mRNA-Impfstoffe helfen nicht nur dabei, Covid-19 zu bekämpfen. Ihr Potenzial geht weit darüber hinaus. In Zusammenarbeit mit der Stanford University entwickelt Evonik nun ein Verfahren, bei dem Polymere für den Transport von Wirkstoffen in den Körper sorgen.
Wer hätte vor zwei Jahren gedacht, dass sich Menschen in der Supermarktschlange über mRNA-Impfstoffe unterhalten? Oder dass sich Nachbarn über den Gartenzaun hinweg über die Nebenwirkungen von Impfstoffen austauschen? Zweifellos hat sich die Welt seit Beginn der Pandemie verändert. Das Virus hat viele Opfer gefordert und großes Leid verursacht, aber auch einer Technologie zum Durchbruch verholfen. Die Messenger-RNA – kurz mRNA – ist dank Covid-19 zu einer der Toptechnologien der Medizin geworden und schickt sich nun an, Prävention und Behandlung von Krankheiten zu verändern.
Neben Wasser und Fett besteht unser Körper vor allem aus Proteinen – großen, komplexen Molekülen, die für die Struktur und die Steuerung von Gewebe- und Organfunktionen von entscheidender Bedeutung sind. Die mRNA dient als Bauplan für die Herstellung von Proteinen und eignet sich daher besonders gut für den Einsatz in Impfstoffen. Ein mRNA-Impfstoff löst im Körper eine Immunantwort aus, indem er die Zellen dazu veranlasst, ein Protein zu bilden, das normalerweise von einem Erreger wie einem Virus oder einer Krebszelle gebildet würde. „Das Konzept der mRNA-Technologie ist im besten Sinne einfach, denn es ermöglicht es dem Körper, seine Arzneimittel selbst herzustellen“, sagt Stefan Randl, Leiter Forschung, Entwicklung und Innovation im Geschäftsgebiet Health Care von Evonik.
Covid-19 hat einen entscheidenden Vorteil dieses Ansatzes aufgezeigt: Schnelligkeit. mRNA-Impfstoffe können in kurzer Zeit entwickelt werden. Man braucht dazu nur den genetischen Code des Erregers. „Bei einem mRNA-Impfstoff dauert die Herstellung einer Testcharge etwa eine Woche“, so Randl. „Die Produktion und die Aufskalierung sind ebenfalls relativ einfach, da die Technologie mit einer standardisierten Produktionsplattform auskommt.“ mRNA-Impfstoffe sind nicht nur besonders wirksam und sicher. Sie eignen sich für die Bekämpfung einer Vielzahl von Krankheiten. Das deutsche Biotechnologieunternehmen Biontech, das zusammen mit dem US-Pharmakonzern Pfizer den ersten mRNA-Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt hat, gab vor Kurzem bekannt, dass ein mRNA-Cocktail in Maus-Tumormodellen das Tumorwachstum bei Darmkrebs und Melanomen stoppen konnte.
„Wir haben die Vision, die Kraft der körpereigenen Abwehrmechanismen gegen Krebs und Infektionskrankheiten nutzbar zu machen“, sagt Özlem Türeci, Mitbegründerin und Vorstand Medizin von Biontech. Wissenschaftler auf der ganzen Welt beschäftigen sich derzeit mit mRNA-Therapien gegen Grippe, Malaria, das Zikavirus, Tollwut sowie Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose und genetische Krankheiten wie Mukoviszidose.
TRANSPORT IN DIE ZELLE
Eine der größten Herausforderungen ist dabei, die mRNA wirksam und sicher in die Zellen zu bringen, um die gewünschte therapeutische Wirkung zu erzielen. Die meisten Arzneimittel bestehen aus kleinen Molekülen, die in der Regel oral eingenommen werden können. Bei der mRNA handelt es sich dagegen um ein großes Molekül, das sich schnell zersetzt, wenn es in den Körper gelangt, und nur schwer von den Zellen aufgenommen werden kann. Um dieses Problem zu lösen, muss die mRNA in einer Trägersubstanz verkapselt werden, damit sie auf dem Weg in die Zelle geschützt ist. Als Trägersubstanz für die mRNA wird momentan meist ein Schutzschild aus einer Lipidmischung verwendet.
