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Eine aquarellartige Zeichnung zeigt Rohöl, Kunststoffschuhe und eine leere Plastikflasche

Hauptsache Kohlenstoff

Mögliche Quellen von Kohlenstoff
Lesedauer 8 min
10. März 2022

Das C-Atom ist für die Chemie unersetzlich. Die fossilen Quellen hierfür sind es nicht. Zunehmend kommt erneuerbarer Kohlenstoff zum Einsatz, dessen Anteil in den Produkten sich nun auch exakt nachweisen lässt.

Tom Rademacher
Von Tom Rademacher

Freier Journalist in Köln

„Energie und Mobilität kann man dekarbonisieren, aber die Chemie niemals“, sagt Jeroen Verhoeven. Zu wichtig sei Kohlenstoff als Baustein für chemische Verbindungen. Kaum ein Produkt, das ohne C-Atome auskäme.

Verhoeven arbeitet für Neste. Das finnische Unternehmen ist weltweit der größte Hersteller von Diesel und Flugzeugtreibstoff aus erneuerbaren Quellen und hat bereits gemeinsam mit Evonik Schmierstoff-Formulierungen entwickelt. Durch seine Produkte hat Neste nach eigenen Angaben allein 2021 den Ausstoß von rund elf Millionen Tonnen Treibhausgasen verhindert. Seit einigen Jahren wendet sich das Unternehmen verstärkt alternativen Kohlenstoffquellen für die Chemie zu.

Alternativbild

»Energie und Mobilität kann man dekarbonisieren, aber die Chemie niemals.«

JEROEN VERHOEVEN BEREICHSLEITER WERTSCHÖPFUNGSKETTEN KUNSTSTOFF & CHEMIE BEI NESTE

Der Bedarf ist gewaltig. Laut einer Studie des Nova-Instituts, eines deutschen Thinktanks, stecken in den weltweit pro Jahr produzierten Chemieprodukten rund 450 Millionen Tonnen Kohlenstoff. Bis 2050 wird sich diese Menge mehr als verdoppeln.

Umso dringender sucht die Branche nach Alternativen zu Erdgas und Erdöl. Von A wie Altreifen bis Z wie Zelluloseabfällen wird alles Mögliche herangezogen, was Kohlenstoff im Umlauf hält und verhindert, dass neuer aus der Erde geholt werden muss.

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Evonik hat ein Material aus erneuerbaren Quellen entwickelt: Trogamid myCX eCO ist ein transparentes Polyamid speziell für Brillengläser. Die Marke Boss bringt gerade die erste Sonnenbrillenkollektion damit heraus. Das Kürzel eCO steht für eliminate CO₂, „Kohlendioxid ausmerzen“. Die klimafreundliche Innovation verursacht nur halb so viel Kohlendioxidemission wie herkömmliches Polyamid, da bei der Herstellung regenerative Energie eingesetzt wird und 40 Prozent der fossilen Rohstoffe durch erneuerbare ersetzt werden. „Rohstoffe machen den größten Anteil unseres CO₂-Fußabdrucks aus“, sagt Dr. Florian Hermes, verantwortlicher Experte im Evonik-Geschäftsgebiet High Performance Polymers.

Eine Zeichnung zeigt Holz, Blumen und eine Flüssigkeit.
Nachwachsende Rohstoffe: Pflanzen sind Teil des natürlichen Kohlenstoffkreislaufs. Den Kohlenstoff, den Raps, Rizinus und andere Nutzpflanzen enthalten, haben sie zuvor selbst aus der Atmosphäre geholt. Sie als chemischen Rohstoff zu nutzen, kann also Vorteile fürs Klima bieten. Ob ein fertiges Produkt tatsächlich klimafreundlich ist, hängt von weiteren Faktoren ab, etwa von der Quelle der bei der Herstellung eingesetzten Energie.

Branchenweit stammen heute 85 Prozent des Kohlenstoffs in Chemieprodukten aus fossilen Quellen – gut drei Viertel davon aus Erdöl und ein Viertel aus Erdgas. Biobasiert ist nur ein Zehntel, recycelt ein Zwanzigstel der Gesamtmenge. Bis 2050 muss sich dieser Mix fundamental ändern. Mehr als die Hälfte allen Kohlenstoffs sollte laut Nova-Institut dann aus dem Recycling stammen, der Rest vom Feld und direkt aus der Luft. Das klingt nach Revolution – doch die Veränderungen werden sukzessive stattfinden. Globale Industrien wie die Chemie mit ihren komplexen Stoffströmen und gigantischen Produktionsverbünden komplett neu aufzubauen wäre kaum praktikabel. Ökologisch sinnvoll wäre es auch nicht. Der Wandel muss mit vorhandenen Anlagen gestemmt werden, indem erneuerbare Rohstoffe in immer größerem Maße in die bestehenden Prozesse einfließen.

