Mit COATINO™ unterstützt künftig erstmalig ein Sprachassistent die Lackindustrie. Der digitale Laborhelfer versteht die wissenschaftliche Fachsprache.
Sie heißen Siri oder Alexa, und in jedem fünften Haushalt in Amerika gehören sie mittlerweile zur Familie. Mit endloser Geduld nehmen sie jede Art von Sprachbefehl entgegen, und wenn alles klappt, spielen sie danach die gewünschte Musik, liefern die Wettervorhersage oder aktualisieren den Kalender. Digitale Sprachassistenten versprechen Hilfe im Alltag – und verbreiten sich rasant. 2016 waren sie nur in einem Prozent der US-Haushalte zu finden, zwei Jahre später haben sie bereits 20 Prozent erobert. In Deutschland sind sie immerhin in 13 Prozent aller Wohnungen zu Hause.
Das soll erst der Anfang sein, wenn es nach Dr. Gaetano Blanda geht. Er will digitale Sprachassistenten von einfachen Alltagshelfern zu Chemie-Experten fortbilden und sie künftig dort einsetzen, wo umfassendes Spezialwissen gefragt und Fachsprache erforderlich ist: im Labor.
Als Leiter des Geschäftsgebiets Coating Additives bei Evonik weiß Blanda, welche hohen Anforderungen an die neuen Laborassistenten gestellt werden: inhaltlich und sprachlich. Sein Team ist spezialisiert auf sogenannte Formulierungen für die Lackindustrie und die zugehörigen Additive. Um die Wünsche der Kunden an Farbe, Glanz und Widerstandsfähigkeit passgenau erfüllen zu können, müssen die Experten im Labor komplexe Mischungen kreieren und die passenden Additive zusetzen. Tausende Kombinationen sind möglich – mehr, als das menschliche Gehirn verarbeiten kann.
Entsprechend zeitaufwendig ist heute die Suche in Aufzeichnungen und Datenblättern am Schreibtisch. Nun also soll ein digitaler Assistent bei Recherche und Abstimmung der Zutaten unterstützen, direkt im Labor. Sein Name: COATINO™.
Die Idee zu COATINO™ entstand während eines Strategietreffens bei Coating Additives. „Wir haben über neue Wege der Geschäftsentwicklung gesprochen“, erinnert sich Dr. Oliver Kröhl, Leiter Strategische Geschäftsfeldentwicklung bei Coating Additives und zugleich Projektleiter. „Innovationen beschränken sich nicht mehr auf fertige Produkte oder Prozesse, es geht um Lösungskompetenz in Form neuer Dienstleistungen und Geschäftsmodelle.“ Die Forscher nahmen alltägliche Herausforderungen bei der Formulierung von Lacken und Farben in den Blick und kamen schnell auf eine digitale, sprachgesteuerte Formulierungshilfe. Das Team war begeistert. Aber ist es das, was die Experten im Labor wirklich brauchen?
Rennstrecke für Lacke
Ein wichtiger Datenpool für den digitalen Sprachassistenten der Lackindustrie ist die Hochdurchsatzanlage zur Testung von Lackrezepturen des Geschäftsgebiets Coating Additives. Die Anlage von dem Evonik-Standort Essen Goldschmidtstraße dosiert Rohstoffe, formuliert sie zu Lacken und charakterisiert die fertigen Beschichtungen. Das alles läuft vollautomatisch nach einem exakt definierten, jederzeit reproduzierbaren Programm ab. Innerhalb von 24 Stunden können so durchschnittlich 120 Proben auf der Anlage formuliert werden. Die Ergebnisse sind jederzeit abrufbar und reproduzierbar. Werden diese Daten mit COATINO™ verknüpft, bekommt der Kunde tagesaktuelle Daten zu einzelnen Lackformulierungen.
