Bislang konnten katalytische Membranreaktoren ihre Leistungen nur im Labor zeigen. Jetzt beweisen sie sich auch auf größeren Bühnen.
Manchmal beginnen selbst dramatische Veränderungen ganz klein. Dr. Linda Arsenjuk streift sich im Evonik-Technikum am Standort Marl blaue Gummihandschuhe über. Vorsichtig schiebt sie ein graues Keramikröhrchen in einen unterarmlangen Metallzylinder. Sieben der runden Elemente passen in die Metallfassung, jedes hat auf der Stirnseite 30 hochsymmetrisch angeordnete Löcher. „Auf die empfindliche Membran an der Außenseite der Reaktoren darf kein Fett gelangen“, sagt die Chemieingenieurin, „daher geht das nur mit Handschuhen.“
Was sie so sorgsam behandelt, könnte gleich für mehrere wichtige Reaktionen in der Chemiebranche eine Revolution in der Prozesstechnik bedeuten. „Es geht darum, sogenannte katalytische Membranreaktoren, kurz CMR, für den industriellen Einsatz zu entwickeln“, erklärt Arsenjuk. Im Labormaßstab haben die Wissenschaftler bereits gezeigt, dass solche CMR grundsätzlich funktionieren. Jetzt geht es darum, letzte technische Hindernisse auf dem Weg zu größeren Maßstäben zu überwinden und die Wirtschaftlichkeit des Ansatzes in der Industriepraxis zu untersuchen.
An das Prinzip knüpfen die Experten gleich zwei Hoffnungen. Zum einen ist der für die Reaktion benötigte Katalysator in den Membranreaktoren so eingearbeitet, dass er im Vergleich mit herkömmlichen Verfahren deutlich stabiler ist. Zum anderen soll die integrierte Membran das entstehende Produkt direkt von anderen Komponenten trennen. Das würde bisher übliche, energieaufwendige Trennverfahren im besten Fall ersetzen. Je nach Prozess erhoffen sich die Forscher daher Energieeffizienzsteigerungen von bis zu 70 Prozent und, damit einhergehend, auch eine deutliche Reduktion von Treibhausgasemissionen.
Seiner Bedeutung angemessen trägt das Gesamtprojekt einen großen Namen: MACBETH. Das Kurzwort steht für „Membranes And Catalysts Beyond Economic and Technological Hurdles“. Dass Projektkoordinator Professor Robert Franke begeisterter Fan des englischen Dramatikers William Shakespeare ist, mag dabei auch eine Rolle gespielt haben. Üblicherweise reist Franke Jahr für Jahr an Shakespeares Geburtsort Stratford-upon-Avon, um dort die Theaterfestspiele zu genießen. Nun nutzt er die coronabedingte Absage der Aufführungen, um seinen eigenen Macbeth voranzubringen.
VORPRODUKT FÜR VIELE ANWENDUNGEN
Das Projekt umfasst vier Teilprojekte zu unterschiedlichen chemischen Prozessen. Eines davon findet im Chemiepark Marl statt und betrifft die wichtige Hydroformylierung, auch bekannt als Oxosynthese. So nennen es Chemiker, wenn sie ungesättigte Kohlenwasserstoffe, sogenannte Olefine, mit Synthesegas, einem Gemisch aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid, zu Aldehyden reagieren lassen.
Weltweit erzeugt die chemische Industrie auf diese Art jährlich zwölf Millionen Tonnen Aldehyde. Bei Evonik in Marl sind diese in der Regel Zwischenprodukte auf dem Weg zu höheren Alkoholen, organischen Säuren oder Estern, die etwa als Lösungsmittel bei der Kosmetik- und Waschmittelherstellung, in der Produktion von Medikamenten oder als Weichmacher in Kunststoffen Verwendung finden.
Franke beschäftigt sich schon seit gut zehn Jahren mit dem Ansatz, der nun in MACBETH seine Industrietauglichkeit beweisen soll. Dass die Sache prinzipiell funktioniert, hat bereits das von 2015 bis 2019 durchgeführte Vorgängerprojekt ROMEO gezeigt. Die Abkürzung steht für „Reactor Optimisation by Membrane Enhanced Operation“, und natürlich gefiel dem Shakespeare-Freund auch diese Namensgebung gut.
