In vielen Regionen der Welt werden Pflanzenschutzmittel künftig per Drohne ausgebracht. Die neue Technik stellt besondere Anforderungen an die Spritzmischung. Evonik hat eine Formulierung gefunden, die das unerwünschte Verdriften verhindert und die Wirkstoffe möglichst gut auf dem Blatt verteilt.
Fransenflügler sind gerade mal einen Millimeter lang. Doch Landwirte fürchten die Winzlinge, weil diese große Schäden anrichten können – vor allem in subtropischen und tropischen Regionen. Die Insekten mit den charakteristischen Haarfransen an den Flügelrändern fressen Blätter und Blüten vieler Nutzpflanzen an, zum Beispiel Baumwolle, Tomate oder Tee. Außerdem übertragen sie Viren, die den Pflanzen den Garaus machen. Damit gehören Fransenflügler zu den gefährlichsten Pflanzenschädlingen – unter anderem in Indien, wo nach Angaben der dortigen Tea Research Association jährlich rund 150.000 Tonnen Tee durch Befall mit Fransenflüglern und deren Raupen verloren gehen. Das sind rund 15 Prozent der gesamten Ernte.
Um Pflanzenschädlinge in Schach zu halten, setzen Landwirte schon seit Jahrzehnten auf Spritzmittel. In Industrienationen werden diese üblicherweise mit Traktoren versprüht, in Entwicklungs- und Schwellenländern oftmals auch von Arbeitern, die die Spritzmischung in Tanks auf dem Rücken tragen. Über indische Äcker und Felder aber werden künftig sehr wahrscheinlich häufiger Drohnen hinwegbrummen. Im Tiefflug werden sie Pflanzenschutzmittel versprühen, um Schadinsekten und Krankheitserreger zu bekämpfen.
Mit 100 Kilogramm über den Acker
Als eines der ersten Länder weltweit hat Indien grünes Licht für den Einsatz von Drohnen im Ackerbau gegeben. In einer Standard Operating Procedure gibt das Landwirtschaftsministerium vor, wie die Fluggeräte eingesetzt werden sollen. Auch in anderen Ländern wie China oder Brasilien sind Drohnen inzwischen ein großes Thema in der Landwirtschaft. Die erforderliche Technik gibt es bereits. In den vergangenen Jahren sind vor allem in China, aber auch in Deutschland und den USA Modelle auf den Markt gekommen, die ein Gewicht von 100 Kilogramm und mehr tragen können. Einer aktuellen Branchenstudie zufolge könnte der Markt für Agrardrohnen bis 2028 auf ein jährliches Volumen von mehr als neun Milliarden US-$ wachsen – dreieinhalb mal so viel wie 2022.
Der Einsatz von Drohnen erfordert, dass die Hersteller von Agrarchemikalien ihre Produkte der neuen Technik anpassen. Werden Pflanzenschutzmittel im Flug versprüht, können die Tropfen vom Wind weiter fortgeweht („verdriftet“) werden als bei Traktoren oder Handspritzen. Um das zu verhindern, sind chemische Zusätze nötig. Bei der Entwicklung dieser Spezialchemikalien ist Evonik vorn mit dabei. „Dieses Thema passt sehr gut in unser strategisches Innovationsportfolio und treibt die Entwicklung unseres Produktportfolios im Agrarbereich voran“, sagt Dr. Nina Hoppe, die die Forschungs- und Entwicklungsabteilung für die Business Line Interface & Performance bei Evonik in Essen leitet.
Die Vorteile der Sprüheinsätze aus der Luft liegen auf der Hand. Drohnen bearbeiten Äcker bis zu siebenmal so schnell wie Traktoren und lassen sich auch bei aufgeweichten Böden und in steilem und unwegsamem Gelände einsetzen. Zudem kann man sie mit Kameras ausstatten und so erkennen, wo Schädlinge oder Krankheiten zuerst auftreten, um dann ganz gezielt Schutzmittel auszubringen. Darüber hinaus sind Energieverbrauch und CO2-Ausstoß der in der Regel elektrisch betriebenen Fluggeräte deutlich geringer als die von Dieseltraktoren.