Eine wichtige Methode auf dem Weg dorthin heißt Massenbilanzverfahren. Demnach kann erneuerbarer Kohlenstoff, der am Anfang einer chemischen Wertschöpfungskette über einen Rohstoff eingespeist wird, an deren Ende einem bestimmten kohlenstoffhaltigen Produkt zugerechnet werden. Stark vereinfacht geht das so: Eine Tonne Pflanzenöl, die in der Raffinerie eine Tonne Erdöl ersetzt, wird buchhalterisch einer Tonne fertigem Kunststoff gutgeschrieben, der aus den Raffinerieprodukten hergestellt ist. Dabei müssen Pflanzenöl und Erdöl nicht getrennt bleiben. Die Massenbilanzierung erlaubt es, Fossiles und Erneuerbares zusammen zu verarbeiten. Abgerechnet wird am Schluss

ATOMMASSEN STATT KILOWATTSTUNDEN

Der Vergleich mit dem Ökostrom liegt nahe. Windkrafträder und Fotovoltaikanlagen speisen elektrische Energie ins selbe Stromnetz ein wie Kohle- und Gaskraftwerke. Wer für Ökostrom bezahlt, weiß nicht, woher die Elektronen aus seiner Steckdose wirklich stammen. Er zahlt aber dafür, dass auf Versorgerseite die verbrauchte Menge Strom aus erneuerbaren Quellen eingespeist wurde.

In der Chemie ist all das etwas komplizierter. Statt Kilowattstunden gilt es Atommassen zu verfolgen. Und das durch viele komplexe und oft als Betriebsgeheimnis gehütete Reaktionen hindurch. Um zu gewährleisten, dass dies korrekt und transparent geschieht, sind verbindliche Regeln und internationale Standards nötig. Einer dieser Standards heißt ISCC-Plus.

ISCC steht für International Sustainability and Carbon Certification, eine Organisation mit Sitz in Köln. Ihr Plus-Standard gewährleistet, dass in den Berechnungen exakt so viel Kohlenstoff im Produkt als erneuerbar deklariert wird, wie in den Prozess eingespeist wurde – mögliche Prozessverluste werden dabei berücksichtigt. Bei Biokraftstoffen sind Standards wie ISCC-EU seit Langem gesetzlich bindend. ISCC-Plus wurde unter anderem für die Chemie entwickelt. Noch handelt es sich um eine freiwillige Selbstverpflichtung. Die Zahl der gültigen ISCC-Plus-Zertifikate hat sich jedoch zuletzt Jahr um Jahr verdoppelt. Große Konsumgüterhersteller drucken das ISCC-Plus-Label bereits auf die Verpackungen von Babyschnullern, Kartoffelchips und Shampoo. So steigt die Nachfrage entlang der Lieferkette.

Alternativbild

CRACK-C4 AUS NACHHALTIGEN QUELLEN

Seit November 2021 sind Anlagen von Evonik in Marl und Antwerpen nach ISCC-Plus zertifiziert. Sie gehören zum Geschäftsgebiet Performance Intermediates, das unter anderem Weichmacher, Additive und Zwischenprodukte für alles vom Waschmittel bis zur Schuhsohle herstellt – pro Jahr rund zwei Millionen Tonnen. Wichtigster Rohstoff dafür ist sogenanntes Crack-C4. Die Moleküle mit vier Kohlenstoffatomen fallen beim Aufspalten von Rohölprodukten an. Künftig soll mehr und mehr davon aus erneuerbaren Raffinerie-Restströmen kommen. Ob Butadien für Gummianwendungen oder Buten für Kunststoffe – diese Stoffe lassen sich chemisch identisch aus nachwachsenden oder recycelten Quellen gewinnen. Nachgewiesen wird dies durch das Massenbilanzverfahren. „Die Zertifizierung nach ISCC-Plus erlaubt es uns, den Anteil der nachhaltigen Produkte so hochzufahren, wie Verfügbarkeit und Nachfrage steigen“, sagt Hendrik Rasch, im Geschäftsgebiet verantwortlich für Business & Sustainability Transformation.

Eine Zeichnung, die Kohlestücke, Behälter mit Rohöl und Gaskartuschen zeigt.
Fossile Rohstoffe: Erdöl, Erdgas und Kohle sind derzeit die mit weitem Abstand wichtigsten Energie- und Rohstoffquellen in der chemischen Industrie. Der darin enthaltene Kohlenstoff wurde über Jahrmillionen biologisch gebunden und in unterirdische Schichten eingeschlossen. Erst die Nutzung dieser Vorkommen brachte das moderne Industriezeitalter in Gang. Auf dem Weg in die Klimaneutralität sollen fossile Rohstoffe im Boden bleiben.

