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Teure Gesundheit?

Lesedauer 7 min
20. November 2020

Was ist Hightech-Medizin wert? Und was darf sie kosten? Ein Streitgespräch zwischen der Brüsseler Biotech-Lobbyistin Nathalie Moll und Carlos M. Correa, Leiter eines Thinktanks in Genf, der die Interessen von Entwicklungsländern vertritt

Matthias Ruch
Von Matthias Ruch

Leiter Corporate Kommunikation Evonik

Frau Moll, Herr Dr. Correa, was ist die wichtigste Lektion, die Sie aus der Covid-19-Pandemie gelernt haben?

MOLL Dass wir sie nicht eindämmen konnten. Die Pandemie hat uns zudem gezeigt, wie wichtig Zusammenarbeit und Innovation sind. Stellen Sie sich vor, wir hätten bei null anfangen müssen.

CORREA Die Pandemie hat uns gezeigt, dass die Weltgemeinschaft nicht auf sie vorbereitet war. Covid-19 hat bewiesen, dass die Gesundheitssysteme unzureichend aufgestellt waren.

Was waren die größten Herausforderungen für Ihre Branche, als die Covid-19-Pandemie ausbrach?

MOLL Am Anfang haben wir uns auf drei Schlüsselbereiche konzentriert. Erstens haben wir Länder vor Ort dabei unterstützt, ihre Systeme aufrechtzuerhalten, zum Beispiel durch die Lieferung persönlicher Schutzausrüstung durch die Unternehmen unseres Verbands. Zweitens mussten wir die Stabilität der Lieferketten sicherstellen. Und drittens ist die Erforschung von Medikamenten, Impfstoffen und Diagnosemitteln zu nennen. Unsere Unternehmen arbeiten mit Hochdruck daran, die nötigen Produkte liefern zu können. In manchen Fällen bedeutet das, die Produktion um 400 Prozent zu erhöhen.

Herr Correa, berücksichtigen wir mit Blick auf Covid-19 die Belange der Entwicklungsländer in ausreichendem Maß?

CORREA Die Europäische Kommission hat finanzielle Mittel für eine internationale Initiative bereitgestellt, die gewährleisten soll, dass auch Entwicklungsländer Impfstoffe erhalten. Viele dieser Länder stehen wegen Auslandsschulden und Lockdowns vor einer schweren Krise. Diese Pandemie erfordert eine globale Antwort. Doch man kann noch einen anderen Schluss aus dieser Krise ziehen, und der bezieht sich aufs Innovationsmodell. Das derzeitige Modell basiert auf geistigen Eigentumsrechten und Monopolen, die durch Patente geschützt sind. Patente dienen als Begründung für Preise, die sowohl für Regierungen als auch für einzelne Patienten oft unbezahlbar sind, selbst in Industriestaaten. Innovation, zu der es keinen Zugang gibt, hat aber keinen Sinn.

Warum sind Patente und geistiges Eigentum eigentlich so wichtig für Innovation?

MOLL Ohne Anreize wie geistige Eigentumsrechte hätten wir in Europa keine Ausgangsbasis für die Forschung im Kampf gegen Covid-19 gehabt – und somit auch keine Innovationen. Patente sichern nicht nur die geistigen Eigentumsrechte, sondern gewährleisten auch die Veröffentlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie fördern den wissenschaftlichen Austausch und können die Forschung somit insgesamt schneller voranbringen. Wir verdanken es Patenten, dass wir in Europa über eine Innovationsbasis verfügen und über die Investitionen, die wir benötigen, um voranzukommen.

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Nathalie Moll, 47, ist Geschäftsführerin der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA). Der Fachverband mit Sitz in Brüssel repräsentiert die forschende Pharmaindustrie in Europa. Ihm gehören 33 nationale Verbände und 40 führende Pharmaunternehmen an. Moll, die einen britischen und einen italienischen Pass hat, hat mehr als 20 Jahre lang in Verbänden und Unternehmen der Biotech-Branche gearbeitet. 2017 wurde sie als eine der 15 bedeutendsten Frauen in der europäischen Biotech-Industrie ausgezeichnet. Moll studierte an der Universität St Andrews in Schottland und hat einen Abschluss in Biochemie und Biotechnologie.

