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Maske für die Medizin: Im Darmstädter Evonik-Labor werden aus rPEG-Lipiden und weiteren Komponenten Lipidnanopartikel hergestellt. Das rPEG hierfür liefert die Uni Mainz.

rPEG-Lipide: Transport ohne Risiken

Maske für die Medizin: Im Darmstädter Evonik-Labor werden aus rPEG-Lipiden und weiteren Komponenten Lipidnanopartikel hergestellt. Das rPEG hierfür liefert die Uni Mainz.
Lesedauer 7 min
07. Juli 2023

Von Coronavirus-Impfstoffen bis hin zu Medikamenten gegen Krebs, Multiple Sklerose oder Alzheimer – die Anwendungsmöglichkeiten für mRNA-Therapien sind vielfältig. Doch wie gelangen die Wirkstoffe optimal in den Körper? Ein Team von Forschern der Uni Mainz und Evonik arbeitet gemeinsam am perfekten Transportsystem.

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Von Tim Schröder

Wirtschaftsjournalist aus Oldenburg

In der Wissenschaft gibt es Momente, da fügen sich plötzlich Dinge auf wundersame Weise zusammen. Gedanken, Ideen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, ergeben gemeinsam einen Sinn. So ging es vor gut zwei Jahren einem Team um den Chemiker Professor Dr. Holger Frey von der Universität Mainz. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Substanz Polyethylenglykol, einem nicht toxischen Tausendsassa unter den chemischen Stoffen.

Polyethylenglycol, kurz PEG, ist ein gut wasserlös­liches Polymer, also eine lange Molekülkette. Ihr Grundbaustein ist Ethylenoxid (EO). Man verwendet PEG unter anderem in Zahncremes, Shampoos und vielen Kosmetika. Für solcherlei Anwendungen werden jedes Jahr weltweit viele Tausend Tonnen PEG verbraucht. Die Sub­stanz spielt allerdings auch eine wichtige Rolle in der Medizin: Hier hilft das PEG unter anderem dabei, Wirkstoffe durch den Körper zu schleusen.

Die Chemiker in Mainz suchten nach einem Weg, wie man PEGs modifizieren kann, um ihnen neue Eigenschaften zu verleihen und sie somit noch vielfältiger einsetzbar zu machen. Dabei konzentrierten sich ­Holger Freys Post-Doktoranden Rebecca Matthes und ­Philip Dreier vor allem auf ein vielversprechendes Molekül, das sehr eng mit EO verwandt ist: Glycidylmethylether, kurz GME. GME ist wie EO ein Baustein zur Herstellung von Polymeren. Beide Bausteine lassen sich auch kombinieren. Ihr auf diese Weise modifiziertes Polymer nannten die Forscher der Uni Mainz rPEG. Das r steht für „randomized“, weil sich die EO- und die GME-Bausteine bei der Herstellung zufällig in der Kette verteilen. Interessanterweise stellen alle Polymere aus den Bausteinen EO und GME Strukturisomere dar. Das rPEG hat im Vergleich zu PEG zusätzliche Molekülseitenketten, es ist aber ebenso gut wasserlöslich. Hinzu kommen weitere interessante Eigenschaften.

links: Im Hanauer Syntheselabor wird getestet, unter welchen Bedingungen das rPEG an ein Lipid gekoppelt werden kann. rechts: Mittels Chromatografie wird das rPEG-Lipid aufgereinigt.
links: Im Hanauer Syntheselabor wird getestet, unter welchen Bedingungen das rPEG an ein Lipid gekoppelt werden kann. rechts: Mittels Chromatografie wird das rPEG-Lipid aufgereinigt.

Medizinische Anwendungen von rPEG hatten die beiden Post-Doktoranden anfangs gar nicht im Sinn. Plötzlich aber fügte sich ein Bild zusammen: rPEG könnte einen Durchbruch in der Entwicklung neuartiger mRNA-Medikamente bedeuten. Zusammen mit einem Forschungsteam von Evonik arbeiten Matthes und Dreier nun daran, aus ihrer Entdeckung eine für die Pharmabranche nutzbare Technologie zu entwickeln. mRNA-Medikamente gelten als einer der größten Hoffnungsträger in der Medizin. Während der Covid-19-Pandemie kamen sie als Impfstoffe erstmals groß zum Einsatz und konnten ihre Wirksamkeit sowie ihr Potenzial unter Beweis stellen. Experten erwarten, dass sich damit noch viele andere Krankheiten behandeln lassen, die heute nur schwer therapierbar sind – etwa Multiple Sklerose oder Alzheimer. Auch seltene Krebsformen könnten mit einer mRNA-Therapie bekämpft werden.

