Die Stadt Memphis wollte die Qualität des Abwassers verbessern, das sie in den Mississippi einleitet. Evonik half mit einem innovativen Ansatz zur Desinfektion mittels Peressigsäure.
Bei einigen berühmten Söhnen von Memphis, Tennessee, braucht man nur die Initialen der Vornamen zu nennen, und schon weiß jeder, wer gemeint ist. In der Beale Street steht eine Bronzestatue zu Ehren der Blues-Legende W. C. Handy, und der verstorbene Gitarrist B. B. King eröffnete hier vor über 30 Jahren seinen ersten Club. Doch wer war M. C. Stiles? In den 1970er- und 1980er-Jahren galt Maynard C. Stiles als einer der mächtigsten Beamten der Stadtverwaltung von Memphis. Zunächst leitete er das Amt für Stadtreinigung, später wurde er Chef der Stadtwerke.
Auch ihm hat Memphis eine Art Denkmal gesetzt: Eine der beiden städtischen Kläranlagen wurde nach ihm benannt. Die M. C. Stiles Wastewater Treatment Facility liegt nur wenige Fahrminuten nördlich des Stadtzentrums am Ufer des Wolf River, eines der vielen Nebenflüsse des mächtigen Mississippi.
Die Rohabwasserpumpen und die runden Klärbecken der Anlage sind zwar nicht so spektakulär wie die Musikclubs in der Beale Street, doch sie spielen dennoch eine wichtige Rolle in der Geschichte der Stadt. Die 1977 fertiggestellte Anlage war erst der zweite Versuch, das Abwasser der lokalen Unternehmen und Haushalte zu klären. Zwei Jahre vor der M. C.-Stiles-Anlage war das nach einem einflussreichen Stadtingenieur benannte T. E.-Maxson-Klärwerk in Betrieb gegangen. Vorher hatte Memphis Millionen Liter Abwasser einfach ungeklärt in die Flüsse, Bäche und Gräben der Stadt geleitet.
Robert M. Knecht hat als derzeitiger Leiter der Stadtwerke von Memphis das Erbe von Stiles angetreten. Der frühere Air-Force-Computerspezialist arbeitet seit 20 Jahren bei der Stadt und ist seit fast zehn Jahren in seiner jetzigen Funktion tätig. Er will in Memphis nun auch Umweltgeschichte schreiben – mithilfe von Evonik. „Ich versuche, die Wasserqualität zu verbessern, denn das ist ein Bereich, den wir stark beeinflussen können. Ich gehe gern angeln und möchte als Nutzer des Flusses sicherstellen, dass ich alles in meiner Macht stehende für das Ökosystem getan habe“, sagt Knecht bei einem Besuch der M.C.-Stiles-Kläranlage, wo Evonik seit 2019 ein Peressigsäurewerk betreibt.
Eine langfristige Investition
Die Evonik-Anlage am Wolf River liefert Peressigsäure an die beiden Kläranlagen. Sie sind die weltweit größten Abnehmer dieses Bakterienkillers zur Desinfektion kommunalen Abwassers. Die Nutzung von Peressigsäure ist ein innovativer Ansatz für Kommunen, die traditionell auf andere Desinfektionsmethoden wie Chlor oder UV-Behandlung setzen. „Das ist eine enorme langfristige Investition“, sagt Knecht. Er steht auf einem Laufsteg über den Desinfektionskanälen der Stiles-Anlage. Hinter ihm fließt der Mississippi träge vor sich hin. „Mit 24 Millionen Dollar pro Jahr ist dies die größte Ausgabe seit Langem im Bereich Betrieb und Wartung.“
Peressigsäure (PAA) ist ein extrem starkes und effektives Oxidationsmittel, das sich perfekt zum Abtöten von Bakterien wie E. coli in menschlichen oder tierischen Exkrementen eignet. PAA wird hergestellt mittels einer Reaktion zwischen Wasserstoffperoxid, Essigsäure (Essig), Wasser und einem Katalysator. „Während ihres Zerfalls greift Peressigsäure mit ihren oxidativen Eigenschaften die Bakterien an“, erklärt Greg Conrad, der als Director Water Treatment Solutions bei Evonik Active Oxygens das Geschäft mit Verfahren zur Wasserbehandlung verantwortet.
