Eine neue Technologie soll bei der Transformation des Energiesektors helfen und zum Aufbau einer Kreislaufwirtschaft beitragen. Das Evonik-Verfahren reduziert Abfall und Treibhausgasemissionen durch die Verjüngung ausgedienter Katalysatoren in Ölraffinerien. Als Nächstes könnte der Einsatz bei Biokraftstoffen folgen.
Little Rock war schon einmal Schauplatz einer historischen Transformation. Ende der 1950er-Jahre kam es in der Hauptstadt des US-Bundesstaats Arkansas zu einem Schlüsselmoment in der Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Die Little Rock Central High School zählte zu den ersten Schulen, an denen die Rassentrennung aufgehoben werden sollte. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass eine getrennte Unterrichtung schwarzer und weißer Kinder an öffentlichen Schulen gegen die Verfassung verstoße. Neun afroamerikanische Schülerinnen und Schüler standen im September 1957 einem rassistischen weißen Mob und der Nationalgarde von Arkansas gegenüber, die die Eingänge der bis dahin ausschließlich von weißen Jugendlichen besuchten Schule blockierten. Schließlich entsandte Präsident Eisenhower Bundestruppen zum Schutz der Schülerinnen und Schüler. Heute ist die Oberschule ein National Historic Site, eine historische Gedenkstätte, an der ein Museum an die damaligen Auseinandersetzungen erinnert. Zu Ehren der „Little Rock Nine“ gibt es zudem am Arkansas State Capitol, dem Sitz der Regierung des Bundesstaats, eine Bronzeskulptur mit Gedenktafel.
Gerade mal 15 Autominuten von diesem Wahrzeichen im Stadtzentrum von Little Rock entfernt, in einem einstöckigen ehemaligen Lagerhaus mit weißer Fassadenverkleidung und Evonik-Logo in Deep Purple, arbeitet ein Team aus Chemieingenieuren an einer weiteren historischen Transformation. Es ist ein Vorhaben, mit dem wir eine der größten Herausforderungen unserer Zeit bewältigen könnten: den Klimawandel. Das Team hat ein Verfahren entwickelt, das bei der Energiewende helfen könnte, indem es Treibhausgasemissionen senkt und den Weg für eine Kreislaufwirtschaft freimacht.
Bei dieser neuesten Transformation dienen als Katalysatoren chemische Hilfsmittel, die in Raffinerien verwendet werden, um in einem als Hydrotreating bezeichneten Prozess Schwefel oder Stickstoff aus Rohölprodukten wie Naphtha, Benzin oder Diesel zu entfernen. Eines Tages könnte diese Technologie auch auf breiter Basis bei biobasierten Rohstoffen wie Pflanzenöl angewendet werden.
„Alles dreht sich um die Energiewende“, sagt Jim Seamans, Leiter RD&I für den Geschäftsbereich Catalysts von Evonik in Nord- und Südamerika. Diesen Eindruck hat er kürzlich auf der AFPM-Jahrestagung gewonnen, der größten Branchenkonferenz amerikanischer Hersteller von Kraftstoffen und petrochemischen Erzeugnissen. „Früher interessierten sich die Konferenzteilnehmer vor allem für Sicherheitsaspekte und neue Entschwefelungsverfahren. Heute geht es um die Frage, wie wir eine auf fossilen Brennstoffen basierende Industrie so umbauen können, dass mehr erneuerbare Rohstoffe zum Einsatz kommen, denn die Öffentlichkeit erwartet, dass wir den Klimawandel eindämmen.“
Seamans spielt eine entscheidende Rolle bei dieser Wende. Zusammen mit seinem in Deutschland tätigen Kollegen Guillaume Vincent, Evonik-Geschäftssegmentsleiter für Hydroprocessing-Katalysatoren (HPC) und -Services, hat er eine innovative Technologie erfunden, die zahlreiche unterschiedliche Katalysatortypen am Ende ihrer Nutzungszeit „verjüngen“ kann. Nach ihrer „Verjüngungskur“ sind diese Katalysatoren neuwertig, manchmal sogar leistungsfähiger als im Ursprungszustand.