Doch bislang gibt es eine Hürde: mRNA-Wirkstoffe werden unter anderem mit hochreinen Spezial-PEG-Lipiden umhüllt, damit sie unbeschadet ihre Zielzellen erreichen. Die Substanz PEG kann jedoch in seltenen Fällen die Bildung von Anti-PEG-Antikörpern hervorrufen. Für künftige Anwendungen über einen längeren Zeitraum, zum Beispiel im Rahmen einer Krebstherapie, sollte dies ausgeschlossen werden. Die Pharmabranche sucht deshalb seit Längerem nach PEG-Alternativen.

Genau solch eine Variante entdeckten Rebecca ­Mat­thes und Philip Dreier vor gut zwei Jahren mit rPEG. Während die beiden an der Entwicklung von rPEG arbeiteten, erschienen in Fachzeitschriften gleich mehrere Artikel, die beschrieben, wie Antikörper an das PEG andocken und wie das Immunsystem PEG erkennt. „Uns war sofort klar, dass unser rPEG das Potenzial hat, diese Immunreaktion zu verhindern“, sagt Matthes. „Wir dachten uns, dass wir das Andocken der Antikörper durch die zusätzlichen Moleküläste im rPEG verhindern könnten“, so die Forscherin. „Damit müsste das modifizierte PEG für das Immunsystem unsichtbar werden.“

Die verschiedenen Fraktionen der Chromatografie werden in Reagenzgläsern aufgefangen.
Die verschiedenen Fraktionen der Chromatografie werden in Reagenzgläsern aufgefangen.

Ein Durchbruch für die Pharmabranche

Es folgten umfangreiche Experimente. Über mehrere Wochen synthetisierten die beiden im Labor aus GME- und EO-Bausteinen verschiedene neuartige rPEG-Polymerstrukturen. Das Forschungsduo brachte dann das neue Polymer mit Antikörpern in Kontakt. Und tatsächlich: Die Wechselwirkung mit dem Antikörper bei vergleichbaren Konzentrationen blieb aus.

DIE FORSCHUNGSGRUPPE FREY

Polymere sind Holger Freys Spezialgebiet: Seine Forschungsgruppe an der Universität Mainz, wo er seit 2002 Organische und Makromolekulare Chemie lehrt, beschäftigt sich mit Synthese, Charakterisierung und Anwendungen neuer funktionaler Polymere. Seit Herbst 2018 ist Professor Frey (im Bild links) Mitherausgeber der Zeitschrift „Polymer Chemistry“. Dr. Rebecca Matthes und Dr. Philip Dreier haben sich bei Frey promoviert und sind als Post-Doktoranden in seiner Arbeitsgruppe tätig. Dort treiben sie die Entwicklung von rPEGs für eine Vielfalt pharmazeutischer Anwendungen voran.

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Die zufällig verteilten GME-Molekülseitenketten verhinderten das Andocken der Antikörper. Die Entdeckung der Mainzer Forscher könnte für die Pharmabranche von großer Bedeutung sein. PEG-Lipide gehören zu den wichtigsten Zutaten für die sogenannten Lipidnanopartikel (LNP), mit denen mRNA-Wirkstoffe umhüllt werden. LNPs sind kugelrunde, winzige Fähren, die den Wirkstoff durch den Körper bis in die Zellen transportieren. Denn mRNA ist äußerst instabil. Sie benötigt eine Schutzhülle.

LNPs ähneln Fetttropfen im Wasser: Die Fetttröpfchen im Nanometerbereich bestehen aus einer sorgfältig designten Kombination verschiedener Lipide. Dabei stabilisieren die nach außen ragenden rPEG-Ketten das Gebilde und machen es für das Immunsystem unsichtbar. Nach innen ragen die Wasser abweisenden Fettsäure­ketten des Lipids. Die mRNA selbst befindet sich im Innern der LNPs.

„Als wir erkannt hatten, dass sich mit rPEGs die ­Bildung von Anti-PEG-Antikörpern vermeiden lässt, wandten wir uns an die Industrie“, berichtet Frey. Und so meldete er sich bei Evonik. Er wusste, dass es dort Forschern in der heißen Phase der Covid-19-Pandemie gelungen war, wichtige Bestandteile für die Impfstoffe von BioNTech herzustellen – unter anderem maßgeschneiderte Speziallipide. „Als ich ihnen von unserem rPEG erzählte, waren sie sofort begeistert“, sagt Frey.

