Wie lassen sich chemische Reaktionen so nachhaltig und effizient wie möglich durchführen? Daran forscht ein Evonik-Team gemeinsam mit externen Partnern. Und macht sich dabei die Möglichkeiten des 3D-Drucks zunutze
Geht es nach Dr. Senada Schaack, ist der chemische Reaktor der Zukunft klein, maßgefertigt und selbst gemacht. „Er ist disruptiv anders“, sagt die Verfahrenstechnik-Ingenieurin, die für Evonik in Hanau an einer neuen Generation von Minireaktoren forscht. Der metallene Apparat ist klein wie ein Schuhkarton, verspricht aber große Fortschritte. Von außen sieht man ihm seine Fähigkeiten nicht an. Sein Innenleben ist jedoch darauf ausgerichtet, dass eine chemische Synthese möglichst wenig Energie benötigt und geringere CO2-Emissionen verursacht. Einige Reaktoren enthalten hauchdünne Röhrchen, durch die im Betrieb die Reaktionsmischung oder ein Kühlmedium gepumpt werden kann. Andere bestehen im Innern aus feinen Verästelungen, mit deren Hilfe man Ströme von einem auf mehrere Röhrchen aufteilt.
„Wenn wir das gut machen, erzielen wir eine hohe Reinheit des gewünschten Produkts und sparen Energie, die bisher für Kühlung oder aufwendige Stofftrennungen, etwa per Destillation, aufgewendet werden muss“, erklärt Schaack, die das Kompetenzzentrum „Simulation and Additive Manufacturing“, kurz SAM 3D, leitet. Gemeinsam mit ihren Mitarbeitern entwickelt sie Konzepte für das Design von Reaktoren – und stellt diese dann mittels 3D-Druck aus Edelstahlpulver her. Die Reaktoren könnten in vielen Anwendungen zum Einsatz kommen, zum Beispiel bei der Herstellung von Methanol für die Speicherung von Solar- oder Windenergie. Gerade arbeitet das Team an einem neuartigen Reaktor für einen Syntheseschritt, der häufig bei der Herstellung pharmazeutischer Wirkstoffe eine Rolle spielt, die sogenannte Ortholithiierung. „Wir haben den Apparat so designt, dass er das Produkt nicht nur in höherer Reinheit liefert, sondern dass die Reaktion auch mit weniger Kühlaufwand auskommt als der herkömmliche Prozess“, sagt Schaack.
Diese Entwicklung ist Teil des vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderten Projekts „3D-Process“ (siehe unten). Darin wird an disruptiven Reaktorkonzepten gearbeitet, wobei die Apparate digital geplant, in 3D-Druckern hergestellt und mithilfe von Prozessdaten aus der Praxis sowie künstlicher Intelligenz optimiert werden. „Wir denken die Prozesse in der Verfahrenstechnik völlig neu“, sagt Schaack. Gemeinsam mit den Projektpartnern hat sie sich zum Ziel gesetzt, die chemische Produktion nachhaltiger zu machen. Das Potenzial dafür erscheint gewaltig. Im Vor-Corona-Jahr 2019 verbrauchte die Chemiebranche allein in Deutschland 200 Terawattstunden Energie in Form von Erdgas, Mineralölprodukten, Kohle und Strom – acht Prozent des gesamten Bedarfs.
KÜHL STATT EISKALT
Die Ortholithiierung, für die das 3D-Process-Team in Hanau einen Reaktor entwickelt, ist ein typischer Fall, dass sich mithilfe eines besseren Designs eine Menge Energie einsparen lässt. Bei diesem Syntheseschritt wird vorübergehend ein Lithium-Atom in ein organisches Molekül eingebracht. Das setzt so viel Wärme frei, dass der Reaktionskessel auf mindestens minus 50 Grad Celsius heruntergekühlt werden muss. Dafür verwendet man flüssigen Stickstoff, dessen Herstellung viel Energie verbraucht. Beim neuen Ansatz mit dem kleinen Metallblock könnte eine Kühltemperatur von minus 20 Grad Celsius ausreichen. Die Kühlung ließe sich mit einer elektrisch temperierten Flüssigkeit durchführen, was den Energieverbrauch gegenüber der Stickstoffvariante um 80 Prozent senken würde.