ROMEO lebt – die Vorgeschichte der Feststoffkatalysator-Entwicklung
In Hydroformylierungsprozessen ist der Katalysator üblicherweise in der Reaktorflüssigkeit gelöst. Diese sogenannte homogene Katalyse ist sehr effizient, hat aber auch Nachteile. „Der Katalysator vermischt sich mit dem Produkt und muss dann mühsam abgetrennt werden“, erklärt Professor Robert Franke, Leiter der Hydroformylierungsforschung bei Evonik. Außerdem zersetzt der Katalysator sich mit der Zeit und muss aufbereitet werden. Mit einem Feststoffkatalysator vermeidet man eine Vermischung – allerdings ist die Ausbeute meist viel geringer, weil Reaktionspartner und Katalysator nicht so innig miteinander in Kontakt kommen. Im Projekt ROMEO suchten die Forscher nach einem Ausweg aus dem Dilemma. Ihre Idee: Hochporöse Materialien haben eine große Oberfläche. Was, wenn man diese Porenfläche mit dem Katalysator beschichtet, etwa in Form eines zähen Films? Franke las von Forschern aus Dänemark und Erlangen, die Katalysatoren in ionischen Flüssigkeiten lösten und damit die Poren auskleideten. Ionische Flüssigkeiten sind Salze, die schon bei Temperaturen um 100 Grad Celsius flüssig sind. Die entsprechenden Experten waren im ROMEOProjekt mit im Boot. Ebenso wie die dänische Firma Liqtech mit ihren hochporösen Keramikröhrchen. Die Außenwand der Röhrchen wurde zudem mit einer Membran beschichtet, die nur das Reaktionsprodukt der Hydroformylierung passieren lässt. Das ist nicht trivial. Bei der Hydroformylierung etwa sind die entstehenden Aldehyd-Moleküle größer als die Ausgangsstoffe, die in geringen Mengen im Gasstrom bleiben. Im ROMEOProjekt wurde als passendes Material für die Membran ein Siloxan Polymer gefunden, das die Ausgangsstoffe zurückhält, während sich die Aldehyd-Moleküle im Polymer lösen. Einmal in der Membran gelöst, wandern die Moleküle bis zur Außenseite, wo sie wieder frei werden und abgeleitet werden können.
STATT KESSEL UND KOLONNEN
„Jetzt wollen wir im realen Produktionsumfeld unter anderem testen, ob das System auch mit dem industriellen Feed in unserem Oxo-Betrieb funktioniert, also mit den dort üblichen Gasgemischen“, sagt Franke. Bei ROMEO sei noch mit hochreinen Ausgangsgasen gearbeitet worden, während etwa die im Oxo-Betrieb verwendeten Olefine Teile von Gasgemischen sind, die direkt aus dem Erdölcracker kommen. Außerdem interessiert ihn, ob das Verfahren auch für größere Produktionsmengen geeignet ist und dauerhaft stabil arbeitet.
Derzeit arbeiten die Forscher an der Hydroformylierung des Olefins 1-Buten, bei der das Aldehydn-Pentanal entsteht. Diese Reaktion soll nun exemplarisch in den größeren Maßstab übertragen werden. Im Technikum zeigt Ingenieurin Arsenjuk, wie weit sie schon gekommen sind, an einem Versuchsaufbau im Abzug. Dort wurde ein Edelstahlzylinder dick in isolierende Alufolie eingewickelt und dann senkrecht eingespannt. „Darin sind unsere Röhrchen“, erklärt Arsenjuk, „und in die leiten wir von oben das Reaktionsgemisch, also Buten und Synthesegas.“ Im Innern der Röhrchen befindet sich der Katalysator, der die Komponenten reagieren lässt. Das entstandene n-Pentanal kann durch die Außenwand entlang der Längsseite austreten und dann per Anschluss aus dem Edelstahlzylinder abgeführt und bei ausreichender Reinheit direkt weiterverarbeitet werden (siehe Grafik).