VON DER DOSE ZUM PROTOTYP
Um das herauszufinden, entschlossen sich die Wissenschaftler, einfach loszulegen: Sie lackierten eine leere Farbdose in den Unternehmensfarben, stellten sie ins Labor und filmten ein Gespräch zwischen einem Kollegen und der Dose. Der Nutzer fragt nach einem passenden Antischaummittel auf Wasserbasis für eine Holzlasur. Die Dose antwortet, leitet den Labormitarbeiter durch eine Auswahl von Produkten und bestellt ein Muster. „Damals stand eine Kollegin hinter einer Wand, um die Fragen zu beantworten“, erzählt Kröhl. „Das war zwar etwas behelfsmäßig, aber wir wollten unsere Idee greifbar mit Kunden testen und schnell Feedback einholen.“ Das Video wurde mit einigen Kunden geteilt, zudem wurden strukturierte Interviews durchgeführt. Das Interesse war hoch.
So bestätigt, legten die Entwickler los, auf bisher unbekanntem Terrain. „Wir sind Experten für Farben und Lacke, aber nicht für Sprachassistenten“, sagt Kröhl. „Daher wussten wir, dass das Projekt auch schiefgehen kann. Aber unsere Kunden und wir haben ein so großes Potenzial gesehen, dass wir das Risiko eingegangen sind.“ Ihr Ziel: einen Prototyp des Assistenten zu entwickeln, pünktlich zur European Coatings Show (ECS), der weltweit wichtigsten Messe für die Farb- und Lackindustrie.
Keine leichte Aufgabe, denn die herkömmlichen Spracherfassungsmodelle scheiterten bereits am Fachvokabular. „Die gängigen Assistenten verstehen unsere Sprache einfach nicht“, berichtet Kröhl. Fragt man sie etwa nach Dispergierung, Rheologie oder Silikonharzen, stoßen die Geräte schnell an ihre Grenzen und liefern bestenfalls allgemeine Informationen. „Um einen Lack zu formulieren, braucht es deutlich mehr“, sagt Kröhl. „Wer die Eigenschaften der Komponenten und deren Zusammenspiel nicht kennt, kann im Labor auch keine Hilfe sein.“
GEGEN SCHAUM, KRATZER UND NASEN
Farben, Lacke und andere Beschichtungen bestehen grundsätzlich aus vier Komponenten: Lösemitteln, Bindemitteln, Pigmenten und Additiven. Ein Lösemittel hält zum Beispiel eine Wandfarbe flüssig. Nach dem Streichen verdunstet das Lösemittel, und die Farbe trocknet. Für die gewünschte Tönung sorgen Pigmente. Damit die Farbe auf der Wand haften bleibt und zur Geltung kommt, werden Bindemittel verwendet. Dieser Zusatz ist farblos und verbindet die Farbe mit dem Untergrund. Den geringsten Prozentsatz der Formulierung machen Additive aus. Mit weniger als fünf Prozent spielen sie gleichwohl eine zentrale Rolle. Additive beseitigen Schaum beim Auftragen. Sie verhindern, dass Farbpigmente verklumpen. Sie bewirken, dass sich Lacke thixotrop verhalten, sich also gut applizieren lassen, beim Trocknen an senkrechten Flächen aber trotzdem keine Nasen bilden. Andere Additive erhöhen zum Beispiel die Kratzfestigkeit.
Je nach Zusammensetzung beeinflussen die Komponenten ihre Wirkung gegenseitig. Die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten ist dabei gigantisch: Werden bei der Entwicklung einer Lackrezeptur nur zehn Härter, zehn Bindemittel, zehn Pigmente und zehn Additive in Betracht gezogen, ergeben sich bereits 10.000 Kombinationsmöglichkeiten. Variationen im Mengenverhältnis sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. „Die Kunden haben sehr genaue Vorstellungen davon, was das Produkt am Ende können soll“, sagt Blanda. Um einen funktionierenden Sprachassistenten für die Lackindustrie zu entwickeln, begannen die Forscher zunächst, alle verfügbaren Informationen zu strukturieren und in eine riesige Datenbank einzuspeisen. Und dann, im zweiten Schritt, den Abruf dieser Informationen über eine Sprachfunktion möglich zu machen.