Auch im Konzern selbst steigt bei derart zertifizierten Produkten die Nachfrage. Butadien und Buten werden etwa im Geschäftsgebiet Coatings & Adhesive Resins verarbeitet. Das erste eCO-Produkt aus einem defossilierten Cracker-Produkt ist schon am Markt: Vestoplast eCO wird in Heißschmelzklebern – im Fachjargon Hotmelts – verarbeitet, die etwa Windeln zusammenhalten. Sichere Klebung ist da ein Muss und zunehmend auch Nachhaltigkeit. „Millennials haben heute Wickelkinder und achten auf Ökolabels“, sagt Dr. Sabrina Mondrzyk, Leiterin des Technical Marketing für Hotmelts. In der Möbelproduktion, bei der Herstellung von Getränkekartons und im Automobilbau wird genauso geklebt. Und Unternehmen wie Ikea verlangen selbst bei Klebern den Einsatz von Recyclingprodukten. „Abstriche bei Haftverhalten und Verarbeitung macht trotzdem keiner“, sagt Mondrzyk. Vestoplast eCO ist denn auch chemisch identisch mit der herkömmlichen Variante, basiert aber massenbilanziert zu 97 Prozent auf erneuerbaren Rohstoffen.

Portrait Florian Hermes

»Wir wollen dazu beitragen, den CO₂-Fußabdruck von Evonik zu verkleinern.«

FLORIAN HERMES HIGH PERFORMANCE POLYMERS, EVONIK

Auch das Evonik-Geschäftsgebiet Crosslinkers ist bereit für die Herstellung von eCO-Produkten. Die Sparte für sogenannte Vernetzer, die zum Beispiel Lacke, Industriefußböden und Faserbauteile aushärten lassen, hat im März den kompletten Produktionsstrang in Herne zertifizieren lassen. Alle Erzeugnisse gibt es künftig als eCO-Variante. Denn das Aceton, auf dem alle dortigen Produkte letztlich basieren, kann massenbilanziert zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen bereitgestellt werden.

An den Anlagen muss für die Verarbeitung der erneuerbaren Rohstoffe nichts geändert werden. Die technologischen Hürden beim Ersatz des fossilen Kohlenstoffs liegen vielmehr am Anfang der Wertschöpfungskette. Welche Rohstoffe verfügbar sind und wie man sie chemisch identisch in die gängigen Vorprodukte umwandelt – solche Fragen müssen Unternehmen wie Neste beantworten. „Nicht alles ist jetzt schon technisch oder wirtschaftlich machbar“, sagt Verhoeven. „Aber vieles geht schneller, als selbst wir das erwartet haben. Und man muss Raum für Innovation lassen.“

ZUKUNFTSPROJEKT PYROLYSE

So nutzt Neste heute viele verschiedene erneuerbare Rohstoffe. Waren es früher vor allem Pflanzenöle, machen heute Reststoffe und Abfälle mehr als 90 Prozent der Ausgangsmaterialien aus. In den Niederlanden etwa kooperiert das Unternehmen mit McDonald’s. Deren altes Frittieröl wird zu Biodiesel für Trucks, die die Burgerkette beliefern.

Holzreste, Restmüll, Klärschlamm – je minderwertiger die Abfälle, desto besser kann die Ökobilanz ausfallen. Zudem bilden solche erneuerbaren „Rohstoffe der zweiten Generation“ keine Konkurrenz zu der Nahrungsmittelproduktion. Kunststoffabfälle werden künftig eine deutlich größere Rolle spielen. Ein Weg dazu heißt Pyrolyse. Dabei wird Kunststoffmüll, der sich für mechanisches Recycling nicht ausreichend trennen lässt, auf mehrere Hundert Grad Celsius erhitzt. Unter Sauerstoffausschluss entsteht dabei eine dicke schwarz-braune Flüssigkeit. Sie sieht nicht nur aus wie Rohöl, sie lässt sich auch ganz ähnlich verarbeiten.

Eine Zeichnung zeigt leere Plastikflaschen, Kunststofftüten, Becher und besteck.
Zirkuläre Rohstoffe: Was heute noch Müll ist, kann schon bald als wertvoller Rohstoff für neue Produkte dienen – dank verbesserter und neuer Verfahren zur Aufbereitung beziehungsweise Wiederverwertung. Neben dem mechanischen Recycling kann das chemische Recycling von Kunststoffen künftig eine deutlich größere Rolle spielen.

Neste hat 2021 in ein amerikanisches Recyclingunternehmen mit eigener Verflüssigungstechnologie investiert. Bis 2030 wollen die Finnen jährlich mehr als eine Million Tonnen Kunststoffabfall verarbeiten. Shell baut in Singapur eine Anlage zur Aufbereitung von Pyrolyseöl. Total hat die erste industrielle Pyrolyse Frankreichs angekündigt. BP prüft die Ansiedlung einer Pyrolyse in Deutschland: Die Raffinerie in Gelsenkirchen ist per Pipeline mit dem nahegelegenen Chemiepark Marl von Evonik verbunden – eine Perspektive dafür, den Kreislauf für erneuerbaren Kohlenstoff zu schließen.