Bevor der großflächige Einsatz der Drohnen in Indien beginnt, hat das Ministerium mit seiner Richtlinie Landwirte und Drohnenpiloten dazu verpflichtet, ein Verdriften von Pflanzenschutzmitteln zu verhindern. „In vielen Regionen Indiens sind die Parzellen recht klein. Außerdem werden auf benachbarten Äckern häufig unterschiedliche Pflanzen und Früchte angebaut“, sagt Sachin Vishwakarma, Experte für Angewandte Agrartechnik bei Evonik in der westindischen Stadt Thane.
Bekämpfung von Schadinsekten
Vishwarkama gehört zu einem Evonik-Team, das in den vergangenen Jahren daran gearbeitet hat, den Pflanzenschutzmitteln das Verdriften auszutreiben. Dazu werden dem Spritzmittel Substanzen beigemischt, die dazu führen, dass beim Versprühen keine ganz kleinen Tropfen entstehen, die vom Wind fortgetragen werden, anstatt auf der Pflanze zu landen. Mehrere Jahre hat die Entwicklung dieser Zusätze und Hilfsmittel, der sogenannten Adjuvanzien, gedauert. Im vergangenen Winter haben Vishwarkama und seine indischen Kollegen die Mittel erstmals im Freiland getestet. Sein Fazit: „Die Ergebnisse sind überzeugend. Wir sehen auf den Pflanzen weder Verfärbungen noch Verbrennungen oder sonstige Schäden. Schadinsekten wie zum Beispiel Fransenflügler werden hingegen wirkungsvoll bekämpft.“
In chemischer Hinsicht ist die Entwicklung von Adjuvanzien eine hohe Kunst, weil sie beim Versprühen ganz verschiedene Wirkungen entfalten müssen. Erstens sollen die Tropfen, die aus der Spritzdüse freigesetzt werden, schnell zu Boden fallen, damit der Wind sie nicht fortträgt. Zweitens sollen sie auf dem Blatt haften und nicht abperlen wie Regen – denn dann ginge die Schutzwirkung verloren. Drittens sollen die Tropfen die Blätter so gut wie möglich benetzen, damit der Wirkstoff über eine große Fläche in das Blatt eindringen kann. Das Spritzmittel darf also nicht in Form kugeliger Tropfen auf dem Blatt liegen bleiben. Vielmehr sollen sich die Tropfen dem Blatt anschmiegen und darauf ausbreiten. Um alle diese Funktionen zu erfüllen, braucht es gleich mehrere Inhaltsstoffe mit genau aufeinander abgestimmten Eigenschaften, die das Team zum Adjuvans zusammengefügt hat.
Zu diesem Zweck hat das Evonik-Team das Adjuvans Break-thru MSO Max 522 entwickelt. Eine wichtige Zutat sind Trisiloxane, Verbindungen aus Silizium, Sauerstoff und Kohlenstoff, die Evonik schon seit vielen Jahren herstellt. Sie werden in der Industrie vielseitig genutzt – beispielsweise bei Polyurethanschäumen oder Lacken und Farben und vielen technischen Anwendungen.
Beim Einsatz auf dem Feld soll das Adjuvans das Spritzmittel möglichst präzise ans Ziel bringen. „Verdriften geschieht auch beim Einsatz von Traktoren“, sagt Dr. Joachim Venzmer, Experte für Grenzflächentechnologien bei Evonik in Essen. „Bei Drohnen aber verstärkt sich das Problem.“ Um den Effekt zu verringern, kann die Spritzmischung mit pflanzlichen Verdickungsmitteln versetzt werden, meist mit dem aus der Guarbohne gewonnenen Guargummi. So entstehen beim Versprühen nur große Tropfen, die direkt zu Boden beziehungsweise auf die Pflanze fallen.
Der Nachteil: Die verdickte Flüssigkeit lässt sich nicht mehr gut versprühen. Der Sprühkegel wird enger und benetzt entsprechend nur noch einen schmalen Ackerstreifen. Für den Drohneneinsatz wäre eine Guargummi-Lösung völlig ungeeignet. Das Gerät müsste sehr viele Male über einen Acker fliegen, um ihn komplett zu besprühen. Venzmer ist das Driftproblem daher anders angegangen: Er hat in die physikalische Trickkiste gegriffen.
