Evonik hat eine innovative Methode gefunden, um Schaum-Matratzen zu recyceln. Das neue Verfahren erzielt eine sehr hohe Ausbeute und spart dadurch viel Energie und fossile Rohstoffe. Nun soll eine Pilotanlage entstehen.
Etwa alle fünf bis zehn Jahre wirft jeder von uns im Schnitt seine ausrangierte Matratze weg. Und daraus ergibt sich ein riesiges Umweltproblem: Allein in der EU kommen Jahr für Jahr 40 Millionen Schlafunterlagen zusammen, die entsorgt werden müssen. Würde man sie aufeinanderlegen, ragte der Stapel 8.000 Kilometer in die Höhe. Dies entspricht einer Abfallmenge von rund 600.000 Tonnen – davon sind mehr als 300.000 Tonnen Polyurethanschaum. Bislang landen die Matratzen zumeist auf der Mülldeponie oder werden „thermisch verwertet“ – sprich in Kraftwerken beziehungsweise Müllverbrennungsanlagen verheizt. Umweltschonend ist das nicht: Mit jeder ausgedienten Matratze gehen die Rohstoffe und die Energie, die für Produktion und Transport verbraucht wurden, in Rauch und Wärme auf.
Die promovierte Chemikerin hat zusammen mit Kollegen der Creavis, des Business Incubators von Evonik, vor gut drei Jahren ein Recyclingprojekt angestoßen. Ihr Ziel ist es, ausgediente Matratzen in ihre chemischen Bestandteile zu zerlegen und wiederverwertbar zu machen. Der Prozess soll so gut sein, dass das Rezyklat mit konventionellen Rohstoffen mithalten kann. Dieses Ziel scheint nun erreicht. Mehr als das: Vor wenigen Wochen haben Evonik-Kollegen aus dem Life Cycle Management den ökologischen Fußabdruck des neuen Recyclingprozesses eingehend untersucht. Ihr Ergebnis: Der Prozess senkt im Vergleich zur Matratzenproduktion mit fossilen Rohstoffen den CO2-Fußabdruck um über die Hälfte. „Und das wollen wir noch weiter verbessern“, sagt Terheiden.
An einem trüben, eisigen Januarmorgen arbeiten Terheiden und andere Forscher aus dem Projektteam am Standort Essen-Goldschmidtstraße an dem Prozess. Das Gebäude E-18 – roter Backstein außen, grelles Neonlicht innen – ist die Heimat der Geschäftseinheit Comfort & Insulation, in der sich vieles um Schaumstoffe dreht. „Unser Recyclingprojekt war zunächst ein kleines Spinoff-Thema“, erzählt Terheiden, hervorgegangen aus ihrem Hauptjob, der Entwicklung von Additiven für die Schaumindustrie. Darum kümmert sich die 50-jährige Managerin, seit sie 2006 zu Evonik gekommen ist. „Ich übersetze die Anforderungen unserer Kunden, wir nennen sie Verschäumer, ins Chemische.“
Terheiden ist fachlich verantwortlich für die technische Kundenbetreuung sowie die Entwicklung neuer Additive. Die präzise zugeschnittenen Zugaben sollen schließlich die gewünschten Anforderungen der Kunden erfüllen: Autositze werden durch sie formstabil, Matratzen und Sofapolster besonders komfortabel. Mittlerweile betreut Terheiden für Evonik weltweit den technischen Bereich für die sogenannten Weichschäume.
LANGLEBIG – UND SCHWER ZU TRENNEN
Das Material, mit dem sie sich dabei am meisten auseinandersetzt, ist Polyurethan (PU). Es wird zur Herstellung unter anderem von Matratzen oder Polstermöbeln genutzt. Typische PU-Schäume für Matratzen entstehen aus der Reaktion von Isocyanat (TDI) mit Polyetherpolyol und Wasser und unter Zugabe diverser Additive. Als Nebenprodukt wird CO2 frei, es lässt das Gemisch aufbrodeln wie eine heiße Quelle. Anstatt danach wieder in sich zusammenzustürzen, behält PU seine weitmaschige Netzstruktur. PU-Verbindungen sind verschleißfest, was der Lebensdauer des Endprodukts zugutekommt. Fürs Recycling ist diese Eigenschaft jedoch hinderlich, denn dafür müssen diese Verbindungen aufgebrochen werden.