WERTVOLLE METALLE REAKTIVIEREN
Seamans und Vincent haben das Verfahren bei Porocel entwickelt, einem amerikanischen Katalysatorspezialisten, den Evonik im November 2020 für 210 Millionen $ übernommen hat, um ihr Katalysatorgeschäft auszubauen. Die Excel-Rejuvenation-Technologie macht bisherige Recyclingprozesse zur Rückgewinnung der wertvollen Metalle in den Katalysatoren überflüssig. Dadurch werden die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Abfall und Treibhausgasemissionen erheblich reduziert. Das Verfahren – eine Art Jungbrunnen für verbrauchte Katalysatoren – könnte im Zuge der nachhaltigen Transformation der Energiewirtschaft auf große Nachfrage stoßen.
Seamans gehört zu einer Gruppe erfahrener ehemaliger Porocel-Mitarbeiter, die jetzt für Evonik arbeiten. Der Chemieingenieur mit MBA-Abschluss war früher für den Energieriesen Shell tätig und hat bereits damals Verjüngungstechnologien für das Katalysatorgeschäft mitentwickelt.
Das Konzept ist im Prinzip nicht neu. Mitbewerber wie Albemarle, einer der weltweit größten Hersteller von Hydroprocessing-Katalysatoren, verjüngen ihre Produkte schon seit Jahren. Die Technologie von Evonik sticht jedoch heraus, weil sie bei zahlreichen Katalysatoren unterschiedlicher Hersteller angewandt werden kann. „Wir hatten die Idee, eine vollkommen eigenständige Verjüngungstechnologie zu entwickeln“, sagt Vincent. Den Anstoß dazu gab der Bedarf von Kunden weltweit. Porocel wurde 1937 als Joint Venture von Atlantic Richfield und Standard Oil of New Jersey gegründet und kann an den Produktionsstandorten in Singapur, Luxemburg und Kanada sowie in Lafayette (US-Bundesstaat Louisiana) Katalysatoren verjüngen. „Eine Präsenz auf mehreren Kontinenten ist sinnvoll, denn wir arbeiten mit Raffinerien aus der jeweiligen Region. Und verbrauchte Katalysatoren kann man nicht einfach mal eben so um die Welt transportieren“, sagt Seamans.
BUNTE MISCHUNG
Das ehemalige Lagerhaus am Stadtrand von Little Rock ist das Herzstück des Geschäfts. Dort sind die Pilotanlage und das Testzentrum für die Verjüngung von Katalysatoren untergebracht. Die Begeisterung, Teil einer größeren Veränderung zu sein, ist überall spürbar. „Es ist ein gutes Gefühl, etwas bewegen zu können“, sagt der Chemieingenieur Andrew Kincannon, der das Technikum in Little Rock leitet.
Beim Rundgang durch die Labore weisen Seamans und Kincannon auf Messbecher und Vorratsbehälter hin, deren Inhalt an Steinchen oder Perlen aus dem Bastelladen erinnert: blaue, weiße, grüne, schwarze und beige Katalysatoren, manche länger, manche kürzer. Die verschiedenen Farben werden von einem Mix „aktiver“ Metalle wie Molybdän, Wolfram, Nickel oder Kobalt hervorgerufen. Die Metalle befinden sich auf einem hochporösen Aluminiumoxidträger, der an einen trockenen Schwamm erinnert. Diese Struktur dient dazu, seine Oberfläche zu vergrößern.
In einem röhrenartigen Reaktor werden die Partikel auf einer weißlichen keramischen Aluminiumoxidbasis aufgeschichtet. In der Branche bezeichnet man diesen Reaktortyp als Festbettreaktor, weil die Katalysatorpartikel fixiert sind. Oben auf diesem aufgeschichteten Partikelturm befinden sich andere perlenartige Objekte in dreiflügeliger Form oder als Hohlzylinder. Ihre Rolle besteht darin, während des Raffinerieprozesses Verunreinigungen zu entfernen, etwa in Kokernaphtha vorkommendes Silizium oder Arsen, das manchmal im Rohöl enthalten ist. Die Rohölprodukte fließen schließlich durch den Rohrreaktor, und die Katalysatoren entfernen Schwefel und Stickstoff.