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Ermöglicht wird die enorme Ersparnis durch die neuartige Konstruktion des Reaktors. Er unterscheidet sich deutlich vom herkömmlichen in der Chemiebranche üblichen Kesselreaktor. Bei diesem wird die Reaktionswärme durch Kühlschlangen im Innern oder in der doppelwandigen Außenwand abgeführt. Weil die Kühlfläche im Verhältnis zum Reaktorvolumen relativ klein ist, muss das Kühlmedium sehr kalt sein. Der neue Reaktor ist ein deutlich kleinerer sogenannter Durchflussreaktor. In ihm wird das Reaktionsgemisch im einfachsten Fall durch ein linear verlaufendes Reaktionsröhrchen geleitet, in dessen Ummantelung sich das Kühlmedium befindet. Das Verhältnis von Kühlfläche und Reaktorvolumen ist deutlich größer – das Medium muss nicht so kalt sein. Und noch effektiver wird die Wärmeabfuhr, wenn man das Reaktionsgemisch nicht nur durch ein Röhrchen leitet, sondern es auf mehrere Kanäle verteilt.
KOMPLEXE STRUKTUREN IM VORTEIL
Genauso haben die Evonik-Experten ihre Konstruktion des Mikroreaktors designt. „Im ersten Prototyp verteilen wir den Fluss des Reaktionsgemischs auf insgesamt 256 Röhrchen“, erklärt Dr. Hendrik Rehage, Verfahrenstechniker in Senada Schaacks Team. Die Vorteile liegen auf der Hand: Mehr Röhrchen erhöhen die Durchflussrate – und das bei zugleich effizienterer Kühlung, denn jedes der Röhrchen ist von eigenen Kühlkanälen umgeben. Die Versuche sollen zeigen, ob die am Computer kalkulierte Kühltemperatur von minus 20 Grad Celsius tatsächlich ausreicht.
Die 256 Reaktionskanäle sind mit einem Durchmesser von jeweils 0,8 Millimetern ausgelegt. Mit herkömmlichen Verfahren der Metallverarbeitung wäre das ein immenser Aufwand oder gar nicht erst zu realisieren. Anders beim 3D-Drucker. „Da ist es völlig egal, ob wir einen Reaktor mit einem oder mit 256 Kanälen herstellen“, erklärt Rehage, warum die additive Fertigung auch sehr komplexe Reaktorgeometrien zugänglich macht. Der entscheidende Vorteil des 3D-Drucks gegenüber der klassischen Fertigung von Mikroreaktoren liegt in der Formfreiheit. Zum Glück funktioniert diese längst auch mit Metallen wie Aluminium, Titan oder Edelstahl. Dabei wird das Metall in fein pulverisierter Form zugeführt, von einem Laserstrahl geschmolzen und dann Schicht für Schicht auf dem herzustellenden Werkstück abgeschieden.
„Die Maße und auch der strukturelle Aufbau des Versuchsreaktors sind das Ergebnis der Simulationen, die wir vorgeschaltet haben“, sagt Rehage. Die Experten spielten durch, wie sich unterschiedliche Geometrien und Prozessparameter darauf auswirken, wo im Reaktor es wie heiß wird und wie schnell die Wärme abgeführt wird. Viele der mathematischen Beschreibungen geben die Wirklichkeit allerdings nur näherungsweise wieder. Daher bleibt das spätere Experiment wichtig.
SELBSTOPTIMIERENDES SYSTEM
So wie beim ersten Prototyp für die Ortholithiierung. Die Möglichkeiten des 3D-Drucks will das Team nutzen, um in die Bauteile gleich Anschlüsse zu integrieren, in die Sensoren eingebaut werden sollen. Diese erfassen während des Betriebs Temperatur, Druck, Flussraten und Stoffkonzentrationen. „Mit diesen Daten erkennt das System, ob es irgendwo im Reaktor zu heiß wird oder ob unerwünschte Nebenprodukte entstehen“, erklärt Rehage. Beides wollen die Ingenieure unbedingt vermeiden, denn es schmälert Ausbeute und Produktreinheit. Muss das Produkt mühsam von anderen Molekülen getrennt werden, erhöht dies zudem den Energieaufwand.