„Den Recyclingprozess neu zu entwickeln, das war komplettes Neuland für uns“, sagt Terheiden. „Bei den Additiven arbeiten wir mit uns bekannten Molekülen. Darin sind wir erfahren, darin sind wir mit unserem Geschäftsbereich Weltmarktführer. Unsere Kompetenzen in der Creavis ermöglichen es jedoch, auch ganz neue Innovationsprojekte anzugehen.“
2018 ist die Zeit für ihre Idee günstig: Evonik beschließt, sich verstärkt der Themen Kreislaufwirtschaft und nachhaltige Produktion anzunehmen. Neue Produkte, aber auch solche aus dem vorhandenen Portfolio sollen fortan nicht nur durch ihren konkreten Nutzen, sondern auch in Nachhaltigkeitsanalysen überzeugen. Zusätzlich bestärkt wird Terheiden durch ein Treffen mit Fachleuten der Einrichtungskette Ikea, eine der mächtigsten Stimmen in der Schaumbranche. „Sie sagten uns damals, dass all ihre Matratzen von 2030 an vollständig aus zurückgewonnenen und erneuerbaren Rohstoffen hergestellt sein sollen. Das war provokativ und hat uns aufgerüttelt“, erinnert sich Terheiden.
POLITIK FORDERT RECYCLINGLÖSUNG
Die bis dahin kommerzialisierten Verfahren erlauben es nicht, PU wieder vollständig in Polyol und Isocyanat aufzuspalten. Statt einzelner Moleküle entstehen in ihnen Mischungen kurzkettiger Oligomere, die zu weit schlechteren Schaumeigenschaften führen als die ursprünglichen Zutaten. Maximal 20 Prozent fossiles Polyol lassen sich mit diesen Verfahren bei der Herstellung neuer Matratzen ersetzen, da sonst die Produkteigenschaften leiden. Terheiden will ein besseres Ergebnis erzielen. Bereits Anfang 2019 beginnt die Forschungsarbeit. Von Anfang an dabei ist die Creavis. Sie ist dafür zuständig, in neuartigen Themenfeldern und Märkten Geschäftsideen für Evonik auszuarbeiten. Terheiden kann sich damit auf die Chemie und die Anwendung im Endprodukt konzentrieren.
Als „Weichschäumerin“, wie sich Chemikerinnen in diesem Fachbereich selbst nennen, weiß sie, dass die Regulierung der Europäischen Union eine Recyclinglösung für PU-Schäume erfordert. Die „Richtlinie 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffprodukte auf die Umwelt“ – kürzer als „Plastik-Richtlinie“ bekannt – schreibt vor, dass viele Kunststoffprodukte ab 2025 zu einem Viertel aus Rezyklat bestehen müssen. Hersteller müssen zudem einen Plan vorlegen, wie ihre Produkte am Ende der Nutzungszeit wiederverwertet werden. „Noch wird PU nicht so streng gesehen wie Einwegplastik“, sagt Terheiden. „Es geht aber nicht darum, ob das passieren wird, sondern nur, wann.“
In ihrem Büro an der Goldschmidtstraße zieht sich die Chemikerin einen weißen Laborkittel über und macht sich auf den Weg zum Labor von Michael Ferenz. Der Chemiker ist vor einem Jahr zum Recyclingprojekt gestoßen und verantwortet seit vorigem Sommer die Experimente im Labor in Essen. Hinter einer hochgefahrenen Sicherheitsscheibe steht eine mannshohe silbrig glänzende Apparatur: ein Hydrolysereaktor mit fünf Liter Fassungsvermögen. „Darin trenne ich mithilfe von Zusatzstoffen die PU-Schäume auf“, sagt Ferenz. Die Zutatenliste wird dauernd optimiert. „Zuerst haben wir fein gemahlenen PU-Schnee genommen“, erzählt Ferenz. „Dieser hat jedoch eine sehr niedrige Schüttdichte, was die Befüllung des Reaktors deutlich erschwert hat. Daher wird jetzt an anderen Darreichungsformen gearbeitet.“
Nach der Beladung stellt der Experimentalchemiker die Parameter für die Versuchsanordnung ein. Auf einem Laptop, der mit dem Reaktor verkabelt ist und bunte Kurven vom letzten Versuch nachzeichnet, kann er alles steuern und kontrollieren. Rot ist die Temperatur in der Ummantelung zu sehen, orange die Temperatur im Reaktor und blau der Druck. Die letzte Kurve zeigt die Drehzahl des Rührers. Er sorgt dafür, dass alle Reaktanden gut vermischt werden.
Wer Ferenz fragt, was genau in diesem Überdruckkochtopf passiert, erhält eine Kurzauffrischung in Chemie: Kugelschreiber, klick, Zettel, los geht’s. Was er aufzeichnet, ist der Schlüssel zum Recyclingerfolg. Er wurde bei einer Recherche entdeckt und nutzt mit der Hydrolyse eine der fundamentalen Reaktionen in der organischen Chemie, indem ein Katalysator verwendet wird. „Ganz genau wissen wir noch nicht, wie es funktioniert“, räumt Ferenz ein. „Die Arbeitshypothese lautet, dass die Katalysatoren unsere Reaktanden besser zusammenbringen.“
ANGRIFF AUF DIE URETHANFUNKTION
Für die Polyurethanspaltung nutzen Ferenz und seine Kollegen ein katalytisches System. Durch die Verwendung eines Katalysators kann die Reaktion unter milderen Bedingungen ablaufen. Der Katalysator sorgt dafür, dass die nötigen chemischen Bindungen schnell und effizient gebrochen werden und die Reaktion überhaupt in einem akzeptablen Zeitraum ablaufen kann.