TRAINIEREN FÜR DEN WELTWEITEN EINSATZ
Wird der Assistent gefragt: „Welches Additiv eignet sich für eine Druckfarbe?“, ist es unabdingbar, dass er die einzelnen Wörter versteht. COATINO™ musste also zum Beispiel lernen, dass Additiv eine bestimmte Kategorie von Lackbestandteilen bezeichnet. Im nächsten Schritt muss der Assistent auf seinen Datenvorrat zugreifen, ihn durchsuchen, sinnvoll verknüpfen und einem möglichen relevanten Ergebnis zuordnen. Dazu wird die Lautfolge zunächst in ihre kleinsten Bestandteile zerlegt und die Daten nach charakteristischen Merkmalen durchsucht. Eine besondere Herausforderung: COATINO™ soll nicht nur ein Nomen in seiner Grundform erkennen, sondern auch in den gebeugten Formen. Zudem ist den Forschern wichtig, dass Dialekte oder Akzente das Ergebnis möglichst nicht beeinträchtigen. COATINO™ soll schließlich die Aussprache von Kunden weltweit verstehen. Hinzu kommen Unterschiede bei Sprechgeschwindigkeit, Stimmlage und Kontext. „Das Training kostet eine Menge Nerven“, sagt Kröhl. „Und wenn ein Probedurchlauf bei der Kollegin aus Schanghai endlich geklappt hat, lief es danach bei unserem Kollegen in Essen schief.“ COATINO™ wird seit knapp zwei Jahren gemeinsam mit einer externen Entwicklungsfirma aus Berlin entwickelt und trainiert – und bestand mit der Vorführung des Prototyps auf der ECS seine erste wichtige Reifeprüfung.
Und COATINO™ hat eine Menge zu sagen. Nach geeigneten Additiven gefragt, spuckt er nicht einfach eine Liste aus, sondern ordnet diese in einer Bestenliste. „COATINO™ kann angeben, welches Additiv für meine Formulierung und meine Anforderungen am besten passt, und dadurch qualifizierte Empfehlungen geben“, schwärmt Blanda. Wenn der Nutzer sein Wunschprodukt gefunden hat, kann er mittels Sprachbefehl eine Probe bestellen, das technische Datenblatt direkt per E-Mail abrufen oder sich einen Expertenkontakt für ein persönliches Gespräch vermitteln lassen. „Für uns bestehen kundenorientierte digitale Lösungen darin, dass Menschen mit Menschen effizienter über innovative Lösungen sprechen können“, so Kröhl.
NEUE FORMULIERUNGEN AUS DER DATENBANK
Pünktlich zum Start der European Coatings Show war der Prototyp von COATINO™ einsatzbereit. „Wir haben ihn gleich einer Auswahl unserer Kunden präsentiert“, sagt Blanda. Statt einer Dose konnten die Nutzer einem Tablet per Mikrofon ihre Wünsche mitteilen. „Das Feedback war noch besser als erhofft. Wir konnten einige Kunden direkt als Erstnutzer und damit zugleich als Tester gewinnen.“ Ihre Erfahrungen geben sie dann an Blanda und sein Team weiter. „Uns war wichtig, den Kunden früh einzubeziehen“, sagt der Lackexperte. „So ein Projekt kann nur funktionieren, wenn auch der Kunde einen Mehrwert darin sieht.“ 2020 wollen die Forscher COATINO™ dann für die gesamte Lackindustrie zugänglich machen.
Ein Abschluss der Entwicklung ist dabei nicht in Sicht. „Beim Einsatz von digitalen Assistenten kommen ständig neue Funktionen in Betracht“, sagt Kröhl. Denkbar wäre etwa, dass COATINO™ nicht nur bestehende Formulierungen ausgibt, sondern auch eigene Vorschläge für neue Mischungen macht. Diese könnten die Wissenschaftler im Labor direkt testen und für ihre Anwendung weiterentwickeln. „Eines fernen Tages könnte aus unserem COATINO™ tatsächlich mal ein künstlich-intelligentes Wesen werden“, prophezeit Blanda. „Aber das ist noch ein langer, langer Weg.“
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