„Diese Lipid-Nanopartikel haben eine hervorragende Erfolgsbilanz bei der sicheren Verkapselung von genetischem Material, einschließlich der mRNA, und dem Transport zur Zielzelle oder zum Zielorgan. Sie sind sicher, wirksam, leicht anzupassen und effizient in der Herstellung“, erklärt Andrea Engel, Leiterin Forschung und Entwicklung bei Evonik. Doch Lipid-Nanopartikel, auch als LNPs bekannt, stoßen in manchen Bereichen an ihre Grenzen, etwa wenn es um die Menge an Wirkstoff geht, die transportiert werden kann. „Wenn wir das Potenzial von mRNA-Therapeutika voll ausschöpfen und eine größere Anzahl von Zielgeweben und -organen abdecken wollen, brauchen wir einen ‚Werkzeugkasten‘ mit unterschiedlichen Drug-Delivery-Technologien“, sagt Randl.
POLYMER ALS ALTERNATIVE
Vor gut zwei Jahren wurde ein Team von Evonik auf ein neues biologisch abbaubares Material aufmerksam, das von Wissenschaftlern der Stanford University entwickelt wurde. „Wir hatten die Bedeutung der mRNA für Drug-Delivery-Systeme seit Langem erkannt und waren auf der Suche nach Einsatzmöglichkeiten in Therapeutika“, sagt Engel. Das von Dr. Robert Waymouth, Dr. Paul Wender und Dr. Ronald Levy geführte Forscherteam arbeitete in Stanford (Kalifornien, USA) an einem neuen Material, das als Trägersubstanz genutzt werden könnte: positiv geladene synthetische Polymere, die sich schützend um die negativ geladene mRNA legen. Nachdem sie die mRNA zur Zielzelle gebracht haben, zerfallen sie in kleine Moleküle und verlieren ihre Ladung. „Die neuen Polymere können leicht synthetisiert werden und sind sehr stabil“, sagt Daniel Crommelin, emeritierter Professor für Pharmazeutische Wissenschaften der Universität Utrecht in den Niederlanden.
Crommelin sitzt für Evonik im Wissenschaftlichen Beirat und war daran beteiligt, das Potenzial der Technologie zu bewerten. „Neben einer Reihe anderer Systeme ist das ein interessanter alternativer Ansatz zu Lipid-Nanopartikeln“, sagt Crommelin. Die Wissenschaftler der Stanford University haben das neue Material „Charge-altering releasable transporters“ (freisetzbare, ladungsverändernde Transportsysteme) genannt. Die Abkürzung CART hat übrigens nicht zu tun mit den in der Krebstherapie eingesetzten CAR-T-Zellen.
VIELVERSPRECHENDE EIGENSCHAFTEN
Die Wissenschaftler von Evonik begannen mit einer gründlichen Bewertung des Materials, um sein Potenzial für die Drug-Delivery-Plattform des Konzerns zu beurteilen. Diese Plattform umfasst pharmazeutische Hilfsstoffe wie Lipide, die Entwicklung von Formulierungen und die Herstellung von klinischen Proben und Arzneimitteln im kommerziellen Maßstab. Philipp Heller, Projektmanager Innovation bei Evonik, war Teil des Evaluationsteams. Zunächst wurde untersucht, wie effizient die Polymere die mRNA verkapseln, zur Zelle transportieren und dort freisetzen können. „Bei unseren Laborexperimenten haben wir eine sehr hohe Effizienz erzielt, die mit der von LNPs vergleichbar oder sogar besser war“, sagt Heller. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die Toxizität. „Wenn man über In-vivo-Anwendungen nachdenkt, sollten die Polymere ein akzeptables Sicherheitsprofil haben.“ Und ein dritter Faktor ist die Immunogenität der Trägersubstanz, also die Frage, ob ein Patient allergisch darauf reagieren wird. „Bei den CARTs sahen alle drei Kriterien vielversprechend aus“, sagt Forschungschefin Engel. Evonik hat nicht nur die Eigenschaften der CARTs selbst bewertet, sondern auch geprüft, ob die Polymere in angemessenen Mengen hergestellt werden können. „Damit die Polymere für Kunden attraktiv sind, muss man in der Lage sein, eine ausreichende Menge für die Verwendung in klinischen Studien zu liefern“, sagt Heller. Im ersten Schritt gehe es darum, die Mengen von ein paar Milligramm oder einem Gramm auf mehrere Hundert Gramm zu erhöhen.