Wassertropfen verstehen
Im Windkanal lässt sich beobachten, wie Wassertropfen aus einer Spritzdüse austreten. Sie beulen sich zunächst zu einer Tasche aus, bis sie schließlich reißen und viele kleine Sprühtröpfchen bilden. Je früher die Tasche reißt, desto größer und schwerer sind die Tröpfchen – und desto weniger weit verteilen sie sich in der Umgebung.
Von der Tasche zum Tropfen
„Als Chemiker haben wir die Physik des Sprühens und Zerstäubens zunächst überhaupt nicht verstanden“, erzählt er. Der Lösung kam er näher, als ein Doktorand der Technischen Universität Darmstadt vor einigen Jahren die Zerstäubung von Kerosin in einer Düse näher untersuchte. Der Forscher wollte die Frage beantworten, wie und wann ein Flüssigkeitsfilm reißt und sich in feine Tröpfchen zerteilt. „Ich stolperte eher zufällig über diesen Doktoranden“, sagt Venzmer. Das erwies sich als Volltreffer. Joachim Venzmer bat ihn, mit dem Versuchsaufbau, einem kleinen Windkanal mit einer Hochgeschwindigkeitskamera, zu untersuchen, wie ein Wasserfilm an einer Düse reißt. In einem Modellexperiment zeigte sich, dass sich ein Tropfen im Luftstrom zunächst zu einer Tasche ausbeult, ehe er reißt. Reißt er früh, ist das gut, denn dann entstehen größere Tropfen. Dehnt sich die Tasche hingegen sehr weit aus, bevor sie reißt, entstehen feine Sprühnebel-Tröpfchen, die der Wind leicht fortträgt.
Damit war das Ziel klar: Es galt, das Aufreißen des Wasserfilms nach dem Austritt aus einer Düse so zu steuern, dass erstens die Tropfenbildung nicht behindert wird und zweitens dennoch keine zu kleinen Tropfen entstehen.
Die Tasche durfte also nicht zu spät reißen. Erfreulicherweise erledigte eines der Trisiloxane diese Aufgabe bereits ziemlich gut. Doch für die Drohnen reichte es noch nicht. Das Team musste weiter an der richtigen Mischung der Zutaten arbeiten.
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„Bei der Entwicklung des Adjuvans hat uns das bessere Verständnis der Physik der Tröpfchenbildung den entscheidenden Schritt vorangebracht“, sagt Dr. Annika Dietrich, Chemikerin in der Einheit für Angewandte Agrartechnologien von Evonik. Die Herausforderung bestehe letztlich darin, dass ein Spritzmittel viele verschiedene Funktionen erfüllen müsse: von der Tropfenbildung bis zum sogenannten Spreiten – dem Ausbreiten auf dem Blatt. „Bei der Formulierung suchen wir daher stets nach Zutaten, die im Idealfall mehrere Funktionen erfüllen.“ Mit dem Pflanzenöl in Break-thru MSO Max 522 haben Dietrich und ihr Chef René Hänsel eine solche Multifunktionssubstanz gefunden: Das Öl lässt nicht nur den Sprühfilm früher reißen, sodass ausreichend große Tropfen entstehen – es bewirkt auch, dass die Blätter den Wirkstoff sehr gut aufnehmen. Und noch etwas kommt hinzu: Das Öl bildet einen besonders wasserfesten Film, wenn es getrocknet ist. So haftet der Wirkstoff für viele Tage fest auf dem Blatt und wird vom Regen kaum abgewaschen.
Tropft es noch, oder regnet es schon?
Um diesen Effekt zu optimieren, führen die Forscherteams in Essen und Marl zahlreiche „Regenfestigkeitstests“ durch – in simplen Kunststoffkisten aus dem Möbelhaus. Dazu wird das Adjuvans auf Folien aufgetragen, deren wasserabweisende Eigenschaften denen der Blattoberfläche ähneln. Um festzustellen, wie gut verschiedene Adjuvans-Formulierungen haften, wird ihnen ein Farbstoff beigemischt, der unter UV-Licht fluoresziert. Für den Test wird die Folie beregnet, getrocknet und anschließend unter die UV-Lampe gelegt. Je nachdem, wie viel Adjuvans – und damit auch Farbstoff – abgewaschen wurde, fluoresziert die Stelle, auf welche die Probe aufgetragen wurde, stärker oder schwächer.
