Eine Wundauflage, die schnelle und schonende Heilung ermöglicht – in den Laboren von JeNaCell produzieren Bakterien das hierfür nötige Material. Nach der Übernahme durch Evonik soll das Einsatzgebiet weiter wachsen.
In Uwe Beekmanns Berufsalltag dreht sich alles um eine weiche, ziemlich glitschige Membran. Produziert wird das gallertartige Material von Bakterien, und zwar mittels Fermentation. Der promovierte Pharmazeut schafft die Voraussetzungen dafür, dass sich die Mikroben bei der Arbeit wohlfühlen. Um sie zu ernähren, gießt er eine Glukoselösung in eine quadratische Glasschale. „Zunächst nutzen die Bakterien die Nährlösung, um zu überleben und sich zu vermehren“, sagt Beekmann, der in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Biotech-Unternehmens JeNaCell im thüringischen Jena arbeitet. „Um sich vor Austrocknung und Umweltfaktoren wie UV-Strahlung zu schützen, setzen sie danach die Glukosebausteine zu feinen Fasern zusammen.“ Diese spinnenfadenähnlichen Gebilde aus nanostrukturierter Zellulose formieren sich schließlich zu einem dünnen Vlies, das Beekmann anschließend sorgfältig von der Nährlösung trennt und aufreinigt, bis alle Bakterien entfernt und nur noch Zellulose und Wasser übrig sind. Das Material kann anschließend in jede gewünschte Form zurechtgeschnitten werden.
BAKTERIEN SCHLAGEN PFLANZEN
Wichtiger als die äußere Form ist die innere Beschaffenheit: „Das Besondere an der biotechnologisch produzierten Zellulose ist die engmaschige innere Netzwerkstruktur“, erklärt Beekmann. Sie verleiht dem Material hohe Reißfestigkeit und Stabilität. „Dazu kommt eine Biokompatibilität und Hautverträglichkeit, die es für den Einsatz im medizinischen und kosmetischen Bereich prädestinieren.“ Auf pflanzlicher Basis wären die Eigenschaften nicht in dieser Qualität zu erreichen. Deshalb hat sich das Unternehmen auf hochproduktive Bakterienstämme konzentriert. Alles beginnt mit ein paar kleinen Petrischalen voller Zellulose, die Dana Kralisch 2006 im Labor des Instituts für Organische und Makromolekulare Chemie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena entdeckt.
Damals ist noch kein konkretes Anwendungsgebiet in Sicht, aber das Material fasziniert die frisch promovierte Chemikerin so sehr, dass sie ein Forschungsprojekt initiiert. Parallel zur Arbeit im Labor macht sie sich mit ihrem Team auf die Suche nach Märkten. „Wir haben über Monate Unternehmen aus verschiedenen Branchen befragt und Möglichkeiten zur Zusammenarbeit ausgelotet“, erinnert sie sich.
Schnell wird klar, dass die biotechnologisch hergestellte Zellulose besondere Vorteile für die Wundheilung verspricht. „Alle offenen Nervenenden werden vollständig abgedeckt, die Wunde wird kontinuierlich gekühlt und befeuchtet“, sagt Kralisch. Vor allem bei Brandwunden erzeugt die Wundauflage weniger Schmerzen, da das Material nicht mit der Wunde verklebt und die Auflage daher problemlos gewechselt werden kann.
ENTDECKUNG UND EINSTIEG
2012 folgt die Ausgründung des Start-ups unter dem Namen JeNaCell — und die Arbeit geht richtig los. „Damals gab es bereits viele Studien zu dem Thema, allerdings noch kein Verfahren zur industriellen Herstellung“, erzählt Kralisch. „Wir mussten also einen biotechnologischen Prozess erarbeiten, der eine Materialproduktion in größerem Stil möglich macht.“ Bald wird die erste Produktionsanlage in Betrieb genommen, nun können die Hersteller für medizinischen Bedarf beliefert werden. Kralisch erinnert sich gut an den Moment, als sie die erste Nachricht aus einem Krankenhaus darüber erhielt, dass die Biotech-Zellulose erfolgreich genutzt wurde. „Zu erfahren, dass unser Produkt wirklich hilft, Patienten eine schnellere Heilung zu ermöglichen – das war das Größte für uns.“
Zu dieser Zeit beobachtet auch Bernhard Mohr das Unternehmen. Als Leiter der Venture-Capital-Sparte von Evonik ist er immer auf der Suche nach innovativen Start-ups. Die Entscheidung, wo das Unternehmen einsteigt, folgt klaren Kriterien: „Die Technologie muss innovativ und attraktiv für relevante Märkte sein“, sagt Mohr. „Außerdem spielt das Vertrauen ins Managementteam eine wichtige Rolle.“ Bei JeNaCell sind all diese Kriterien von Anfang an erfüllt. „Da Evonik außerdem über eine gewachsene Expertise im Bereich der Fermentation verfügt, war daher schnell klar, dass das Start-up sehr gut zu unserem Portfolio passt.“
2015 entscheiden sich Mohr und sein Team, in das Unternehmen zu investieren und so eine Forschungs- und Wachstumsoffensive zu ermöglichen. Die Zusammenarbeit mit Evonik wird intensiviert – bis es im Sommer 2021 zur Akquisition kommt. Seitdem gehört die Firma zur Business Line Health Care. „JeNaCell hat sich immer stärker vom reinen Hersteller von Wundauflagen zu einer Technologieplattform entwickelt“, sagt Dr. Andreas Karau, Leiter des weltweiten Geschäfts von Biomaterialien für die Medizintechnik. So wird die Zellulose mittlerweile auch zur dermatologischen Nachbehandlung bei Schönheits-OPs oder bei Lasertherapien verwendet. Zudem arbeiten die Forscher am Einsatz von bakterieller Nanozellulose bei Implantaten.
Das Material könnte auch mit Arzneimitteln bestückt werden. „So wäre es möglich, pharmazeutische Wirkstoffe über die Haut punktgenau an ihr Ziel im Körper zu bringen“, sagt Karau. Und das alles dank Abermillionen Bakterien in eckigen Glasschalen.
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