(Fast) so gut wie neu
Wie das Verjüngungsverfahren Katalysatoren ein zweites Leben schenkt
Nach einer Weile verliert der Katalysator aber seine Wirkung. Schwefel und kohlenstoffreicher Petrolkoks sammeln sich an den Metallen und verstopfen die Poren. Zudem verändert sich die Verteilung der katalytisch aktiven Substanzen. „Im Katalysator beginnt eine Agglomeration der Metallpartikel“, sagt Kincannon. „Die schwefelhaltigen Bestandteile des Rohöls können nicht mehr zu diesen aktiven Zentren gelangen.“
WIE VON ZAUBERHAND
Ein Raffineriebetreiber hat dann zwei Möglichkeiten. Er kann den verbrauchten Katalysator durch einen frischen ersetzen. Oder er kann sich für eine Verjüngung entscheiden und bis zu 70 Prozent der Kosten sparen. Bei einer Raffinerie, die eine halbe Million $ für einen Katalysator ausgibt, bedeutet das eine Ersparnis von 350.000 $. Die Excel-Verjüngung erfolgt in einem zweistufigen Verfahren. In einem ersten Schritt, der sogenannten Regenerierung, werden Schwefel- und Kohlenstoffablagerungen schonend verbrannt. Doch mit dieser bewährten Methode lassen sich nur rund 65 bis 85 Prozent der ursprünglichen Leistung des Katalysators wiederherstellen. „Man erreicht auf diese Weise nicht die volle Aktivität, weil die Agglomeration nicht aufgelöst werden kann und die Metalle daher nicht neu verteilt werden“, erklärt Kincannon.
Der zweite Schritt ist die eigentliche Verjüngung, die die Leistung des Katalysators fast vollständig wiederherstellt. Und das geht so: Evonik gibt patentgeschützte Hilfsstoffe in die regenerierten Katalysatoren. Dadurch sollen sich die Metalle wieder neu verteilen, also an die richtigen Stellen gelangen. Der „magische Moment“, wie es das Team in Little Rock nennt, findet in der Imprägniertrommel statt, einem runden Stahlbehälter, der wie eine überdimensionale Weinkaraffe aussieht. Die Metalle werden in einer wässrigen sauren Flüssigkeit gelöst, die auf den Träger aus Aluminiumoxid gesprüht und in seinen Poren absorbiert wird. Schließlich wird eine dünne Schicht aufbereiteter Katalysatoren zum Trocknen auf ein Edelstahlband aufgebracht. „Das ist ein bisschen wie in einem Pizzaofen“, sagt Seamans. Bei diesem Prozess werden die Metalle neu verteilt. Dabei wird der ursprüngliche Zustand fast wiederhergestellt.
Je nach Verteilung haben verjüngte Katalysatoren sogar eine höhere Leistungsfähigkeit als neue. Verjüngte Katalysatorpartikel sind meist auch etwas kürzer. „Wenn man sie in den Reaktor gibt, vergrößert sich somit das Katalysatorvolumen etwas“, erklärt Seamans.
Im Raffineriebetrieb können die mit Katalysatoren befüllten Reaktoren mehrere Stockwerke hoch sein. Im Testlabor von Evonik in Little Rock spielt sich alles in einem viel kleineren Maßstab ab. Kincannon und sein Team betreiben acht etwa 2,40 Meter hohe Reaktorskids – eine Raffinerie im Miniaturformat. Glasbehälter mit dunkelbraunem Rohöl stehen auf dem Fußboden, auf einem Schrank befinden sich ein Plastikkanister mit hellgelbem Winterdiesel und kleine Flaschen mit einer klaren Flüssigkeit, die mit einem schwarzen Filzstift nummeriert wurden. Ähnliche Flaschen befinden sich ganz unten in den Minireaktoren. Sie fangen den entschwefelten, reinen Kraftstoff auf, nachdem er in einem schlanken, mit Aluminiumfolie und Isoliermaterial bedeckten rund 1,20 Meter hohen Zylinder den Katalysator passiert hat.
