Die Haut schützt unseren Körper vor der Außenwelt. Sie ist mit einem Säuremantel überzogen, der Keime tötet. Hautdrüsen produzieren Fette und Schweiß, um Schmutz und Schadstoffe fernzuhalten. Aber nicht nur unliebsame Eindringlinge werden auf diese Weise gestoppt. Auch Wirkstoffe, die in Cremes und Salben enthalten sind, schaffen es oft nicht ohne Hilfe durch die Barriere der Haut. Die Kosmetikbranche hat sich deshalb spezielle Technologien aus der Medizin abgeschaut: Trägersysteme. Sie können Kosmetikprodukte an ihr Ziel bringen.
Auf solche Trägersysteme hat sich Infinitec spezialisiert. Das Biotechunternehmen aus dem spanischen Barcelona kombiniert leistungsstarke Wirkstoffe mit innovativen Trägersystemen. „So werden die Wirkstoffe nicht nur in den Endprodukten stabilisiert, sondern auch an ihr Ziel auf zellulärer und sogar intrazellulärer Ebene gebracht“, sagt Natascia Grimaldi. Die Leiterin der Forschungs- und Entwicklungsabteilung sitzt gemeinsam mit Vertriebsdirektorin Marta Gil in einem gläsernen Konferenzraum. Durch die Scheiben sind etwa ein Dutzend Computerarbeitsplätze zu sehen, dahinter schließen sich Versuchsräume an. Hier im Barcelona Science Park haben viele forschende Unternehmen ihre Büros und Labors – und teilen sich die teuren Anlagen und Einrichtungen, die der Komplex bietet.
Seit Juli 2021 gehören die 60 Infinitec-Mitarbeiter zu Evonik. „Durch die Integration in Evonik können wir das Geschäft von Infinitec globalisieren“, sagt Thomas Satzinger, der bei Evonik die strategische Ausrichtung des Bereichs Care Solutions verantwortet und die Übernahme vorangetrieben hat. „Care Solutions hat bereits zahlreiche Unternehmen übernommen, deren Kernkompetenzen in den Bereichen Wirkstoffe sowie funktionelle Inhaltsstoffe für die Spezialchemie liegen. Die Trägersysteme aus Barcelona sind eine Komponente, die unsere Position als Lösungsanbieter für die Kosmetikindustrie stärkt. Diese Systeme lassen sich zum Beispiel mit Pflanzenextrakten kombinieren, sodass wir unseren Kunden unterschiedliche Produktversprechen bieten können“. (siehe auch Interview)
Start mit Wirkstoffkomplexen
Als Infinitec 2006 gegründet wurde, spielten die Trägersysteme für die Firmenstrategie noch keine große Rolle, erzählt Vertriebschefin Gil. Die Gründer Alfons Hidalgo und Josep Maria Borràs wollten damals Wirkstoffe für internationale Kosmetikunternehmen herstellen. Da die beiden aus dem Vertrieb stammten, stellten sie vor allem Naturwissenschaftler ein, die bei ihren Forschungen darauf stießen, dass bei Trägersystemen für den Transport von Wirkstoffen in die Haut noch viel Raum für Innovationen ist. „2017 fassten wir den Entschluss, uns auf Trägersysteme zu spezialisieren“, sagt Gil. „Die meisten unserer Technologien sind heute patentiert“, ergänzt Grimaldi. Insgesamt bietet das Unternehmen mehr als 40 Wirkstoffe und ein breites Portfolio an Trägersystemtechnologien an.