In der Geflügelindustrie und in der Getränkeverarbeitung ist PAA als Desinfektionsmittel bereits weitverbreitet. Rund 30 Prozent der Produktion der Wolf-River-Anlage wird an Geflügelproduzenten in den benachbarten Bundesstaaten Arkansas sowie North und South Carolina verkauft. Der Einsatz von PAA in der Abwasserdesinfektion steht trotz der offensichtlichen Vorteile noch am Anfang. „Das Tolle an Peressigsäure ist, dass sie in unbedenkliche Bestandteile zerfällt: Essig, Sauerstoff und Wasser“, erklärt Conrad.
Bis vor etwa 15 Jahren war die Desinfektion des Abwassers in Tennessee nicht vorgeschrieben. Als der Bundesstaat strengere Vorschriften einführen wollte, testete Memphis andere bewährte Methoden wie den Zusatz von Chlor oder eine Behandlung mit UV-Strahlen. Allerdings hinterlässt Chlor krebserregende Nebenprodukte als Rückstände im Wasser. Daher muss das Wasser anschließend aufwendig entchlort werden. Eine UV-Behandlung erfordert erhebliche Investitionen und bringt hohe Wartungskosten mit sich. Zudem ist sie keine gute Alternative für Städte wie Memphis: Dort führt ein hoher Anteil von Industrieabfällen mit organischen Bestandteilen zu einer für die Strahlen undurchdringlichen Braunfärbung des Wassers. Das Abwasser von Memphis stammt zu etwa 60 bis 80 Prozent aus Industrien wie der Zellstoff- oder Papierbranche. Auch müssen die Fabriken in Memphis ihr Abwasser vor der Einleitung ins kommunale System nicht selbst reinigen. Abwasseraufbereitung ist also eine Herkulesaufgabe für Memphis.
Nach mehreren Tests und einem Pilotprogramm entschied sich Memphis für PAA und einen 18-Jahres-Vertrag mit dem PAA-Hersteller PeroxyChem. Dieser Vertrag trat 2018 in Kraft und kann zweimal um fünf Jahre verlängert werden. Zwei Jahre später übernahm Evonik PeroxyChem für 640 Millionen Dollar.
Die vertraglichen Vereinbarungen mit der Stadt waren ebenso einzigartig wie das Desinfektionsverfahren: Das Unternehmen pachtete das Grundstück von der Stadt und baute seine Peressigsäure-Produktionsanlage auf dem Gelände des M.C.-Stiles-Klärwerks. Eine Anlage direkt am Standort senkt die Transportkosten. „Für uns bietet sich die einzigartige Chance, mit einer Kommune zusammenzuarbeiten, um ihr über die reine Chemie hinaus einen Mehrwert zu bieten, zusätzliche Dienstleistungen zu erbringen und Arbeitsplätze zu schaffen“, sagt Conrad.
"Da steht viel auf dem Spiel"
Auf dem Parkplatz der Anlage stehen Lkw mit doppelwandigen Iso-Tankcontainern aus Edelstahl. Evonik verwendet Kühltanks, um die Temperatur zu regeln und einen möglichen Zerfall der Peressigsäure auf dem Transport zu den Kunden in der Region zu verhindern. „Wir sind als einziges Unternehmen berechtigt, PAA in großen Mengen zu transportieren“, sagt Conrad. Zur Stiles-Kläranlage gelangt die Säure durch eine 400 Meter lange unterirdische, doppelwandige und korrosionsbeständige Pipeline.
Auch Robert Knecht ist mit den Vereinbarungen zufrieden. „Ich war sehr zuversichtlich, dass wir nicht nur einen Zulieferer, sondern auch einen langfristigen Partner bekommen würden“, sagt er. „Ich hatte den Wunsch, dass sich ein Unternehmen in Memphis ansiedelt, neue Arbeitsplätze schafft und eine Anlage in der unmittelbaren Umgebung baut, weil wir einer der größten Abnehmer von Peressigsäure im ganzen Land sein würden.“ Als Teil des Service stellt Evonik auch sicher, dass der Bakteriengehalt die zulässigen Werte nicht überschreitet. „Bei Überschreitung einer bestimmten Grenze würde die Umweltschutzbehörde Bußgelder an uns verhängen“, sagt Conrad. „Da steht für uns viel auf dem Spiel.“
Einzigartig ist auch der Ansatz der Evonik-Ingenieure bei der Festlegung der richtigen PAA-Dosierung für die Stiles-Kläranlage. Um den Bakteriengehalt auf das gewünschte Niveau zu senken, bestimmen die meisten Zulieferer die benötigte PAA-Menge mittels der Durchflussmenge des eingeleiteten Abwassers und einer vorher festgelegten Dosierung. Am Ende des Prozesses testen die Anlagenbetreiber das Wasser auf Spuren von Desinfektionsmitteln, um sicherzustellen, dass es keine oder zumindest deutlich weniger Bakterien aufweist.
