Chemie ist umso nachhaltiger, je effizienter Reaktionen ablaufen. Jetzt ist Evonik-Forschern, gemeinsam mit Partnern vom Leibniz-Institut für Katalyse, ein Coup gelungen: Die wichtige Industriechemikalie Adipinsäure lässt sich auf direktem Weg herstellen. Dieser Durchbruch war sogar dem Fachmagazin Science einen Beitrag wert.
Es ist mehr als 60 Jahre her, dass Schalke 04 deutscher Fußballmeister wurde. 1958 war das. Da war Professor Dr. Robert Franke noch gar nicht geboren. Umso mehr träumt der Schalke-Fan in Diensten von Evonik davon, endlich eine deutsche Meisterschaft von Königsblau zu erleben. Aber auch als Forscher hat Franke Träume. Da sind zum Beispiel ein paar chemische Reaktionen, die bisher keinem Labor der Welt je gelungen sind. Einige davon sind so unrealistisch wie die baldige Meisterschaft des Zweitligisten und Schalke-Nachbarn VfL Bochum, andere immerhin denkbar – so wie ein Titelträger aus Gelsenkirchen.
Chemiker sprechen tatsächlich von „Traumreaktionen“. Bei einer davon gelang Franke gemeinsam mit Partnern vom Rostocker Leibniz-Institut für Katalyse (LIKAT) vor Kurzem ein Durchbruch. Und wenn man so will, ist der Traum von dieser Reaktion ähnlich alt wie der der Schalke-Fans von der Meisterschale: Die Literatur über entsprechende Arbeiten reicht zurück bis in die 1950er-Jahre.
Es geht um die direkte Umsetzung von Butadien zu Adipinsäure. Diese Dicarbonsäure ist ein wichtiger Ausgangsstoff für viele andere Produkte (siehe Kasten Seite 3), zum Beispiel Nylon. Weltweit werden pro Jahr einige Millionen Tonnen Adipinsäure produziert. Bislang erreichen die Hersteller ihr Ziel nur über chemische Umwege und aggressive Chemikalien wie Salpetersäure. Außerdem müssen sie sich mit dem Nebenprodukt Lachgas herumschlagen, das für das Klima pro Molekül rund 300-mal so schädlich ist wie Kohlendioxid. Adipinsäure in einem Schritt aus Butadien zu gewinnen wäre also deutlich nachhaltiger. Kein Wunder, dass der nun erzielte Erfolg sogar der renommierten Fachzeitschrift Science einen Beitrag wert war.
Wenn Chemiker die Gleichung zu dieser Reaktion aufschreiben, sieht das ziemlich simpel aus: An beide Enden des Butadienmoleküls wird jeweils eine sogenannte Carbonsäuregruppe (COOH) angehängt – fertig ist die Adipinsäure. Doch so einfach ist das in der Praxis nicht. Das beweisen die vielen Versuche, die in den zurückliegenden Jahrzehnten allenfalls zu Teilerfolgen führten. „Ein Problem sind die vielen möglichen Nebenreaktionen zu unerwünschten anderen Substanzen“, erklärt Franke. Ein weiteres Hindernis besteht darin, dass das Anhängen jeder COOH-Gruppe in zwei separaten Stufen verläuft, die bisher nur unabhängig voneinander gelangen. „Das erfordert umständliche Trenn- und Reinigungsschritte, die das Ganze vergleichsweise unwirtschaftlich machen“, so der Forscher.
Der nun erzielte Durchbruch gelang, wie so oft in der Chemie, dank eines geeigneten Katalysators. „Ohne die Kollegen vom LIKAT hätten wir das nicht geschafft“, sagt Franke ganz unumwunden. Der gemeinsame Erfolg ist nicht der erste in der 23 Jahre währenden Kooperation zwischen LIKAT und Evonik: Die Partner haben bereits acht gemeinsam entwickelte Verfahren in den Technikumsmaßstab übertragen und mehr als 140 Patente angemeldet. Seit vielen Jahren schicken sie zudem Personal für begrenzte Zeit ins jeweils andere „Lager“, um von der Kompetenz des Partners zu profitieren. „Eine sehr fruchtbare Kooperation“, findet Franke.
ZUFÄLLIGES NEBENPRODUKT
Dass der Industrieforscher sich für Adipinsäure interessiert, ist dabei ungewöhnlich. Schließlich spielt diese Chemikalie bei Evonik bislang keine Rolle. Franke bemüht für solche Exkurse gern das Wort „Serendipität“, will heißen: Die Entdeckung ist zwar bedeutsam, war aber gar nicht angestrebt. Ein zufälliges Nebenprodukt.