SYSTEMLOSUNGEN STATT EINZELPRODUKTE
Ein weiterer wichtiger Aspekt war die Frage, wie gut die neue Technologie bei Evonik zu den vorhandenen Synthesemöglichkeiten passt. CARTs sind komplett bioabbaubar: Sobald sie in biologische Medien injiziert werden, werden sie zu kleineren Molekülen abgebaut und schließlich ausgeschieden. „Die CARTs passen somit sehr gut zur Familie der bioresorbierbaren Polymere von Evonik wie Resomer und Lactel“, erklärt der Projektmanager. Statt auf Einzelprodukte zu setzen, konzentriert sich Evonik darauf, das Portfolio an Systemlösungen auszubauen, die die Herstellung einer Vielzahl von Produkten ermöglichen und passende Dienstleistungen umfassen. Das Angebot ist auf die individuellen Bedürfnisse der Kunden zugeschnitten und hat oft einen starken Fokus auf Nachhaltigkeit. Im Bereich der Drug-Delivery-Systeme bietet Evonik bereits Systemlösungen auf allen Stufen der Wertschöpfungskette an, darunter Formulierungstechnologien und Herstellungsdienstleistungen für klinische und kommerzielle Anwendungen für parenterale Arzneimittel.
Die CART-Plattform ist für Evonik eine ausgezeichnete Gelegenheit, das Portfolio zu erweitern. Im Juni hat Evonik ein umfassendes Abkommen mit der Stanford University über die kommerzielle Nutzung der Technologie einschließlich der Entwicklung und Skalierung der CART-Plattform geschlossen. Die Wissenschaftler in Stanford arbeiten weiter an der Entwicklung neuer Polymere und optimieren die Eigenschaften existierender CARTs. „Es geht darum, die Technologie und die zugrunde liegende Chemie weiter zu verbessern und neue Kandidaten hervorbringen, die möglicherweise andere Eigenschaften oder eine höhere Wirksamkeit haben“, erklärt Heller.
ERFAHRUNG ZAHLT SICH AUS
Evonik arbeitet derweil an Produktionsverfahren. „Wir planen, einen Musterkandidaten mit vielversprechenden Eigenschaften auszuwählen und mit der Entwicklung von Partikelformulierungen und stabilen Prozessen zu beginnen“, sagt Heller. „Das gibt uns Gelegenheit, praktische Erfahrungen zu sammeln, sodass Evonik startklar ist, sobald andere Kandidaten zur Verfügung stehen.“ Die Kapazitäten, um sofort mit der Produktion anzufangen, sind vorhanden. Die Monomere, die als Ausgangsmoleküle für die Herstellung der Polymere benötigt werden, werden in eigenen Laboren oder von einem Netzwerk von Auftragsfertigern produziert.
