können.
Was können die Erzeuger tun, um dieses Ziel zu erreichen?
SARTORIUS Produktdesign ist einer der zentralen Schlüssel, um hier besser zu werden. Nehmen Sie etwa sogenannte Pouch-Beutel, die man als Nachfüllpack für Flüssigseife oder Hundefutter kennt. Die müssen im Supermarkt extrem hohe Anforderungen erfüllen. Da darf selbst bei einem Sturz aus großer Höhe nichts platzen, nichts auslaufen.
Hier wären vernünftige Kompromisse möglich, um einfachere, umweltfreund lichere Lösungen zu finden. Statt zwei Jahre muss so eine Verpackung vielleicht auch nur ein halbes Jahr halten. Dann brauchte man nicht mehr neun Folien schichten, sondern nur noch fünf. Entscheidend ist dabei, dass wir diese verschiedenen Schichten miteinander wertstoffkompatibel verbinden, sodass nach der Nutzung alles zusammen recycelt werden kann.
Kriegen Sie das hin?
SARTORIUS Mit unserem Knowhow ist das durchaus machbar. Ganz wesentlich ist, dass Werkstoff konstrukteure und Designer zusammenarbeiten. Daher beteiligen wir uns unter anderem am Runden Tisch Ökodesign, der bereits Leitlinien entwickelt hat. So ein Produkt muss dann aber auch bezahlt werden.
Wie kann chemisches Recycling dabei helfen, die Kompatibilitätsprobleme zu lösen?
SARTORIUS Wir wollen die Materialeigenschaften des Kunststoffs möglichst erhalten. Deswegen sind mechanische Recyclingverfahren erst einmal vorzu ziehen – egal ob ich den Kunststoff aufschmelze und granuliere oder ob ich in neuen Verfahren die langkettigen Polymere in Lösung bringe, Verunreinigungen herausfiltere und die Polymere dann wieder ausfälle.Die polymere Kette wird dabei kaum verändert. Davon unterscheiden sich chemische Verfahren, bei denen polymere Ketten aufgespalten werden, um dann aus kleinen Bausteinen neue Kunststoffe herzustellen.
Und das wäre keine Alternative?
SARTORIUS O doch, da gibt es durchaus Potenzial. Die Forschung läuft, und die Kunststofferzeuger arbeiten gemeinsam mit der Chemie, Nutzern und Recyclern in verschiedenen Projekten mit der Wissenschaft. Aktuell befassen wir uns vor allem mit Technologien wie Solvolyse, Depolymerisation und Pyrolyse.
BAUSKE Wir sehen diese Methode eher skeptisch.Chemisches Recycling wird immer wieder als die Lösung für unsere Müllprobleme vorgeschlagen, dabei ist das eigentlich nichts Neues. Prozesse wie die Pyrolyse sind sehr komplex. Man muss so eine Anlage sehr genau steuern, vor allem den Input. Einfach Müll zusammensammeln und hineinkippen funktioniert nicht. Wenn ich also aufwendig sortieren muss, kann ich auch gleich mechanisch recyceln. Ich gebe aber gern zu: Das Versprechen, aus „sauberen“ Molekülen wieder neuen Werkstoff herzustellen, klingt sehr attraktiv.
Aber?
BAUSKE Aber die Fragen bleiben: Ist das auch in großem Maßstab technisch realisierbar? Sind die Kosten wettbewerbsfähig? Was passiert mit den Abfällen, die bei der Produktion anfallen? Und letztlich müssen wir auch die Energiebilanz und andere Umweltparameter kritisch betrachten.
SARTORIUS Natürlich sind noch viele Fragen offen. Aber wir dürfen nicht alle chemischen Recyclingverfahren in einen Topf werfen. Je nach Verfahren können die Ökobilanzen sehr unterschiedlich ausfallen. Wir nehmen uns insbesondere Restabfallfraktionen vor, die in Haushalten, im Handel oder im Gewerbe anfallen. Dann finden wir Wege, um Werthaltiges herauszuholen, das bislang nur energetisch verwertet werden kann. Dafür laufen intensive Forschungsarbeiten, zum Beispiel beim Karlsruher Institut für Technologie, an denen wir uns in einem großen Konsortium beteiligen.
BAUSKE Forschung ist gut, ich sperre mich nicht dagegen. Die wird uns aber in den nächsten zehn Jahren nicht retten. Wir werden nicht umhinkommen, Abfall zu vermeiden, Werkstoffe zu ersetzen und mit allen Mitteln das mechanische Recycling auszuweiten – vor allem, indem wir die Sammel und Sortiersysteme verbessern.
Wenn Sie die Gesetze selbst schreiben könnten, wie ließen sich die Probleme lösen?
BAUSKE In Ländern, in denen die Abfallwirtschaft schwach entwickelt ist, brauchen wir einen gesetzlichen Rahmen für eine erweiterte Produzentenverantwortung – so wie wir sie in Deutschland kennen: Wer Produkte und Verpackungen in Verkehr bringt, ist auch dafür verantwortlich, diese am Lebensende wieder einzusammeln, zu sortieren und zu recyceln. Der WWF unterstützt schwerpunktmäßig in Südostasien Regierungen dabei, das nötige Knowhow und die erforderlichen Systeme aufzubauen. Eine Lizenzabgabe für Verpackungen könnte die derzeit unterfinanzierte Abfallwirtschaft unterstützen und zudem die nötige Lenkungswirkung erzielen. Ebenso sollten wir uns anschauen, ob es sinnvoll ist, Kunststoffe aus Erdöl zu besteuern – so wie andere Mineralölprodukte auch.
Zusätzliche Steuern? Warum das?
BAUSKE Frische Materialien stehen in direkter Konkurrenz zu Recyclingmaterialien, die dadurch attraktiver würden. Das ist gerade in Ländern mit einem großen informellen Sektor im Abfallmanagement wichtig. In Indonesien und Vietnam etwa leben viele Menschen davon, werthaltiges Plastikmaterial zu sammeln und dann zum Recycling zu geben. Wenn sich das nicht mehr lohnt, hören sie auf damit. Dann bricht mit dem Markt plötzlich auch die Abfallsammlung zusammen – und wir finden dieses Material eben in der Umwelt wieder.
Wir sollten also ölbasierte Produkte besteuern, um frisches Plastik zu verteuern?
SARTORIUS Das halte ich für problematisch. Wir würden damit auch Kunststoffe teurer machen, die etwa als Leichtbauteil das Klima schützen oder sich wunderbar recyceln lassen. Wir kennen die Diskussion um Papiertüten und Plastiktüten – bei der die Plastiktüte in Sachen Kreislaufwirtschaft viel besser dasteht. Ebenso wie die PETFlasche, die aus einem einzigen Kunststoff besteht und für die längst ein etablierter Werkstoffkreislauf existiert. Wichtig ist, die bestehende Kreislaufwirtschaft weiter auszubauen und neue Recyclinglösungen technologieoffen zu entwickeln. Dabei sollten auch weitere Möglichkeiten in anderen Anwendungsbereichen zusätzlich zum Verpackungssektor ausgebaut werden. So kommen wir eher zu einer echten Kreislaufwirtschaft. Gerade Kunststoff hat das Zeug dazu.