Die Systeme basieren auf exotischen Stoffen wie Algenextrakten und Carnaubawachs, Gold oder Platin und tragen nicht weniger ausgefallene Namen: „Skin Shuttle“, „Cosmetic Drone“ oder „Trojan“. Die Namen seien wichtig, erklären Gil und Grimaldi. Sie ließen in den Köpfen der Kunden – überwiegend Groß- und Zwischenhändler – ein Bild der Wirkweise entstehen. Eben das eines Transporters oder einer ferngesteuerten Drohne, die ihre Fracht präzise am Ziel abliefert. „Wir versuchen, Marketing und Technologie zusammenzudenken“, sagt Gil. „So machen wir unsere Produkte in der Branche bekannter.“
Das ist aber nur der erste Schritt. Der zweite und wichtigere: die Branche weiterbilden. Über viele Jahre fristeten Trägersysteme ein Nischendasein. Lange sollten sie in erster Linie stabilisieren: Die Wirkstoffe durften bei Kontakt mit anderen Substanzen nicht ihre Farbe oder Form ändern. Dabei vermögen die Systeme viel mehr.
Das gilt vor allem für Trojan Q10, einen Komplex aus Trägersystem und aktivem Wirkstoff – mikroskopisch klein mit gerade einmal 150 bis 300 Nanometer Durchmesser, das ist ein Hundertstel der Größe einer menschlichen Zelle. Einer Creme beigemengt, bewirkt Trojan Q10 eine Verjüngung der Mitochondrien, vermindert Falten und stärkt die Elastizität der Haut. Alles dank des Coenzyms Q10, das eingekapselt über Trägersysteme bis in die Mitochondrien der Hautzellen transportiert wird. „Es ist unser fortschrittlichstes Produkt“, sagt Grimaldi, so etwas finde sich auf dem Kosmetikmarkt kein zweites Mal. Trojan ist ein „Double Targeting System“, das zunächst auf bestimmte Zellen in der Haut und dann auf deren Mitochondrien abzielen kann. Die Kapsel besteht aus dem Copolymer PLGA, Poly(lactid-co-glycolid) acid, das Infinitec von Evonik bezieht.
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Trojanisches Pferd mit Dekoration
Gibt man im richtigen Moment das Coenzym Q10 dazu, wird es von den langkettigen PLGA-Molekülen verkapselt – das trojanische Pferd ist sozusagen beladen. Im nächsten Schritt wird die Außenhülle mit zwei unterschiedlichen Peptiden „dekoriert“ – so beschreibt es die Chemikerin Grimaldi. Sie stehen wie Spitzen nach außen ab. Die erste Sorte ist so designt, dass die Peptide an Membranproteine besonderer Hautzellen andocken: die Fibroblasten. Dort aktivieren sie einen sogenannten Carrier, der die trojanische Kapsel ins Zellinnere transportiert. Trifft Trojan Q10 dort auf ein Mitochondrium, kommt die zweite Art der Oberflächenpeptide zum Einsatz: Sie werden erkannt, und die Kapsel wird ins Innere gelotst. Dort setzt sie das Q10 frei.
Getarnt ans Ziel
So kommt das Coenzym Q10 ans Ziel.
„An den Sequenzen für die Oberflächenpeptide haben wir vier Jahre lang geforscht“, erzählt Grimaldi. Mit Erfolg: So ist das hochreaktive Q10 vor reaktionsfreudigen Molekülen im Organismus geschützt und wird erst in den Mitochondrien freigesetzt. Die Ergebnisse belegt Infinitec mit Studien. Dank Trojan Q10 werden Mitochondrien besser vor oxidativem Stress geschützt, sie sind aktiver und bilden mehr Energie in Form von ATP. Dadurch können ihre Hautzellen mehr Collagen bilden, was das Hautbild verbessert. Um solche Aussagen treffen zu können, die fürs Marketing in der Kosmetikbranche extrem wichtig sind, hat Grimaldis Team zwei identische Cremes verglichen – eine mit Trojan Q10, die andere mit Q10. 18 Probandinnen haben 56 Tage lang zweimal täglich eine Creme auf die linke und die andere auf die rechte Gesichtshälfte aufgetragen.