Wir haben es gerade mit einer Krise durch eine Infektionskrankheit zu tun. Doch es gibt auch bakterielle Infektionen, die nicht mit konventionellen Antibiotika behandelt werden können. Kümmert sich die Pharmabranche um die wichtigsten Krankheiten?

CORREA In Antibiotika wird eindeutig zu wenig investiert. Dasselbe gilt für vernachlässigte Krankheiten in Entwicklungsländern, etwa Tuberkulose. Das derzeitige Modell führt dazu, dass Innovationen dort vorangetrieben werden, wo es sich finanziell lohnt. Und das sind nicht Entwicklungsländer, in denen zwar eine große Nachfrage besteht, die Leute sich die hohen Preise jedoch nicht leisten können.

Sie beziehen sich auf teure Arzneimittel, zum Beispiel gegen seltene Krankheiten?

CORREA Ja. Hohe Preise sind ein Problem für das öffentliche Gesundheitswesen, und zwar nicht nur in Entwicklungsländern. Diese Arzneimittel sind nur für einen sehr kleinen Personenkreis von Nutzen. Aufgrund des Monopols, das sich die Firmen sichern können, sind diese Arzneimittel sehr lukrativ. Patente erlauben den Inhabern, einen Preis festzusetzen, der weit über den Grenzkosten liegt. Patente sollten jedoch genutzt werden, um gesellschaftliche Ziele zu erreichen. Für das Aids-Medikament Ritonavir gibt es laut Weltorganisation für geistiges Eigentum 800 Patente. Einige Unternehmen wollen ihre Produkte vor der Konkurrenz durch Generika schützen und zögern den Ablauf des Patentschutzes durch sogenannte Evergreening-Strategien so lange wie möglich hinaus.

»Wir verdanken es Patenten, dass wir über eine Innovationsbasis verfügen.«

NATHALIE MOLL Geschäftsführerin der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA)

MOLL Unternehmen haben sich aus der Antibiotikaforschung zurückgezogen, weil Entwicklungsanreize fehlen. Antibiotika folgen keiner normalen Marktlogik, da sie nur in geringen Mengen verkauft und verwendet werden sollen, damit Resistenzen vermieden werden. Das ist ein perfektes Beispiel dafür, dass die Forschung bei fehlenden Anreizen am medizinischen Bedarf vorbeigeht – weltweit. Wir müssen sicherstellen, dass die Industrie in Forschung investiert und trotzdem überleben kann. Momentan erleben wir den Niedergang von Biotech-Unternehmen, die auf die Forschung und Entwicklung (F&E) von Antibiotika gesetzt haben. Im Juli hat die Pharmabranche einen Fonds aufgelegt, der eine Milliarde € zur Förderung der klinischen Forschung im Bereich innovativer Antibiotika zur Verfügung stellt. Er dient als künstlicher Anreiz, der die Zeit überbrücken soll, bis die Regierungen geeignete Fördersysteme schaffen.

CORREA Ich glaube, da irren Sie sich. Es gibt durchaus einen Markt für Antibiotika. Er ist bloß nicht so lukrativ wie der für andere Arzneimittel. Und das ist der Kern der Sache: Die wichtigste Prämisse für jedes Forschungsprogramm eines Unternehmens ist Wirtschaftlichkeit. Darum wird nicht in Antibiotika investiert. Das Patentsystem ist gar nicht so sehr das Problem. Wenn innovative Antibiotika in industriellem Maßstab hergestellt werden können, werden Patente dafür erteilt. Würde aber ein Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt, hätten wir ein weiteres Problem: eine zu geringe Produktionskapazität. Ohne Lizenzvergabe und Technologietransfer lässt sich das nicht lösen.

