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Starke Stämme

Lesedauer 4 min
05. November 2021

Manche begehrte Produkte lassen sich auf chemischem Weg nicht einfach herstellen. Dann helfen oft Mikroorganismen. Per Fermentation schaffen sie auch komplizierte Reaktionen mühelos – wenn die richtigen Stämme zum Einsatz kommen und das Prozess-Know-how stimmt.

Viele ihrer Probleme hat die Menschheit mithilfe von Chemie gelöst. So sorgte erst die Erfindung des Düngers auf Ammoniakbasis Anfang des 20. Jahrhunderts dafür, dass die sprunghaft wachsende Weltbevölkerung ausreichend ernährt werden konnte. Doch bei manchen Herausforderungen finden selbst die besten Chemiker keine technische Lösung, die wirtschaftlich umgesetzt werden könnte. Dann springen ihnen manchmal Millionen winziger Helfer zur Seite: Bakterien, die auch sehr komplexe Aufgaben in biotechnischen Verfahren lösbar machen. Eines der wichtigsten ist die Fermentation.

Ihre Wirkung wird schon seit Jahrhunderten genutzt, etwa bei der Weinherstellung. Doch erst Louis Pasteur, der französische Pionier der Mikrobiologie, erforschte ihre Grundlagen im 19. Jahrhundert wissenschaftlich. Er erkannte den Mechanismus hinter der Gärung von Traubensaft zu Wein. Maßgeblicher Treiber sind Mikroorganismen, die ohne Sauerstoff auskommen. Für solche Gärungen unter Ausschluss von Luft prägte Pasteur den Begriff Fermentation. In der Biotechnologie wird der Begriff weiter gefasst: Fermentation steht für die Umsetzung organischer Moleküle durch Bakterien-, Pilz- sowie Zellkulturen oder durch den Zusatz von Enzymen, sogenannten Fermenten.

Das volle Potenzial

Das volle Potenzial der Fermentation kommt erst heute richtig zur Geltung. Beispiel Lysin: Menschen und Tiere benötigen diese Aminosäure als Eiweißbaustein und müssen sie mit der Nahrung aufnehmen, denn der Körper kann sie nicht selbst herstellen. Bei vielen Nutztieren ist sie für eine ausgewogene Ernährung und die optimale Futterverwertung unabdingbar.

Das Problem: Nur das natürliche Lysin, die sogenannte L-Form, ist für den Körper nutzbar, und die ist chemisch nur sehr aufwendig herzustellen. In den 1980er-Jahren tüftelten Chemiker der Degussa, eines Vorläuferunternehmens von Evonik, lange vergebens daran, die L-Form kostengünstig im industriellen Maßstab darzustellen. Denn in klassischen chemischen Prozessen entsteht immer ein 50:50-Gemisch aus L‑ und D-Form. Diese Formen eines Moleküls sind wie die linke und die rechte Hand des Menschen spiegelgleich, aber eben nicht identisch. Den Durchbruch brachte erst ein Fermentationsverfahren. Denn bestimmte Bakterien bilden selektiv die gewünschte, biologisch aktive L-Form. „Wenn Organismus und Prozess stimmen, können aus einer Kohlenstoffquelle wie Zucker komplexeste Moleküle gewonnen werden“, sagt Dr. Timo May, Experte für fermentative Verfahren bei Evonik. Heute leitet sich eine der wichtigsten Technologieplattformen des Unternehmens aus dem damals entdeckten Verfahren zur Herstellung von L-Lysin ab.

TIMO MAY, LEITER DER GRUPPE FÜR FERMENTATIVE VERFAHREN IN DER BIOTECHNOLOGIEFORSCHUNG BEI EVONIK

»Aus Zucker können komplexeste Moleküle gewonnen werden.«

TIMO MAY, LEITER DER GRUPPE FÜR FERMENTATIVE VERFAHREN IN DER BIOTECHNOLOGIEFORSCHUNG BEI EVONIK

VON TIERFUTTER BIS HIN ZUR MEDIZIN

L-Lysin ist nur eines von vielen Produkten, die dank Fermentation wirtschaftlich hergestellt werden können. Von der Tierernährung über die Kosmetik bis hin zur Medizin reichen die Einsatzgebiete mikrobieller Verfahren. Zudem sind fermentative Verfahren in der Regel nachhaltiger als herkömmliche Produktionsmethoden. Sie nutzen regenerative Rohstoffe, sind effizient und ermöglichen die Herstellung von Bioprodukten. Das Algenöl etwa, das Evonik im Joint Venture Veramaris fermentativ herstellt, beinhaltet die Omega‑3-Fettsäuren DHA und EPA und fördert zudem eine umweltfreundliche Fischzucht. Oder Rhamnolipide: Diese weltweit ersten im industriellen Maßstab hergestellten Biotenside sind dank fermentativer Prozesse besonders gut abbaubar. 

Auch Kollagene werden seit Kurzem maßgeschneidert und hochrein von Bakterien produziert. Diese Strukturproteine werden unter anderem in der Kosmetik und der Medizintechnik benötigt – um Falten zu glätten, Knorpeldefekte zu heilen und vieles mehr. Beim gängigen Produktionsverfahren kommen tierische Ausgangsmaterialien zum Einsatz. Die Herstellung mittels spezieller Bakterien eliminiert das Risiko von Qualitätsschwankungen, allergischen Reaktionen und der Übertragung von Krankheiten und schafft so mehr Sicherheit. Ganz neu ist die biotechnologische Herstellung nanostrukturierter Zellulose, die in der modernen Wundversorgung als Wundabdeckung zum Einsatz kommt.