Um die Parameter zu ermitteln, bei denen Ausbeute und Reinheit möglichst hoch und der energetische Kühlaufwand möglichst gering sind, setzt das 3D-Process-Team Verfahren der künstlichen Intelligenz ein. „Auf Basis der Sensordaten ist das System in der Lage, die Prozesssteuerung zu justieren und sich so schrittweise und selbstlernend den optimalen Bedingungen anzunähern“, erklärt Schaack. Lässt sich dieses Optimum mit dem vorhandenen Reaktor nicht erreichen, liefern die Daten Hinweise, wie das Design geändert werden müsste, so die Verfahrenstechnikerin. Von solchen Visionen ist auch Dr. Stefan Randl begeistert. Als Forschungsleiter im Geschäftsgebiet Health Care verfolgt er die Versuche mit dem Testreaktor mit großer Spannung. Die Ortholithiierung sieht er als „modellhaftes Beispiel für viele weitere Synthesen im Pharma-Umfeld, die bisher mit viel Energieaufwand gekühlt oder erwärmt werden müssen“.
Evonik produziert für externe Auftraggeber pharmazeutische Wirkstoffe und deren Vorstufen. Immer wieder kommt es dabei vor, dass Randls Team den Syntheseprozess erst noch entwickeln muss. Wo immer möglich, versucht man dabei, einen kontinuierlichen Prozess in einem kleinen Durchflussreaktor zu realisieren: „In der Branche gibt es derzeit einen Trend weg von der klassischen Chargenproduktion in großen Rührkesseln“, berichtet Randl.
Bei kontinuierlichen Prozessen in Mikroreaktoren lassen sich Temperatur, Druck und Sicherheit viel besser kontrollieren. Die miniaturisierten Prozesse kommen überdies mit weniger Lösungsmittel aus, weil höher konzentrierte Flüssigkeiten eingespeist werden. Außerdem kann man den für die Reaktion benötigten Katalysator viel feiner pulverisiert einsetzen, was wiederum zu einer besseren Produktausbeute führt.
„Für uns ist es immer wichtig, neue Prozesse möglichst schnell und zuverlässig zu entwickeln“, sagt Randl, „und zwar so, dass sie wirtschaftlich sind und den Kunden in der Pharmaindustrie Produkte in höchster und gleichbleibender Qualität bieten.“ Dass man Reaktorkonzepte im Vorfeld theoretisch durchspielen kann und am Ende denjenigen Reaktor druckt, der sich für eine Anwendung am besten eignet, ist da eine große Hilfe.
METHANOL AUS GRÜNEM WASSERSTOFF
Ihre disruptiven Eigenschaften sollen die gedruckten Mikroreaktoren jedoch auch in anderen Bereichen zur Geltung bringen. So arbeitet Evonik in einem weiteren Projektstrang von 3D-Process auch mit Forschern vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), von Siemens Technology und dem Unternehmen Ineratec zusammen. Dabei geht es um einen Reaktor für die Umsetzung von Wasserstoff und Kohlendioxid (CO2) zu Methanol oder Dimethylether. Beide Substanzen sind wichtige Basischemikalien und können auch als Kraftstoffe eingesetzt werden. Während das CO2 aus Biogas oder Abgasen stammt, kann der Wasserstoff durch Wasserelektrolyse gewonnen werden – bevorzugt dann, wenn überschüssiger erneuerbarer Strom zur Verfügung steht.
„Unser Ziel sind aus standardisierten Modulen aufgebaute, dezentrale Anlagen, die man zum Beispiel neben einem Windpark oder einer größeren Solaranlage aufstellen kann“, sagt Professor Dr. Roland Dittmeyer vom KIT-Institut für Mikroverfahrenstechnik. Ein entsprechender Reaktor muss einfach aufgebaut und robust sein und zudem etliche Anforderungen erfüllen. Eine ist es, das entstehende Methanol direkt aus der Reaktionsmischung abzutrennen. Tatsächlich erlaubt der 3D-Druck definiert poröse Strukturen in der Reaktorwand, mit denen dies in Verbindung mit einer geeigneten Temperaturführung nun gelingen könnte.