Die eigentlichen grauen Reaktorröhrchen sind gerade mal zweieinhalb Zentimeter dünn und 20 Zentimeter lang. Für Robert Franke bedeutet dies jedoch keinen Nachteil, sondern – im Gegenteil – einen „besonderen Charme“: „Die geringen Ausmaße erlauben uns eine modulare Bauweise, mit der wir den Prozess beliebig skalieren können.“ Will man größere Mengen produzieren, muss man nur genügend Röhrchen zusammenschalten.
Die möglichen Dimensionen zeigen sich etwa 800 Meter vom Technikum entfernt. Dort, im Herzen des sechs Quadratkilometer großen Chemieparks Marl, steht die sogenannte Oxo-Anlage. Derzeit erfolgt hier die Hydroformylierung in Kesseln, die meterhoch sind und viele Zehntausend Liter fassen. Noch höher sind die für die anschließende Produktabtrennung benötigten Destillationskolonnen – ein Aufbau, der dank der neuen Reaktorengeneration größtenteils überflüssig werden könnte.
Wie gut die Trennung funktioniert und wie rein das Aldehyd danach wirklich ist, soll sich hier zeigen. Für die geplante Demonstrationsanlage steht bereits eine kleine Freifläche bereit, die Zugangsstellen in die riesige bestehende Anlage sind geklärt. Doch ehe dort das neue Reaktorsystem errichtet wird, müssen im Technikum einige Fragen geklärt werden. „Wir tüfteln noch am endgültigen Design“, erklärt Linda Arsenjuk. Dabei werden auch einige Neuerungen gegenüber dem ROMEO-Reaktor untersucht. Zum Beispiel ein weiteres Membranmaterial, das ein Projektpartner, das Helmholtz-Zentrum Hereon, vorgeschlagen hat. Für die Beschichtung der Poren im Reaktor gibt es inzwischen eine vielversprechende Alternative zur bisher verwendeten ionischen Flüssigkeit. Und es laufen Tests mit einer längeren Version der Keramikröhrchen des dänischen Partners Liqtech.
SIMULATION DER STOFFSTRÖME
Für die spätere Prozesspraxis gilt es zudem, die optimalen Einstellungen für Temperatur, Druck und Durchflussgeschwindigkeit zu ermitteln. Dabei geht es nicht nur um die bestmögliche Produktausbeute, sondern auch darum, störende Nebenreaktionen zu unterbinden. „Ein potenzielles Problem besteht immer darin, dass Pentanalmoleküle miteinander zu größeren Einheiten reagieren, die dann kondensieren und die Poren wie Honig verkleben“, erklärt Dr. Corina Nentwich, ebenfalls Chemieingenieurin im Bereich Verfahrenstechnik. Sie ist im MACBETH-Team für die Prozesssimulierung zuständig und muss das Geschehen im neuen Reaktor möglichst detailgetreu in die entsprechende Software integrieren.
Am Ende soll die exakte numerische Beschreibung helfen, bestimmte Szenarien theoretisch durchzuspielen und den Reaktor optimal zu planen.
Die Modelliererin nimmt zudem eine übergeordnete Perspektive ein und prüft, wie sich der Membranreaktor auf die Stoffbilanzen am Standort Marl auswirkt. „Die Reaktion von Buten zu Pentanal findet im Chemiepark ja nicht isoliert statt“, erklärt Nentwich. Vielmehr ist der Prozess in ein ganzes Netzwerk chemischer Reaktionspfade und Stoffströme eingebunden, die sich gegenseitig beeinflussen.“ Konkret: Sollte sich etwa zeigen, dass der neue Reaktor aus einer bestimmten Menge Buten mehr oder weniger Pentanal macht als das herkömmliche Verfahren, hätte das Folgen für andere Synthesestränge, weil dann dort zum Beispiel mehr Buten zur Verfügung stünde. Die Verfahrenstechnikerin arbeitet derzeit daran, auch solche Zusammenhänge abzubilden.
Trotz der erschwerten Bedingungen durch die Corona pandemie sollen die Versuche an der Demonstrationsanlage möglichst schon 2022 starten.