Das Team hat bereits viele Varianten entwickelt, berichtet Nina Hoppe, die das Projekt koordiniert und leitet: „Wir sehen bei unseren Kunden zum Beispiel ein zunehmendes Interesse an biologisch abbaubaren Adjuvanzien aus nachwachsenden Rohstoffen. Daher haben wir eine Formulierung entwickelt, die ohne Trisiloxan auskommt.“
Stattdessen kommt ein sogenannter Polyglycerolester zum Einsatz, eine Substanz aus pflanzlichen Rohstoffen, die auch ein wichtiger Bestandteil von Kosmetika ist. Sie hat gute Antidrift-Eigenschaften, spreitet sehr gut auf dem Blatt und ist außerdem regenfest. Unter dem Namen Break-thru SP133 wurde das Adjuvans jetzt auf den Markt gebracht. „Für unsere Kunden haben wir die Regularien in den verschiedenen Agrarmärkten weltweit im Blick, damit das Produkt alle Vorgaben erfüllt“, sagt Hoppe. Um ein Verdriften des Spritzmittels zu vermeiden, schreiben viele Länder beispielsweise vor, dass Tropfen einen Durchmesser von mindestens 135 Mikrometern haben müssen. Die neuen Adjuvanzien erreichen diesen Wert spielend.
Einsatz von China bis Brasilien
Der Markt könnte sich in den kommenden Jahren rasch entwickeln. „Aktuell sehen wir vor allem in Indien, China und anderen südostasiatischen Staaten ein starkes Interesse an Drohnen“, sagt Diego Abreu, Marketingleiter für das Agrarsegment von Evonik im Geschäftsgebiet Interface & Performance. Drohnen, die mithilfe der neuen Adjuvanzien punktgenau treffen, seien ein Schlüssel zum sogenannten Precision Farming, dem Präzisionsackerbau der Zukunft.
„Die Geschäftsmodelle, über die die Drohnen zum Einsatz kommen, können dabei ganz verschieden sein“, sagt Abreu. Gerade in weniger entwickelten Ländern werden sich nicht viele Landwirte ein Fluggerät leisten können, das leicht mehrere Zehntausend € kostet. „In China etwa wird das Sprühen per Drohne vor allem vom Agrarhandel angeboten, der die Pflanzenschutzmittel vertreibt.“
Der Evonik-Experte erwartet, dass sich bald auch in Brasilien und Lateinamerika bedeutende Drohnenmärkte entwickeln werden. In Europa hingegen werden in den kommenden Jahren wahrscheinlich weiterhin Traktoren eingesetzt werden, da die Behörden bei der Zulassung neuer Technologien zur Ausbringung von Pestiziden aus der Luft eher zögerlich sind.
Für die Flugapparate spricht unter anderem, dass sie den Wasserverbrauch deutlich senken. Vor allem in trockenen Regionen ist das ein großer Vorteil.
Drohnen können nicht so viel Wasser wie ein Traktor transportieren. Daher müssen in Drohnen spezielle Formulierungen verwendet werden, bei denen 10 bis 40 Liter Wasser bereits ausreichen, um die gleiche Menge Pestizid pro Hektar aufzubringen wie 200 bis 1.000 Liter Wasser bei konventionellen Spritzmitteln. Neben neuen Formulierungstechnologien werden dafür vor allem die neuen Adjuvanzien benötigt – die unter anderem für die exzellente Benetzung der Blätter und das Spreiten sorgen.
Wie der erste Feldtest in Indien gezeigt hat, kommen die Pflanzen mit der hohen Wirkstoffkonzentration und den beigemischten Adjuvanzien bestens zurecht. Für die kommenden Monate stehen weitere Versuche an. Sachin Vishwakarma wird zusammen mit seinem Team die Drohne bei weiteren Nutzpflanzen testen, um die Mischung des Spritzmittels, der Adjuvanzien und Wirkstoffe perfekt einzustellen. Die offizielle Markteinführung für den Drohneneinsatz ist für 2025 geplant. Angesichts der Vorteile, die die Technik bietet, ist sich Vishwakarma schon jetzt sicher: „Die Adjuvanzien werden hier ein Blockbuster.“