MOLL Laut einem Positionspapier der Weltorganisation für geistiges Eigentum gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Schutz geistigen Eigentums den Zugang zu Prävention und Behandlung von Covid-19 behindert. In unserer Verpflichtungserklärung vom 1. April hat unsere Branche angekündigt, ihre Produktionskapazitäten zu erweitern, sobald ein erfolgreicher Impfstoff entwickelt worden ist. Momentan liegen sie bei fünf bis sieben Milliarden Dosen pro Jahr, für alle Impfstoffe zusammen. Bei Covid-19 brauchen wir etwa 14 Milliarden Dosen, falls wir jeden zweimal impfen müssen. Von Anfang an haben wir daran gearbeitet, unsere Produktion anzupassen. Wir haben auch berücksichtigt, was es in rechtlicher Hinsicht bedeutet, wenn ein Unternehmen das Produkt eines anderen herstellt. Wir stellen gerade alles auf den Kopf und gehen komplett neue Wege, um auf die Krise zu reagieren.

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Dr. Carlos María Correa, 71, ist Geschäftsführer des South Centre, einer zwischenstaatlichen Organisation von 54 Entwicklungsländern mit Sitz in Genf. Das South Centre ist ein politischer Thinktank und hat Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen. Correa ist ein international anerkannter Experte für Fragen des geistigen Eigentums und Technologiethemen. Der Argentinier war Mitglied zahlreicher Kommissionen und ist mehrfach als Regierungsberater zu den Themen geistiges Eigentum, Innovationspolitik und öffentliche Gesundheit tätig gewesen. Der Jurist und Wirtschaftswissenschaftler promovierte an der Universität Buenos Aires in Rechtswissenschaften.

Was ist ein fairer Preis für Medikamente, die sowohl für Patienten als auch für Gesundheitssysteme eine so immense Bedeutung haben?

CORREA In manchen Fällen sind die Preise überzogen. In den USA kostet eine Behandlung mit Sofosbuvir zur Heilung von Hepatitis C 84.000 $, das sind 1.000 $ pro Tablette. Diese Tablette kann für rund 1 $ produziert werden. Früher hat die Pharmabranche argumentiert, diese Preise seien nötig, um die Forschungs- und Entwicklungskosten wieder hereinzuholen. Das Problem ist: Niemand weiß, wie hoch diese Kosten sind. In der neuen Theorie scheint es nicht mehr wichtig zu sein, wie viel das Unternehmen in F&E investiert hat. Jetzt misst die Pharmaindustrie den Wert eines Arzneimittels daran, in welchem Maße es ein Gesundheitsproblem lösen kann. Wenn wir dieser Sichtweise folgen, müssen wir die Frage stellen: Was kostet ein Leben? Was ist jemand bereit zu zahlen, um sein Leben oder das eines Familienangehörigen zu retten? Diesen Ansatz halte ich nicht für akzeptabel.

»Patente sollten genutzt werden, um gesellschaftliche Ziele zu erreichen.«

CARLOS M. CORREA Geschäftsführer des South Centre

MOLL Herr Dr. Correa, leider müssen wir als Unternehmen Geld erwirtschaften, wenn wir in Innovationen investieren wollen. Die Frage ist: Wofür wollen Sie Anreize schaffen? Basiert der Preis auf den Ausgaben für Forschung und Entwicklung, fördern Sie Investitionen in F&E. Ich glaube nicht, dass es in unserem Interesse liegt, wenn Unternehmen einfach viel Geld in F&E stecken. Wir wollen, dass sie die besten Ergebnisse für die Patienten erzielen.

Wie lassen sich diese Ergebnisse bewerten?

MOLL Das ist schwierig, weil wir keine kompletten Datensätze für alle Krankheiten haben. Zum Beispiel: Wie setzen Sie bei einem chronisch Kranken den Preis für die Wiederherstellung seiner Gesundheit fest, wenn er dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung steht und einen Job finden kann? Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Wir haben es mit neuen Technologien zu tun, die unser Gesundheitssystem revolutionieren. Daher müssen wir die Art und Weise, wie wir für die Gesundheitsversorgung bezahlen, ändern.

CORREA Was Sie da sagen, Frau Moll, ist wirklich bedenklich. Denn Sie sprechen nicht über vernünftige, nachvollziehbare Profite für Unternehmen. Sie sagen einfach, Sie werden einen Preis festsetzen, der auf dem Wert für den Patienten basiert. Der Preis wird also womöglich in keinem Verhältnis zu den Forschungs-, Entwicklungs- und Herstellungskosten stehen. Sie vertreten die Auffassung, dass die Unternehmen jeden Gewinn mitnehmen sollten, den sie machen können. Dies führt nur dazu, dass sich die Regierungen einschalten und den Markt regulieren.

