Kunstleder boomt, aber seine Herstellung ist derzeit noch wenig nachhaltig. Forscher haben ein Additiv entwickelt, das umweltverträglichen Produktionsverfahren den Weg ebnet.
Selbst Fachleute können Kunstleder auf den ersten Blick kaum von echtem Leder unterscheiden: Optik, Struktur und Haptik kommen dem natürlichen Vorbild mittlerweile ziemlich nah. Kunstleder ist deshalb ein fester Begleiter im Alltag geworden. Es steckt in Sofas und Zahnarztstühlen, in Luxushandtaschen und Autositzen, in Schuhen und Kleidung. Und manchmal ist es sogar besser als das Original – wenn Oberflächen mechanisch stark beansprucht werden, UV-Licht oder Salzwasser ausgesetzt sind oder, wie im medizinischen Bereich, häufig desinfiziert werden müssen.
Hochwertiges Material statt billiges Imitat: Das Image von Kunstleder ist im Wandel. Dabei profi tiert es auch vom gestiegenen Umweltbewusstsein. Verarbeiter und Verbraucher legen zunehmend Wert auf eine Produktionsweise, die weder Mensch noch Umwelt schadet – eine Erwartung, die bei echtem Leder nur selten erfüllt wird. „Veganes“ Leder ist außerdem beliebt bei Käufern, die tierische Produkte generell ablehnen.
Das führt zu einem stetig wachsenden Verbrauch des Imitats: 2016 belief sich die Jahresproduktion weltweit auf rund 3,5 Millionen Tonnen. Mit dieser Menge ließe sich eine Fläche ausrollen, die etwa den Bundesländern Berlin, Hamburg und Saarland entspricht. Asien ist Kunstlederproduzent Nummer eins, 85 Prozent der Jahrestonnage stammen aus China.
Mehrschichtiges Komposit
Kunstleder ist ein mehrschichtiges Komposit-Material: Auf einem textilen Träger ist eine poröse Polymerschicht aufgetragen – eine Art Schaum, der Dichte, Haptik und Belastbarkeit des Materials bestimmt. Obenauf liegt ein hauchdünner Decklack, der für Farbe und Oberflächeneigenschaften verantwortlich ist. Bei rund zwei Dritteln der weltweiten Produktion, das sind etwa 2,4 Millionen Tonnen, besteht die poröse Schicht aus Polyurethan (PU). Gegenüber der Alternative PVC hat PU einen weicheren Griff, ermöglicht eine größere Bandbreite an Qualitäten, ist leichter, atmungsaktiver und besser wärmeregulierend. Für Evonik als Marktführer bei PU-Additiven ist der Kunstledermarkt damit ein attraktiver Sektor.
Über 95 Prozent der jährlichen Tonnage produziert die Industrie mithilfe der sogenannten DMF-Koagulation. Bei diesem Verfahren wird aus PU und dem organischen Lösungsmittel DMF (Dimethylformamid) eine häufig 30-prozentige PU-Paste hergestellt und auf den Textilträger aufgestrichen. Das beschichtete Textil gelangt in mehrere Bäder aus einer Wasser-DMF-Mischung, die das Lösungsmittel aus der Paste herauswaschen. Dabei flockt das PU aus – es koaguliert – und bildet eine poröse, feste Schicht. Anschließend wird das Material erneut gewaschen, um letzte DMF-Reste zu entfernen, getrocknet und mit einem Decklack versehen. 2014 wurden in China über 550.000 Tonnen DMF für die Herstellung des Lederimitats verbraucht, bis 2019 werden es schätzungsweise 660.000 Tonnen pro Jahr sein.
Technologieverschiebung eingeleitet
Für Mensch und Umwelt ist DMF allerdings keine gute Wahl. Nach der europäischen Chemikalienverordnung REACH gehört das Lösungsmittel zu den besonders besorgniserregenden Stoffen und gilt als fortpflanzungsgefährdend. Außerdem birgt DMF Risiken, da es in den Kunstlederfabriken oft unzureichend recycelt wird und in die Umwelt gelangen kann. Reste des Lösungsmittels bleiben zudem trotz mehrmaliger Wäsche im Endprodukt zurück. Auch verbraucht der Standardprozess große Mengen an Wasser und Energie.
Diese negativen Begleiterscheinungen haben eine Technologieverschiebung eingeleitet. Die chinesische Regierung will bis zum Jahr 2020 den DMF-Einsatz um 30 Prozent senken. Druck kommt auch von der kunstlederverarbeitenden Industrie, die immer häufiger DMF-freie Ware anfragt. Zudem setzen sich internationale Initiativen dafür ein, gefährliche Chemikalien aus Textilien zu verbannen oder die zulässigen Grenzwerte für DMF im fertigen Produkt weiter zu senken.
In dem Ausmaß, in dem nicht nur Hauptproduzent China den Einsatz an DMF zurückdrängt, öffnet sich Raum für umweltverträgliche, nicht toxische Alternativen. Insbesondere wasserbasierte Herstellungsprozesse, die bislang noch ein Nischendasein führen, könnten einen Aufschwung erleben. Prognosen zufolge könnten wasserbasierte Verfahren in den kommenden vier bis fünf Jahren mindestens 20 Prozent des Kunstledermarkts für sich gewinnen.
Umweltverträglichere Alternative
Aus Sicht von Evonik besonders interessant ist das PUD-Verfahren. Hierbei wird zunächst eine wässrige PU-Dispersion (PUD) mit einem Anteil von rund 50 Prozent Polymer-Mikropartikeln hergestellt. Die Dispersion wird aufgeschäumt und die Schaummasse bei Raumtemperatur auf den Träger aufgestrichen. Danach folgen Trocknung des Materials innerhalb weniger Minuten bei etwa 100 Grad Celsius, Decklack und Finishing.