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»Als ich den Evonik-Forschern von unserem rPEG erzählte, waren sie sofort begeistert.«

Holger Frey CHEMIEPROFESSOR AN DER UNI MAINZ

Die Evonik-Forscher übernahmen die Aufgabe, das rPEG aus Mainz zu Lipiden zu verknüpfen und daraus funktionelle LNPs zu entwickeln. „Wir hatten den großen Vorteil, dass wir auf unsere Kompetenzen bei der Herstellung und Charakterisierung maßgeschneiderter Speziallipide in Hanau und Dossenheim zurückgreifen konnten“, sagt Dr. Thomas Endres, der das Projekt bei Evonik leitet. Er holte Experten aus mehreren Bereichen in einem Projektteam zusammen – vor allem aus dem Syntheselabor in Hanau sowie aus dem Formulierungslabor und dem Zellkulturlabor in Darmstadt.

Zunächst galt es, das rPEG aus Mainz mit fettlöslichen Molekülsegmenten zu einem Lipid zu koppeln, das einer der Komponenten der Covid-19-Impfstoffe ähnelt. In kleinen Glaskolben testete Labormitarbeiter Erich Kraus in Hanau verschiedene Bedingungen: Er variierte die Reaktionstemperatur, die Konzen­tration der einzelnen Reagenzien und die Lösungsmittel, trennte unerwünschte Nebenprodukte ab und isolierte das Produkt.

Durch Gefriertrocknung wird aus der Reaktionslösung rPEG-Lipid in Pulverform gewonnen.
Durch Gefriertrocknung wird aus der Reaktionslösung rPEG-Lipid in Pulverform gewonnen.

Industrieproduktion im Minimaßstab

„Die ersten Versuche waren mit einer Ausbeute von nur etwa 30 Prozent des gewünschten rPEG-Lipids ernüchternd“, berichtet Dr. Ulrich Klöckner, der die Arbeit in Hanau leitet. Schnell wurde klar, dass das funktionale Ende des rPEG-Moleküls modifiziert werden musste, um eine bessere Umsetzung zu ermöglichen. „Das ist den Kollegen in Mainz sehr schnell gelungen“, so Klöckner. Mit dem veränderten Molekül erreicht das Team in Hanau inzwischen Ausbeuten von mehr als 70 Prozent. Das ist auch für eine mögliche industrielle Produktion von Bedeutung, weil ein chemischer Prozess nur dann rentabel und nachhaltig ist, wenn der Großteil der Rohstoffe tatsächlich zum gewünschten Endprodukt umgesetzt wird. Im Moment arbeiten die Forscher in Hanau daran, den Prozess zur Herstellung des rPEG-Lipids noch effizienter zu gestalten.

Viele chemische Produkte werden im Tonnenmaßstab hergestellt. Bei der Produktion von LNPs und mRNA-basierten Impfstoffen oder Medikamenten dagegen läuft alles miniaturisiert ab. Der Covid-19-Impfstoff Comirnaty von BioNTech/Pfizer enthält gerade einmal 30 Mikro­gramm mRNA. Gespritzt werden 0,3 Milliliter. Ein 300-Liter-Fass würde reichen, um Impfdosen für Millionen Menschen zu lagern.

Labormitarbeiterin Melanie Liefke belädt in Darmstadt kleine Gefäße mit Lipidnanopartikeln.
Labormitarbeiterin Melanie Liefke belädt in Darmstadt kleine Gefäße mit Lipidnanopartikeln.

Melanie Liefke stellt im Darmstädter Labor von Evonik aus den rPEG-Lipiden und weiteren Komponenten die für weitere Tests benötigten LNPs her. Am Laborabzug sitzend dosiert sie mit Pipetten verschiedene Flüssigkeiten präzise in ein fingerhutgroßes Plastikgefäß – rPEG-Lipide, drei weitere Lipide und mRNA. Ihre Erfahrung und Geschicklichkeit ermöglichen es ihr, funktionstüchtige LNPs in den gewünschten Größen herzustellen. „Man muss zügig und kontrolliert mischen, weil die mRNA sehr empfindlich ist“, erklärt sie.

Wie Lipidnanopartikel für Antikörper unangreifbar werden.
Wie Lipidnanopartikel für Antikörper unangreifbar werden.

Dass sich bereits beim kontrollierten Mischen wohlstrukturierte LNPs bilden, liege auch daran, dass sich die mRNA, das rPEG-Lipid und die anderen Komponenten von allein zusammenfänden, erklärt Molekularbiologin Dr. Anne Benedikt, die das Zellkulturlabor in Darmstadt leitet. „Das hat mit der Selbstorganisation der Materie zu tun. Die Fettsäuren zum Beispiel orientieren sich vom Wasser weg, und über die elektrische Ladung der Komponenten können wir vorgeben, wie sie sich zusammenlagern.“ Die eigentliche Herausforderung beim Hantieren mit mRNA bestehe darin, dass diese abgebaut werden könne, wenn man nicht sauber arbeitet. „Das liegt daran, dass wir Menschen auf unserer Haut Enzyme tragen, die körperfremde mRNA schnell abbauen – das ist unser natürlicher Schutz“, so Benedikt. Wer im Labor mit mRNA arbeitet, muss deshalb für eine absolut reine Umgebung, frei von diesen Enzymen, sorgen.