Evonik legt die Dosierung dagegen am Anfang des Prozesses fest – und zwar auf Basis der sich ständig verändernden Wasserqualität. „Wir wollten weniger PAA verwenden“, sagt Conrad. „Bei besserer Wasserqualität reichen auch kleinere Mengen.“ Entscheidend für die Analyse ist die Farbe des Abwassers. „Sie ändert sich ständig“, erklärt er. „Manchmal sieht das Wasser aus wie Tee, manchmal wie Espresso. Es hängt alles davon ab, was ins Wasser gelangt.“ Conrad und sein Team fanden heraus, dass die Farbe des Wassers ein Indikator für den Verschmutzungsgrad ist. Die Ergebnisse dieser Farbanalyse werden in ein Computerprogramm eingegeben, das ermittelt, wie viel PAA benötigt wird.
Massgeschneiderte Desinfektion
Im anderen Klärwerk von Memphis, der T. E.-Maxson-Anlage, laufen die Dinge etwas anders. Hier setzt Evonik Lkw ein, um das Desinfektionsmittel anzuliefern und die Peressigsäuretanks direkt neben den Kontaktkanälen zu befüllen.
Da die Abwasserqualität im Süden von Memphis anders ist, führt Evonik hier keine Farbanalyse durch, sondern prüft den Chemischen Sauerstoffbedarf (COD) des Abwassers. Hierbei handelt es sich um ein Maß für den Sauerstoff, der für den Abbau von organischen Verbindungen im Wasser benötigt wird. „Der COD ist ein Maß für die organische Belastung des Wassers – er zeigt an, wie schmutzig das Wasser ist“, sagt Conrad. „Bei einer hohen Belastung verwenden wir mehr PAA.“
Conrad lebt in Oklahoma und gründete sein erstes Unternehmen im Alter von 20 Jahren. Er leistete auch Pionierarbeit beim Einsatz von PAA zur Aufbereitung des Abwassers, das beim Fracking von Erdöl anfällt. „Es war schon immer meine Leidenschaft, nachhaltige Lösungen zu finden“, sagt er. „Ich habe mich während meines gesamten Berufslebens mit Wasser beschäftigt.
Die Desinfektion des Abwassers mit PAA in der Stiles-Kläranlage ist der letzte Schritt, bevor das Wasser in den Mississippi eingeleitet wird. Dennoch sieht das, was da über eine Betonmauer in Richtung Fluss rauscht, nicht wie Trinkwasser aus. Aber es ist desinfiziert und wird ausreichend verdünnt, wenn es in den mächtigen Strom gelangt. Die Gesundheitsrisiken sind also vernachlässigbar.
Das Verfahren ist relativ neu und in vielen Bundesstaaten noch wenig bekannt. „Bei der Nutzung von PAA in der Abwasseraufbereitung stehen wir erst am Anfang“, sagt Conrad, „aber das Verfahren findet sehr schnell höhere Akzeptanz.“ In Tennessee und Arkansas steigt die Zahl der Befürworter. Auch Texas, Ohio und Kentucky stehen dem Verfahren langsam offener gegenüber. „Allerdings ist es vielleicht nicht immer die beste Lösung für eine Stadt“, meint Conrad. „In kleineren Anlagen und in Städten mit wenig Industrie und relativ sauberem Abwasser könnte eine UV-Behandlung sinnvoller sein.“
Evonik will auch Industriebetriebe dazu bewegen, ihr Abwasser in eigenen Anlagen zu reinigen, bevor es ins städtische System von Memphis gelangt. Dadurch würden nicht nur deren Gebühren sinken. Es würde auch für Evonik einfacher, das Abwasser in den Stiles- und Maxson-Anlagen aufzubereiten. Conrad wirft einen Blick auf die blubbernde, schmutzige Brühe in den Becken der M. C.-Stiles-Kläranlage, bevor er sich in sein SUV setzt, um nach Oklahoma zurückzufahren. „Wir verdienen unseren Lebensunterhalt damit, Bakterien abzutöten“, sagt er.