Blick auf kleinere Fermenter im Labor.

Den Biologen Timo May und seine Kollegen fasziniert, wie Mikroorganismen hochkomplexe Moleküle herstellen: „Sie können mehrere erwünschte Reaktionen gleichzeitig durchführen, für die in der Chemie hintereinander geschaltete Schritte und damit sehr aufwendige Anlagen nötig wären.“

Das ermöglicht auch Verfahren wie die künstliche Fotosynthese, bei der Kohlendioxid und Wasser unter Zufuhr von Solarenergie Spezialchemikalien bilden. Evonik hat sich mit Siemens zusammengetan, um diese Technologie zu entwickeln. Die Evonik-Forscher arbeiten an einer Fermentation, bei der Bakterien Spezialchemikalien produzieren. Inzwischen ist am Evonik- Standort Marl eine Pilotanlage in Betrieb.

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Eine Frafik zeigt den Ablauf einer Fermentation.
Kleine Organismen, große Wirkung: Wie mittels Fermentation aus Stärke marktfähige Produkte entstehen.

AUF DER SUCHE NACH DEM BESTEN STAMM

Um biotechnologische Produktion auf Spitzenniveau zu betreiben, ist Expertise in drei Feldern erforderlich: in der Entwicklung von Bakterienstämmen, der Fermentation und der Aufarbeitung der Produkte. „Die Biotechnologie ist viel interaktiver als die Chemie“, sagt Dr. Wilfried Blümke, der die Innovationsgruppe für die Aufarbeitung biotechnologisch erzeugter Substanzen leitet. Denn die Komponenten Organismus, Reaktor und Aufarbeitungsprozess beeinflussen sich in hohem Maße gegenseitig. „Nur im Team können wir jeweils entscheiden, auf welcher Ebene wir ein bestimmtes Problem lösen.“ Als Erstes gilt es für die Wissenschaftler, einen Mikroorganismus zu finden, der das gewünschte Produkt von Natur aus herstellen kann. Die Bakterienarten Escherichia coli und Corynebacterium glutamicum haben sich etwa als Aminosäureproduzenten bewährt.

Eine Hand hält eine Petrischale, die andere Hand impft die Nährlösung mit Bakterien.

Im Zuge der Stammentwicklung wird der Mikroorganismus optimiert. Ziel ist es, ihn dazu zu bringen, möglichst viel von seiner Kohlenstoffquelle, meist Zucker, in das gewünschte Produkt umzusetzen. Eignet sich der gefundene Organismus nicht für die industrielle Produktion, weil er zum Beispiel für den Menschen pathogen ist, übertragen Molekularbiologen die relevanten Gene in einen harmlosen, bewährten Mikroorganismus.

VON DER BRÜHE ZUM PRODUKT

Während der ersten Phase im Fermenter dürfen sich die Mikroorganismen noch vermehren und Biomasse bilden. Von einem bestimmten Zeitpunkt an sollen sie ihren Stoffwechsel dann auf das gewünschte Produkt hin ausrichten. Das steuern die Biotechnologen zum Beispiel, indem sie bestimmte Substanzen zugeben oder weglassen. Nach wenigen Stunden bis einigen Tagen werden die Mikroorganismen inaktiviert, und die Fermentationsbrühe wird abgelassen. Hieraus lässt sich schließlich das gewünschte Produkt gewinnen.

„Je nach Art des Produkts unterscheidet sich der Aufarbeitungsprozess“, sagt Blümke. Die Bioingenieure sprechen daher schon früh mit den Marketingfachleuten, um den Prozess passgenau zu gestalten. Oftmals sind mehrere Trennverfahren wie Filtration, Zentrifugation oder Extraktion hintereinander erforderlich. Geht es etwa um die Herstellung eines Probiotikums, also lebender Bakterien in Sporenform, kommt einem schonenden Trocknungsprozess große Bedeutung bei. Als Bestandteil eines Nahrungs- oder Futterergänzungsmittels sollen die Bakterien ja später im Darm von Mensch oder Tier wieder vital werden und ihre wertvollen Stoffwechselprodukte liefern.

 

Blick von oben di die große Fermenterhalle mit gelben Fermentern und blauen Rührmotoren auf deren Spitze,

„Unter allen Lösungsmöglichkeiten suchen wir die robusteste und wirtschaftlichste“, sagt Blümke. Robustheit heißt in diesem Fall, dass die Aufarbeitung auch bei schwankenden Fermentationsergebnissen ein Produkt liefert, das die Qualitätsanforderungen exakt erfüllt. Rund 20 bis 30 bewährte Verfahren stehen den Bioverfahrensingenieuren von Evonik zur Verfügung. Sämtliche Schritte werden dabei im Labor modelliert und simuliert, dann in einer Pilotanlage getestet und verbessert und schließlich – wenn alles gut funktioniert und das Produkt auch am Markt ankommt – im industriellen Maßstab umgesetzt.

Zufrieden sind die Fachleute dann allerdings immer noch nicht. Auch in der großtechnischen Anlage werden biotechnologische Prozesse permanent weiter optimiert. Ein leistungsfähigerer Mikroorganismus etwa erlaubt die Anpassung des Herstell- und Aufarbeitungsprozesses. Umgekehrt werden die Stämme weiterentwickelt, um noch wirtschaftlichere Verfahren zu ermöglichen. Schließlich soll die alte Kulturtechnik der Fermentation heute mit höchster wissenschaftlicher Effizienz helfen, Probleme der Menschen nachhaltig zu lösen.