Sollte sich der neuartige Membranreaktor in der Praxis etablieren, wäre es für Arsenjuk und Nentwich schon am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn ein echtes Highlight. „Ein völlig neuer Reaktortyp wird nicht alle Tage entwickelt, und wenn man dabei ist, ist das schon toll“, schwärmt Linda Arsenjuk.
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ZWEI DRITTEL WENIGER TREIBHAUSGASE
Ein Erfolg sind auch die kalkulierten Auswirkungen auf die Nachhaltigkeitsbilanz. „Wir haben das neue Verfahren dazu mit einem gut untersuchten herkömmlichen Prozess im Rahmen einer Lebenszyklusanalyse verglichen“, sagt Corina Nentwich, nämlich inklusive der Weiterverarbeitung von Pentanal zu 2-Propylheptanol (2-PH). „Dabei zeigte sich, dass der neue Reaktor die gesamten Treibhausgasemissionen der 2-PH-Produktion um fast 70 Prozent reduzieren kann“, so Nentwich. In diese Kalkulation sei der Einfluss der Membran noch gar nicht einbezogen, erklärt die Chemieingenieurin. Sollte MACBETH zeigen, dass die Aldehyd-Aufreinigung mit der Membran so gut gelingt, dass die energieintensiven Destillationsschritte entfallen können, wäre der Effekt also noch größer.
Egal ob es um die Membran oder um die Katalysatorbeschichtung geht – bei vielen Details steuern die jeweiligen Projektpartner wichtige Expertise bei. „Allein könnten wir so etwas gar nicht schaffen“, betont Robert Franke. Das gelte auch für den finanziellen Rahmen. Die EU fördert MACBETH mit 16,6 Millionen €. Franke spricht von einer tollen Unterstützung, auch vor dem Hintergrund, dass ein gewisses Risiko dabei ist. „Wir wissen ja nicht genau, ob am Ende in der Praxis wirklich alles so klappt, wie wir uns das vorstellen, und ob sich daraus wirklich schon ein neuer Prozess ableitet“, so Franke.
Im Shakespeare-Drama „Macbeth“ sagen drei Hexen der Titelfigur die Zukunft voraus. Auf solche Künste kann Robert Franke nicht zurückgreifen. Aber bis Oktober 2024 wird auch er mit seinem Team wissen, ob sich katalytische Membranreaktoren für die kommerzielle Hydroformylierung eignen. So lange nämlich läuft MACBETH. Um die verbleibende Zeit bestmöglich zu nutzen, gibt Franke ein Motto aus dem vierten Akt der Shakespeare-Vorlage vor: „Cut short all intermission“, verlangt dort der Macbeth-Gegenspieler Macduff: Unterlasst alle Unterbrechungen!
Das MACBETH-Projekt
Die Hydroformylierung ist eines von vier Einsatzgebieten, in denen MACBETH die katalytischen Membranreaktoren beforscht. In den anderen Projektsträngen arbeiten weitere Projektpartner daran, das Verfahren für die Wasserstoffgewinnung aus Biogas, die Isolierung reiner Fettsäuren aus Pflanzenölen sowie die Propandehydrierung zu Propen zu nutzen. In allen Fällen geht es um die Kombination geeigneter Katalysatoren mit Membranen zur jeweiligen Abtrennung der gewünschten Produkte. Katalysatoren, Membranmaterialien und auch die Reaktorbedingungen sind sehr unterschiedlich, doch alle Verfahren würden bei ihrem Gelingen helfen, viel Energie zu sparen und Treibhausgasemissionen zu vermeiden. Insgesamt arbeiten 24 Partner aus zehn Ländern von 2019 bis 2024 in vier Teilprojekten an acht Arbeitspaketen und werden von der EU mit 16,6 Millionen € gefördert. Die Gesamtkoordination von MACBETH liegt bei Evonik.
Das Projekt wird mit Mitteln des Forschungs und Innovationsprogramms „Horizon 2020“ der Europäischen Union gefördert im Rahmen der Fördervereinbarung Nr. 869896.