Wie das Ergebnis aussieht, zeigt Ferenz in einem Fläschchen. Es enthält, was nach erfolgreicher Hydrolyse von PU-Schaum übrig bleibt: eine tiefbraune Flüssigkeit, in der sich reines Polyol und ein Amin (TDA) befinden. Letzteres lässt sich in einer Folgereaktion zum Isocyanat TDI umsetzen, und so werden ebenjene Stoffe, die für die Produktion von Polyurethan benötigt werden, zurückgewonnen.
Damit die Moleküle wieder zum Aufschäumen taugen, müssen sie sauber voneinander getrennt werden. „Es hat lange gedauert, bis wir so weit gekommen sind“, sagt Ferenz. Unzählige Versuchsanordnungen lieferten unbrauchbare Parameter. Jede Menge Katalysatoren und Additive erwiesen sich als untauglich. Forscheralltag eben. Mittlerweile ist der Proof of Concept gelungen: ein vollständig geschlossener Kreislauf, ohne Zugabe von frischem Polyol.
Das war der Startschuss für viele Experten von Evonik, insbesondere der Verfahrenstechnik: Partikeltechniker klären, wie Matratzen besser geschreddert werden können, Fluidverfahrenstechniker suchen nach einer Lösung, die dunkelbraune Flüssigkeit schneller und sauberer in ihre Bestandteile aufzutrennen, Digitalisierer, Mess- und Regeltechniker, Umwelttechniker, Sicherheitstechniker, sie alle lösen Probleme rund um den Prozess. Ganz perfekt ist das Ergebnis noch nicht. Zwar verhalten sich die Schäume aus den recycelten Molekülen tadellos, sie sind aber bräunlich gefärbt. Aus fossilen Quellen gewonnenes Polyol ist anders als sein recycelter chemischer Zwilling farblos.
MEILENSTEIN FÜR DIE SCHAUMBRANCHE
Partner aus der Industrie sind trotz dieser Herausforderungen von dem Prozess sehr angetan – zum Beispiel der englische Weichschaumproduzent The Vita Group, der hochwertige Matratzen produziert und eng mit Evonik zusammenarbeitet. „Wir haben recycelte Polyole von Evonik in mehreren unserer Weichschaumformulierungen getestet, und die Resultate waren sehr positiv“, sagt Vita-Chef Ian W. Robb. Die Firma betrachtet sich als Pionier der umweltfreundlichen Produktion von Matratzen. Die hervorragende Ökobilanz des Recyclingprojekts ist für Robb daher ein entscheidender Faktor. „Wir wollen bei der Entwicklung umweltfreundlicher Technologien Vorreiter sein. Das ist ein Meilenstein auf dem Weg hin zur Kreislaufwirtschaft.“
Bei Evonik gleicht das Recyclingprojekt mittlerweile einem gewaltigen Mosaik, an dem in mehreren Standorten parallel gearbeitet wird. Geschäftsbereiche jenseits der Schaumexperten von Comfort & Insulation unterstützen das Projekt. So haben zum Beispiel im Chemiepark Marl die Kollegen aus dem Bereich Crosslinkers ihre Anlagen zur Verfügung gestellt. Das große Bild soll aber schon in wenigen Monaten in Hanau zu sehen sein. Dort entsteht eine Pilotanlage, in der die Bestandteile von Polyurethan in größeren Mengen gewonnen werden sollen. Dafür zuständig ist Andree Blesgen. Der Projektleiter der Verfahrenstechnik stieß 2020 zum Projekt. Statt fünf Litern, wie in den bisherigen Reaktoren, soll in der neuen Anlage ein Vielfaches herauskommen. „Wir hoffen, noch 2022 in Betrieb zu gehen und mit der neuen Anlage in den Tonnenbereich vorzustoßen“, sagt Blesgen.
Das wäre extrem flott. „Von der Patentrecherche bis zur Miniplant in drei Jahren, das ist richtig sportlich“, sagt Blesgen. Verantwortlich sei dafür nicht zuletzt die Begeisterung im Unternehmen für die Sache. „Es macht einfach riesigen Spaß, etwas ökologisch so Sinnvolles zu machen. Und daraus wächst eine unglaubliche Teamleistung“, sagt er. Selbst zu Hause zahlt sich für den 45-jährigen Familienvater das Projekt aus: „Wenn ich sonst von meinem Job erzählt habe, waren die Kinder eher mäßig interessiert – dass ich jetzt dabei mitwirke, Matratzen wiederverwertbar zu machen, finden sie richtig spannend.“
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