MOLL Es hilft uns nicht, wenn wir uns an den F&E-Kosten orientieren. Denken Sie an die AlzheimerForschung. 400 Projekte sind dort gescheitert. Welchen Preis werden Sie für das eine Projekt festlegen, das erfolgreich ist? Einen Preis, der die Kosten für all die gescheiterten Forschungsprojekte wieder hereinholt? Ich würde argumentieren, der Preis sollte sich am Wert für den Patienten, für das Gesundheitssystem und für die Gesellschaft als Ganzes orientieren.

CORREA Dieses Modell berücksichtigt nicht, dass die meisten Arzneimittel auf Input aus der Wissenschaft basieren. Doch am Ende streichen die Unternehmen den Gewinn allein ein.

MOLL Wie Sie wissen, legen wir unsere Preise nicht selbst fest, sondern handeln sie mit den Regierungen aus. Wir haben immer gesagt, dass der Preis eines Produkts in einem Land von der Verbreitung der Krankheit, den Bedürfnissen des Gesundheitssystems, dem Wert für die Patienten und anderen länderspezifischen Faktoren abhängig sein sollte. Ich bin überrascht, von Ihnen zu hören, dass das nicht funktionieren wird, denn wir handhaben das schon von jeher so.

CORREA Sie führen Preisverhandlungen mit Regierungen in Europa, aber in anderen Teilen der Welt ist das nicht der Fall. Wenn die ohnehin hohen Preise weiter unverhältnismäßig steigen, wird den Regierungen dort nichts anderes übrig bleiben, als den Markt zu regulieren. Wenn eine Regierung mit einem Unternehmen verhandelt, das über ein gesetzliches Monopol wie ein Patent verfügt, hat sie nicht besonders viele Optionen. Eine davon ist die Vergabe von Zwangslizenzen, um die Preise zu senken.

Wird die Covid-19-Pandemie unsere Sicht auf das globale System ändern?

MOLL Das hat sie schon. Es ist wirklich beeindruckend zu sehen, wie die EU die weltweite Führung übernommen hat, als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang Mai zu einer internationalen Geberkonferenz eingeladen hatte. Innerhalb von zwei Stunden hatte sie 7,4 Milliarden € gesammelt. Ende Juni wurden die Hilfszusagen auf 15,9 Milliarden € erhöht. Als ich das verfolgt habe, hatte ich wirklich eine Gänsehaut. Das war eine Chance, Dinge komplett anders und gemeinsam anzugehen. Ich glaube nicht, dass es jemals eine Veranstaltung gegeben hat, in der in so kurzer Zeit so viel Geld gesammelt wurde – vielleicht abgesehen vom Live-Aid-Wohltätigkeitskonzert in den Achtzigerjahren. Das macht mir Mut.

CORREA Wir müssen auf dem Weg zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung vorankommen, auch in Ländern, wo wir dieses Niveau noch nicht erreicht haben. Das ist nicht einfach, denn es erfordert enorme Investitionen seitens der Regierungen. Und wir müssen sicherstellen, dass die Preise für Arzneimittel auf eine vernünftige Art und Weise festgelegt werden. Das muss alles berücksichtigt werden, um ein belastbares System aufzubauen, das in der Lage ist, diese und andere Pandemien zu bewältigen.

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Business as usual: Acht Monate nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie gehören Videokonferenzen längst zum Alltag. Auch das Gespräch zwischen Nathalie Moll (in Brüssel) und Carlos M. Correa (in Genf) fand Anfang Oktober via Internet statt. Moderiert wurde es von Matthias Ruch (oben links), Leiter der externen Kommunikation bei Evonik und ELEMENTSChefredakteur (Essen), sowie dem Leiter der Marktkommunikation, Jürgen Krauter (Frankfurt). Obwohl sie in diesen Zeiten wie Millionen andere Berufstätige meist zu Hause arbeiten, hatten sich alle vier für die Diskussion ins Büro begeben – der besseren Datenverbindung wegen.