Auf dem Markt spielt diese deutlich umweltverträglichere Alternative bislang aber nur eine untergeordnete Rolle. Einer der Gründe dafür ist die Unzulänglichkeit benötigter Prozessadditive – Tenside und Schaumstabilisatoren –, die zwar nur in kleinen Mengen im Produktionsprozess zugesetzt werden, aber maßgeblich die Qualität des Endprodukts bestimmen. Die derzeit genutzten Additive sind empfindlich gegenüber hartem Wasser, unverträglich mit bestimmten Vernetzungsmitteln und wandern an die Materialoberfläche, wo sie störende Flecken oder einen unangenehmen Schmierfilm bilden. Bislang eingesetzte Tenside führen außerdem oft zu recht groben Schaumstrukturen, und sie stabilisieren diesen Schaum während der Herstellung nur unzureichend.
Hier haben die Forscher von Evonik angesetzt, sie haben ein Additiv entwickelt, das keine dieser negativen Begleiterscheinungen zeigt, sondern sogar mit zusätzlichen Vorteilen punktet. „Es optimiert die Porenstruktur des Polymers, beschleunigt den Prozess, spart Energie und verleiht dem Kunstleder die gewünschte hohe Qualität“, erklärt Dr. Michael Klostermann, verantwortlich für die technische Produktentwicklung des neuen Additivs.
Feine, gleichmäßige Poren
Das neue Additiv, das als Ortegol® P 1 vermarktet wird, gehört zu den organischen, nicht-ionischen Tensiden, einer Produktgruppe, bei der Evonik umfangreiches Know-how besitzt. Sie werden unter anderem als hochwirksame Emulgatoren für Hautcremes und Lotionen eingesetzt. Emulgatoren haben ganz ähnliche Aufgaben wie Tenside: Sie verteilen und stabilisieren eine Phase in einer zweiten. Dabei entstehen große Oberflächen, die wesentlich über die Eigenschaften des Endprodukts entscheiden. Mit Ortegol® P 1 hat Evonik die Funktionsweise dieser Tenside nun auch für die Kunstlederherstellung nutzbar gemacht.
Das neue Additiv wird der PU-Dispersion vor dem Schäumen in Mengen von wenigen Prozent zugesetzt. Seine Aufgabe ist es, die aufgeschäumte Dispersion auf dem Träger so lange stabil zu halten, bis sie vollständig zu einem Schaum getrocknet ist – nur dann entstehen die feinen, gleichmäßigen Poren, die Kunstleder geschmeidig, weich und glatt machen. Gemeinsame Tests mit Kunstlederherstellern haben gezeigt, dass ORTEGOL® P 1 dieser Aufgabe gewachsen ist. Es stabilisiert sowohl die einzelnen Luftbläschen als auch die kontinuierliche Phase des wässrigen Schaums.
Energieverbrauch um 50 Prozent senken
„Das Additiv kann noch mehr: Es verbessert bei der Herstellung des Kunstleders deutlich Energie-, Rohstoff- und Emissionsbilanz“, sagt Dr. Kai-Oliver Feldmann, der für die Koordination zwischen Produktentwicklung und technischer Kundenbetreuung verantwortlich war. Verglichen mit der DMF-Koagulation sparen Produzenten rund die Hälfte an Energie, die Menge an Emissionen sinkt drastisch. Das neue Additiv basiert auf nachwachsenden Rohstoffen – ein weiterer Pluspunkt im Vergleich zu DMF.
ORTEGOL® P 1 wird seit Ende 2017 in Duisburg hergestellt und ist bei ersten Kunden in Deutschland und China bereits im Einsatz. P 1 ist dabei nur der Anfang; Evonik arbeitet derzeit an weiteren ORTEGOL®-P-Typen, mit denen Kunden Porengröße, Dichte sowie Fließverhalten des Schaums und damit die Performance ihres Kunstleders präzise einstellen können. Die ORTEGOL®-P-Familie soll so das gesamte Anwendungsspektrum im Kunstledermarkt abdecken.
Mit dem neuen Additiv betritt Evonik den Markt zu einer Zeit, in der die Kunstlederindustrie in Bewegung ist und nach Alternativen sucht. ORTEGOL® P 1 ist der erste erfolgreich getestete Kandidat einer Gruppe von Tensiden, die wasserbasierte Verfahren praktikabel und umweltverträglich machen. Evonik kommt damit den Vorstellungen sowohl der Hersteller als auch der Verbraucher entgegen: Sie legen Wert auf qualitativ hochwertiges Kunstleder und erwarten zugleich, dass durch die Herstellung weder Mensch noch Umwelt Schaden nehmen.
GLOSSAR
Dimethylformamid (DMF) ist ein organisches Lösungsmittel, das häufig bei Polymeren wie Polyurethan eingesetzt wird
DMF-Koagulation ist ein Prozess zur Beschichtung, bei dem eine Paste aus Polyurethanharz und DMF auf einen textilen Träger aufgetragen und das DMF dann in Bädern ausgewaschen wird. Das Polyurethan bleibt auf dem Textil und härtet dort aus
Polyurethane (PU) sind vielseitige Kunststoffe bzw. Kunstharze. Sie werden heute unter anderem zur Herstellung hochwertiger Kunstleder verwendet
PVC (Polyvinylchlorid) ist eines der wichtigsten Polymere für Kunststoffe. Seit den 1940er Jahren wird damit auch Kunstleder gefertigt