„Es ist manchmal gar nicht schlecht, sehr herausfordernde Ziele nicht direkt anzugehen, sie aber trotzdem immer im Hinterkopf zu behalten“, sagt Franke. Eine Traumreaktion wie die von Butadien zur Adipinsäure, die habe man als Industriechemiker eben immer im Kopf. Und irgendwann vor wenigen Jahren war dann die Stunde gekommen, sich daran zu erinnern und einen eigenen Versuch zu starten.
Grundlage dafür war ein Durchbruch rund um die Hydroformylierungsforschung, die Franke bei Evonik leitet. Hydroformylierung ist ein bewährtes Verfahren, bei dem man ungesättigte Kohlenwasserstoffe, sogenannte Olefine, mit Synthesegas, einer Mischung aus Kohlenmonoxid und Wasserstoff, reagieren lässt, um Carbonylgruppen (CO) in die Moleküle einzubauen. Im Chemiepark Marl, wo auch Robert Franke sein Büro hat, überführt Evonik auf diese Weise alljährlich mehrere Hunderttausend Tonnen petrochemische Rohstoffe in Zwischenprodukte.
Auch bei etablierten Prozessen lohnt es sich immer, Möglichkeiten zur Optimierung zu suchen. Geht es noch wirtschaftlicher, noch nachhaltiger? „Das sind Fragen, die mich antreiben“, sagt Franke. Unter anderem tüftelt er seit zehn Jahren an der Alkoxycarbonylierung, die die Hydroformylierung womöglich ersetzen könnte. Dabei bearbeitet man die Doppelbindungen der Olefine mit einer Mischung aus Kohlenmonoxid und einem Alkohol. Das Ergebnis sind Ester. Da viele Produkte aus Hydroformylierungen für die spätere Verwendung ohnehin in Ester überführt werden, wäre eine direkte Synthese elegant und nachhaltig zugleich.
„HEIRATSVERMITTLER“ GESUCHT
Vor allem die Suche nach dem passenden Katalysator stellte die Forscher vor Herausforderungen. Katalysatoren werden gern als „chemische Heiratsvermittler“ bezeichnet, da sie Moleküle zusammenbringen und dabei bestehende Energiebarrieren überwinden helfen. Häufig handelt es sich um komplexe Moleküle, die vielfältige Aufgaben erfüllen. So durchläuft etwa die geplante Alkoxycarbonylierung eines Olefins vier bis fünf Übergangszustände, wobei jeder Übergang vom Katalysator unterstützt werden muss. 2015 startete man daher eine weitere Kooperation mit den Spezialisten am LIKAT. Dessen Leiter, Professor Dr. Matthias Beller, sagte sofort zu: „Für uns ist es immer schön, wenn wir unsere akademische Forschung auf konkrete Beispiele aus der Industriepraxis anwenden können.“
Als Ausgangspunkt wählte sein Team einen industriell bereits etablierten, für die Evonik-Zwecke aber untauglichen Katalysator. Die LIKAT-Spezialisten veränderten Molekülgruppen so, dass vor allem die zweite Stufe der Reaktion, das Anlagern des Alkohols, schneller ablaufen kann. 2017 publizierte das Team um Franke und Beller den Durchbruch. Mit dem neuen Katalysator gelingt es nun, einfach ungesättigte Olefine in guter Ausbeute in Ester zu überführen. Evonik bereitet derzeit bereits erste Umstellungen auf das neue Verfahren in kommerziellem Maßstab vor.
Nach diesem Erfolg musste Robert Franke unwillkürlich wieder an seine Traumreaktion denken – Stichwort Serendipität. Würde der Katalysator vielleicht auch bei Butadien funktionieren? Dort geht es ja ebenfalls um eine Carbonylierung, wobei allerdings gleich zwei CO-Gruppen eingeführt werden müssen.
Und siehe da: Es funktionierte schon ganz gut. Allerdings entstanden zu viele störende Nebenprodukte. Diese unbefriedigende Selektivität wollten die Forscher verbessern und kombinierten daraufhin Molekülgruppen aus dem industriell etablierten System und ihrem bisherigen Kandidaten. Das brachte den Durchbruch. Science druckte das Ergebnis kurz vor Weihnachten 2019 – und fügte noch einen ganzseitigen Expertenkommentar hinzu, der die erzielte Selektivität und Produktausbeute als „herausragend“ hervorhob.