Der Prozess wird von einem Leitstand im Nebenraum gesteuert und überwacht. Man braucht genaue Daten, viele Tests und jede Menge Geduld, um die notorisch konservative Ölindustrie davon zu überzeugen, das Verfahren auf breiter Basis einzusetzen. Die Excel-Technologie ist erst vor fünf Jahren auf den Markt gekommen – in dieser Branche eine kurze Zeit. „Der Vorbehalt gegenüber Technologien, die sich noch nicht bewährt haben, ist sehr groß“, stellt Seamans fest, der am Standort The Woodlands, einem Vorort der amerikanischen Energiehauptstadt Houston (Texas), arbeitet. Eine Raffinerie will keinen teuren Stillstand riskieren, weil ein Katalysator womöglich nicht richtig funktioniert. „Wir haben mehr als 100 Verträge mit Raffinerien abgeschlossen, aber wir müssen unsere Kunden immer noch davon überzeugen, dass unsere Technologie zuverlässig ist und sich rechnet“, sagt er.
Für Guillaume Vincent ist es eine Glaubensfrage. „Das ist wie beim Autokauf. Da muss man sich zwischen einem Neufahrzeug und einem Gebrauchtwagen mit niedrigem Kilometerstand entscheiden, der genauso gut fährt, aber weniger kostet. Manche Kunden wollen einfach keinen gebrauchten Katalysator, selbst wenn sie für weniger Geld und mit einem kleineren CO2-Fußabdruck die gleiche Leistung wie bei einem frischen Exemplar bekommen könnten.“ Doch nicht alle sind so skeptisch. Für einen europäischen Bestandskunden ist Excel bereits ein wichtiger Teil seiner Strategie zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen. „In Europa verkauft sich die Technologie leichter“, sagt Technical Manager Mike Martinez, der ebenfalls in Houston für Evonik tätig ist. Martinez wertet die Prozessdaten bei den Kunden aus, modelliert Katalysatorbetten und Reaktoren und stellt die Vorteile der Technologie bei Kunden und auf Fachkonferenzen vor. „Wir sind dabei, eine Erfolgsbilanz zu erstellen“, sagt er. „Wir haben jede Raffinerie der Welt auf dem Schirm.“
EHRGEIZIGE ZUKUNFTSPLÄNE
Potenzielle Kunden sind nicht nur die großen multinationalen Raffineriebetreiber wie TotalEnergies, BP, Phillips 66 oder Repsol. Excel ist auch eine Option für kleinere, unabhängige Raffinerien, die normalerweise nur regional tätig sind. Die dritte potenzielle Kundenbasis sind staatliche Raffineriebetriebe im Nahen Osten, in Indien und anderen Teilen Asiens. In diesem Jahr möchten Seamans und sein Team auch aktuelle Versuchsdaten veröffentlichen, die die Leistungsfähigkeit der Verjüngungstechnologie unter verschiedenen erschwerten Einsatzbedingungen bestätigen. Dabei werden Parameter wie Temperatur, Druck oder Art der Rohstoffe berücksichtigt.
In Zukunft soll Excel nicht nur bei fossilen Brennstoffen zum Einsatz kommen. Andrew Kincannon zeigt auf einen Plastikbehälter, der eine gelbliche Flüssigkeit enthält. Sie sieht aus wie Diesel, doch es handelt sich um Pflanzenöl. Das ist der nächste Meilenstein, den die Katalysatorexperten von Evonik erreichen wollen. Einige Raffinerien gehen bereits in die Offensive: weg vom Erdöl, hin zu erneuerbaren Treibstoffen. Das US-Unternehmen Phillips 66 etwa plant, eine Rohölanlage in Kalifornien auf erneuerbare Treibstoffe umzustellen. Ab 2024 sollen dort Altspeiseöl und Lebensmittelabfälle verarbeitet werden. Mitbewerber wie Valero, TotalEnergies, Repsol, Chevron oder Marathon haben ebenfalls angekündigt, in Biokraftstoffraffinerien zu investieren.
„Die Möglichkeiten, mit biobasierten Ausgangsstoffen zu arbeiten, sind noch ziemlich begrenzt, denn die meisten Kraftstoffe werden nach wie vor aus erdölbasierten Vorprodukten hergestellt“, sagt der amerikanische RD&I-Chef Seamans. Doch der Anteil erneuerbarer Kraftstoffe steigt. Seamans schätzt, dass bis 2030 bereits 20 Prozent der Kraftstoffe biobasiert sein könnten. „Das ist definitiv ein Wachstumsmarkt. Doch selbst bei ölbasierten Ausgangsstoffen haben wir ein enormes Wachstumspotenzial, das wir noch nicht voll ausschöpfen.“