VON DER IDEE ZUM REAKTOR
Die ersten Versuche mit einem Testreaktor verliefen vielversprechend. Wenn alle Untersuchungen in kleinem Maßstab abgeschlossen sind, wird sich das Konsortium daranmachen, Designregeln zu erarbeiten, um den Reaktor in einen Industriemaßstab zu überführen. Professor Dr. Christoph Klahn, der sich am KIT mit der additiven Fertigung in der Verfahrenstechnik beschäftigt, lobt die Beschleunigung des Entwicklungsprozesses. „Dank der gut vorbereiteten Design- und Fertigungs-Workflows können wir bei jeder neuen Idee den entsprechenden Versuchsreaktor innerhalb von zwei Tagen herstellen.“
Die Softwaremodule für diese durchgängigen Workflows stammen von Siemens und umfassen Simulation, Design und die digitale Ansteuerung der 3D-Drucker zur zuverlässigen Fertigung der feinen Strukturen. Für Dr. Christoph Kiener, bei Siemens Principal Key Expert Functional Design, ist das Forschungsprojekt 3D-Process ein wichtiger Beitrag zur Energiewende. Und er sieht durch die neuen Möglichkeiten schon den Begriff des Chemiereaktors im Wandel: „Bislang ist das der Ort für eine chemische Reaktion. Künftig können wir alle wichtigen Prozessschritte, also Mischen, Reagieren, Trennen und so weiter, durch Simulation maßgeschneidert in einem Apparat so bündeln, dass sie dann in jeweils definierten Zonen hocheffizient erfolgen.“ Der Testreaktor, in dem nun Synthese und Abtrennung des Methanols auf engstem Raum vereinigt werden, gibt eine Ahnung davon, was möglich ist.
Das Bild von Chemieparks könnte sich künftig wandeln, wenn statt großer Kessel zunehmend kleine Durchflussreaktoren zum Einsatz kämen. Aber liefern diese Minianlagen überhaupt ausreichende Mengen? „Im Umfeld pharmazeutischer Wirkstoffe auf jeden Fall“, sagt Stefan Randl von Evonik. Mit einem Durchsatz von einem Liter pro Minute kämen die kleinen Reaktoren auf zwei- bis dreistellige Tonnenzahlen pro Jahr. Zudem sei das Konzept „gut skalierbar“. Je nach gewünschter Produktmenge könne man die nötige Anzahl an Reaktoren parallelschalten.
Selbst in der großtechnischen chemischen Produktion tauge das Konzept als Alternative, sagt Senada Schaack. Sie sieht das Potenzial für radikal geschrumpfte Anlagen und Prozesse, die dank präziser Daten, besserer Simulation und exakter Steuerung mit weniger Stahl, weniger Lösungsmittel und letztlich mit weniger Energie und CO2-Emissionen auskommen. Das wäre in der Tat disruptiv. Und würde eine nachhaltigere Chemie ermöglichen.
3D-Process
Das Projekt „Disruptive Reaktorkonzepte durch additive Fertigung: Vom digitalen Design in die industrielle Umsetzung – 3D-Process“ startete im Juni 2021 und wird im Mai 2024 enden. Es hat ein Volumen von 9,8 Millionen € und wird als Verbundvorhaben vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gefördert unter dem Förderkennzeichen 03EN2065A-E. Konsortialführer des Projekts ist Evonik. Weitere Partner sind Siemens, das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit seinen Instituten für Katalyseforschung und -technologie, für Technische Chemie und Polymerchemie und für Mikroverfahrenstechnik sowie das Unternehmen Ineratec. Ziel ist es, prozesstechnische Bauteile für energieeffizientere chemische Prozesse zu entwickeln, die weniger Emissionen verursachen und nachhaltiger sind.