Einen kleinen Schönheitsfehler hat diese Reaktion allerdings noch. Sie führt zunächst „nur“ zu einem Adipinsäureester. Um zur Säure selbst zu gelangen, ist noch die Zugabe von Wasser nötig. Direkt in einem Rutsch gewönne man die Adipinsäure nur dann, wenn man die Reaktion statt mit einem Alkohol mit Wasser durchführen könnte. Das war zunächst schwierig. Inzwischen ist das Team dort aber ebenfalls weitergekommen. „Mit einem anderen Lösungsmittel geht auch das“, so Matthias Beller zu dem – bisher noch nicht publizierten – Anschlusserfolg.
Für die industrielle Praxis reicht dieses Ergebnis allerdings noch nicht aus. „Die Synthese des Katalysators ist sehr kompliziert und überdies unwirtschaftlich“, so Franke. Außerdem zersetzen sich Teile des komplexen Moleküls während des Prozesses. Derzeit ist Matthias Bellers Team in Rostock dabei, einen ähnlich guten, aber leichter herstellbaren und stabileren Katalysator zu entwerfen.
AUS DEM LABOR IN DIE GROSSTECHNIK
Parallel zur Weiterentwicklung des Katalysators arbeitet Frankes Evonik-Team bereits an der Überführung der Reaktion in den technischen Maßstab. Bisher fanden die Tests im Labormaßstab statt, mit Substanzmengen von wenigen Hundert Gramm. Die nächste Stufe in einer sogenannten Miniplant solle zeigen, ob der Prozess in einem solchen Reaktor dauerhaft stabil funktioniert, so Franke.
Irgendwann wird sich Evonik dann auch entscheiden, ob man selbst Adipinsäure produziert oder das Verfahren anderweitig vermarktet. Den wichtigsten Rohstoff, Butadien, hätte man aus dem unternehmenseigenen C4-Chemie-Produktionsverbund direkt am Standort Marl. Der Verbund basiert auf dem sogenannten C4-Schnitt aus Erdölcrackern, womit Kohlenwasserstoffe mit vier Kohlenstoffatomen gemeint sind. Butadien ist einer davon.
Egal wer das Verfahren eines Tages nutzt, es würde die Adipinsäureproduktion einfacher und vor allem auch nachhaltiger machen. „Unschöne Chemie“ (Franke) wird vermieden, und sämtliche Ausgangssubstanzen finden sich vollständig im Produkt wieder. Es entsteht keinerlei Abfall. Künftig könnte man auch einige der Ausgangsstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen erzeugen, zum Beispiel das Synthesegas, aus dem Kohlenmonoxid für die Adipinsäureherstellung abgetrennt wird. Immerhin zwei der insgesamt sechs Kohlenstoffatome im Endprodukt ließen sich laut Franke somit „grün“ erzeugen.
Die Traumreaktion ist also schon fast wahr geworden. Und sollte aus dem Laborerfolg ein großtechnischer Prozess werden, der das herkömmliche Verfahren zur Herstellung von Adipinsäure ablöst, wäre das eine große Sache. Auch für Robert Franke. Da würde er es sogar verschmerzen, wenn die nächste Meisterfeier auf Schalke doch noch etwas auf sich warten ließe.
Eine Säure für viele Fälle
Für die chemische Industrie ist Adipinsäure ein wichtiges Zwischenprodukt. Jährlich werden einige Millionen Tonnen davon produziert. Der mit Abstand größte Teil geht in die Herstellung von Polyamid 6.6 (Nylon), aus dem man Fasern für leichte, reiß- und abriebfeste Textilgewebe, aber auch Saiten für Zupfinstrumente oder Tennisschlägerbespannungen sowie verschleißfeste Bauteile wie Zahnräder fertigt. Darüber hinaus ist Adipinsäure ein Rohstoff für bestimmte Polyurethane, die sich etwa in Skischuhen, Sportschuhsohlen, Golfbällen, Schaumstoffen, Lacken und Klebstoffen finden. Aus Adipinsäure gewinnt man außerdem Weichmacher für Kabel, Schläuche, Folien und Lebensmittelverpackungen aus PVC, Zusätze, um Farben und Lacke kältestabil zu machen, sowie Komponenten für Schmierstoffe. Adipinsäure selbst ist auch als Säuerungsmittel für Lebensmittel zugelassen (E355). Der Name geht zurück auf das lateinische Wort adipes (tierische Fette). Früher gewann man Adipinsäure durch Oxidation von Fett, später ersetzten erdölbasierte Rohstoffe das natürliche Ausgangsmaterial. Die entsprechende Synthese erfolgt bislang in mehreren Stufen. Mit der jetzt realisierten Reaktion gelang es mittels eines eigens entwickelten Katalysators erstmals, die Adipinsäure direkt aus Butadien zu gewinnen. Dabei werden in einem Prozessschritt mittels Kohlenmonoxid und Wasser zwei Carbonsäuregruppen an das Butadienmolekül gehängt.