Biologie und Chemie Tür an Tür

In Darmstadt werden die LNPs nicht nur hergestellt, sondern auch getestet. Das Team untersucht ihre Interaktion mit lebenden Zellen. Katrin Häfner, Senior Scientist im Zellkulturlabor, deutet auf eine durchsichtige Kunststoffplatte unter dem Laborabzug, deren Vertiefungen mit Flüssigkeit gefüllt sind. In manchen ist die Flüssigkeit eher orange, in anderen violett. „In diesem Test prüfen wir, bis zu welcher LNP-Konzentration die Zellen diese gut vertragen“, sagt sie.

Lipidnanopartikel werden zuerst auf physikalische Parameter wie Größe und Ladung untersucht.
Lipidnanopartikel werden zuerst auf physikalische Parameter wie Größe und Ladung untersucht.

Einen Raum weiter wird geprüft, ob die LNPs ihren Job erledigen und die mRNA in die Zielzellen einschleusen. Dies wird an speziellen Testsystemen untersucht, die bei erfolgreicher Übertragung der mRNA und nachfolgender Produktion der Zielsubstanz ein schwaches Licht aussenden, das von einem Sensor gemessen wird. Dieses Licht ist umso stärker, je besser das Träger­system funktioniert.

Biochemikerin Katrin Häfner prüft an Zellkulturen, wie gut verträglich die Lipidnanopartikel sind.
Biochemikerin Katrin Häfner prüft an Zellkulturen, wie gut verträglich die Lipidnanopartikel sind.

Projektleiter Endres ist stolz auf das bisher Erreichte. „Wir konnten zeigen, dass wir mit rPEG-Lipiden funktionsfähige LNPs für mRNA-Wirkstoffe herstellen können, die in Zellkulturen den gewünschten Effekt erzielen.“ Und das in ziemlich kurzer Zeit. „Von den ersten Gesprächen über die Herstellung und Testung der Sub­stanzen in den drei beteiligten Laboratorien bis hin zum erfolgreichen Abschluss der Machbarkeitsstudie hat es nur ein Jahr gedauert“, sagt er. Forschung und Entwicklung im Pharmabereich seien anspruchsvoll und zeit­intensiv und nähmen oft viele Jahre in Anspruch.

Auf dem Weg zu ersten Tests

Geholfen habe, dass sich die Eigenschaften und chemischen Strukturen von rPEG und PEG stark ähneln. „rPEG fügt sich nahtlos in industrielle Produktions­prozesse ein“, so Endres. Weltweit versuchten weitere Forschungsgruppen, PEGs durch andere wasserlösliche Makromoleküle zu ersetzen, um die Bildung von Antikörpern zu vermeiden. Diese neuen Substanzen seien jedoch von PEG chemisch so verschieden, dass für Herstellung von Makromolekül und Lipid ganz neue Produktionsprozesse entwickelt werden müssten.

Thomas Endres, Projektleiter bei Evonik, glaubt an das Potenzial der rPEG-Technologie, zukünftige mRNA-Medikamente sicherer und besser zu machen.
Thomas Endres, Projektleiter bei Evonik, glaubt an das Potenzial der rPEG-Technologie, zukünftige mRNA-Medikamente sicherer und besser zu machen.

Zur Schnelligkeit trug auch bei, dass sich die Kompetenzen der Partner so gut ergänzen. „Zusammen decken wir die ganze Kette von der Grundlagenforschung bis zur Lipidherstellung im kommerziellen Maßstab in definierter Pharmaqualität ab“, so Endres. Gemeinsam wollen die Uni Mainz und Evonik auch den nächsten Schritt gehen. Die LNPs mit den rPEG-Lipiden müssen weitere Tests durchlaufen, bevor an eine Anwendung im Menschen zu denken ist. Wenn auch diese Tests erfolgreich verlaufen, kann Evonik Pharmaunternehmen die rPEG-Lipide als Produkt und die darauf beruhenden LNPs als Formulierungsoption für mRNA-Wirkstoffe anbieten. ­Endres: „Das wäre die ideale Ergänzung unseres Portfolios.“

Das Magazin „Der Spiegel“ hat Lipidnanopartikeln und mRNA-Therapien zur Hochzeit der Covid-19-Pandemie eine große Geschichte gewidmet. Darin ist sogar von einer „Wunderwaffe“ die Rede. Ganz so weit will Thomas Endres nicht gehen. Aber er ist überzeugt: Die rPEG-Technologie hat das Potenzial, zukünftige mRNA-Medikamente sicherer und besser zu machen.