Im nächsten Schritt werden die Polymere am Standort in Birmingham (USA) aus den Monomeren synthetisiert, anschließend kontrolliert mit der mRNA gemischt und in Vancouver (Kanada) in Fläschchen abgefüllt. Für klinische Studien und kommerzielle Produkte müssen all diese Schritte unter Einhaltung aufwendiger Richtlinien und Regelwerke erfolgen. Die „gute Herstellungspraxis“ (Good Manufacturing Practice, GMP) etwa soll die Sicherheit bei der Anwendung am Menschen gewährleisten. „Produkt und die Prozesse müssen den höchsten Pharmastandards entsprechen“, sagt Heller. „Evonik ist einer der führenden modernen Auftragsfertiger für Drug-Delivery-Systeme. Wir haben eine langjährige Erfahrung und bieten den Vorteil, dass alle Schritte aus einer Hand kommen.“
Das kommt am Markt an: 70 Prozent der Befragten einer McKinsey-Umfrage unter 100 globalen Organisationen aus den Bereichen Biotechnologie, Pharma, Wissenschaft und Risikokapital gaben an, Unterstützung durch einen End-to-End-Partner zu bevorzugen. Mit der Aufskalierung von bioresorbierbaren Polymeren hat Evonik langjährige Erfahrungen. Seit den Neunzigerjahren führt sie solche Projekte erfolgreich durch. Die Anforderungen sind dabei besonders anspruchsvoll. Polymere können viele verschiedene Kettenlängen haben. Für die Anwendung in pharmazeutischen Produkten müssen die Spezifikationen genau definiert sein und einen reproduzierbaren und skalierbaren Prozess darstellen. „Wir müssen darauf achten, wie gut die Synthese funktioniert und wie eng die synthetisierten Polymere definiert sind“, erklärt Heller. Eine weitere wichtige Herausforderung ist die Reinheit des Materials. „Wir müssen auch die Lagerung und die Stabilitätsbedingungen bedenken. Dabei stellen sich Fragen wie: Müssen wir die Polymere einfrieren? Handelt es sich um eine Flüssigkeit oder ein Pulver? Und wie stabil könnten sie sein? Um die Polymere als Produkt zu etablieren, müssen wir diese Faktoren genauer betrachten als bei einer Synthese nur für Forschungszwecke“, sagt Heller.
ZWEI TECHNOLOGIEN FÜR DIE ZUKUNFT
Die geplante dreijährige Zusammenarbeit zwischen Evonik und der Stanford University ist bereits erfolgreich gestartet. Die Universität hat eine Reihe von CART-Molekülen entwickelt und die Ergebnisse publiziert. Aus technischer Sicht sind diese Moleküle für die Übertragung in die Klinik geeignet. „Unter idealen Voraussetzungen möchten wir mit der Entwicklung des Materials und des Herstellungsprozesses in drei Jahren komplett fertig sein“, sagt Andrea Engel. „Wir befinden uns in der Phase, in der Kunden den Wert der Technologie erkennen und sie bei ihrer Arzneimittelentwicklung einsetzen.“ Obwohl CARTs womöglich klare Vorteile gegenüber den heute verwendeten LNPs haben, sollen sie die bekannte Technologie nicht ersetzen. „Es geht nicht um ein Entweder-oder“, sagt die F&E-Chefin. „Die beiden Technologien ergänzen sich gegenseitig, weil sie neue Bereiche erschließen.“ Auch die LNP-Technologie werde künftig weiter verbessert, darin sind sich Engel und Heller einig. Beiratsmitglied Crommelin stimmt zu: „Es besteht definitiv ein Bedarf an wirksameren und aktiveren Systemen, die die aktuellen LNPs ergänzen. Die CART-Polymere wären ein Musterbeispiel für das Prinzip wissenschaftlicher Arbeit. Man entdeckt eine Technologie, die funktioniert, und versucht dann eine zu finden, die noch besser ist.“
EIN PORTFOLIO AUS POLYMEREN
So besitzen etwa andere Klassen von Nukleinsäuren wie siRNA (Small Interfering RNA) oder DNA ebenfalls ein hohes Potenzial zur Behandlung von Erkrankungen. Diese Wirkstoffe haben alle das gleiche Phosphatrückgrat und damit vergleichbare chemische und physikalisch-chemische Eigenschaften. „Ein Material, das sich als Trägersubstanz für einen Nukleinsäuretyp eignet, ist höchstwahrscheinlich auch für andere Typen aus dieser Klasse von Therapeutika geeignet“, erklärt Heller. Die Zusammenarbeit mit Stanford soll nicht auf ein Molekül oder einen Kandidaten beschränkt bleiben, sondern eine Kandidatenbibliothek aufbauen.
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Heller beschreibt das Ziel so: „ein Portfolio aus verschiedenen Polymeren für diverse Verwendungszwecke und mit Eigenschaften, die auf unterschiedliche Nukleinsäuren abgestimmt sind“. Die Bereitstellung eines Werkzeugkastens mit verschiedenen Drug-Delivery-Optionen wäre ein großer Schritt nach vorn für mRNA-Impfstoffe und -Therapeutika – und Millionen von Menschen, die davon profitieren würden.
Wie Lipidnanopartikel mRNA sicher an menschliche Zellen abgeben
Animation mit englischsprachiger Beschriftung.
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