Das Ergebnis: „Trojan Q10 hat die Haut signifikant verjüngt und gestrafft. Und das mit einem Dreitausendstel der Q10-Dosis“, erklärt Grimaldi. Weil das Coenzym an den idealen Wirkpunkt gelangt, wird nur eine sehr geringe Menge benötigt. „Wir brauchen viel weniger Rohstoffe, um eine ähnliche Wirksamkeit zu erreichen wie die Konkurrenz“, sagt Gil. „Oft sind unsere Produkte sogar besser.“
Zu solchen Erfolgen führt immer ein steiniger Weg. „Wissenschaft ist hart und frustrierend“, sagt Grimaldi. Trotzdem finden die mittlerweile 13 Frauen und Männer der Forschungs- und Entwicklungsabteilung immer wieder Lösungen. Die meisten Teammitglieder hat Grimaldi selbst eingestellt, unter ihnen Camila Folle. Die 36-jährige Experimentalchemikerin mischt gerade mithilfe einer Feinwaage eine neue Formulierung für ein etabliertes Produkt: Phytostecol, ein Trägersystem auf Basis von Phytosterin – der pflanzlichen Entsprechung des tierischen Cholesterins. Folles Ziel ist es, Inhaltsstoffe zu ersetzen, um Phytostecol auf den chinesischen Markt zu bringen. Damit die strengen Zugangsbeschränkungen erfüllt werden, testet die Chemikerin einen zertifizierten Emulgator von Evonik, der auf erneuerbaren Rohstoffen basiert: Tego Care PBS 6MB. In Phytostecol muss er seine Fähigkeiten unter Beweis stellen.
Eine Creme für jedes Klima
„Ich stelle ihm viele unterschiedliche Herausforderungen“, sagt Folle und zeigt auf ein Regal voller durchsichtiger Döschen unter einer Lampe. Manche sind mit Alufolie umwickelt, andere nicht. Hier testet die Forscherin, wie sich die Cremes bei Tageslicht verhalten. Andere Dosen hat sie in eine Art Backofen bei 45 Grad Celsius gestellt, wieder andere sind 75-prozentiger Luftfeuchtigkeit ausgesetzt. Das soll das Klima in unterschiedlichen Regionen der Welt simulieren. „Die Öl- und Wasserphasen in der Creme dürfen sich in keiner Umgebung trennen. Und die Farbe sollte sich kaum verändern“, erklärt Folle und hält zwei Dosen hoch. Eine ist heller, die andere dunkler. Die Chemikerin sagt: „Die zweite Creme sollte auch nach Wochen so hell sein wie die erste.“ Die Suche nach der optimalen Formulierung wird noch etwas dauern. Hat sie diese aber gefunden, folgt die Skalierung.
Die im Labor erprobten „Kosmetikrezepte“ werden dazu nach Montornès del Vallès geschickt, genauer: ins Industriegebiet des Städtchens rund 30 Kilometer nordöstlich von Barcelona. Dort steht, direkt an der Autobahn hinter Betonwänden, auf 1.000 Quadratmetern die hochmoderne Produktionsstätte von Infinitec.
Vergoldetes Vitamin C
Betriebsleiter Ismael Darwish ist unter anderem für die Produktionsabteilung verantwortlich. Im Herzstück, dem 375 Quadratmeter großen Reinraum, summen Ventilatoren an der Decke. Sie tauschen die Luft 15-mal pro Stunde aus und filtern sie akribisch.
Darwish trägt eine Maske, Haarnetz, Kittel und Laborschuhe. Nichts soll die wertvollen Rohstoffe verunreinigen. In seiner Hand hält er ein Schälchen voll orangefarbener Krümel: Tetrachlorogold(III)-säure-Trihydrat – oder auch: Goldsalz. Die exklusive Substanz wird dem Trägersystem „Golden C“ zugesetzt, das dazu dient, Ascorbinsäure (Vitamin C) zu stabilisieren. Es genügen winzige Mengen. „Wir haben vielleicht 50 Gramm hier“, erklärt Darwish. „Damit können wir Hunderte Kilo ,Golden C‘ herstellen.“
»Diese Mentalität inspiriert uns.«
Thomas Satzinger Evonik-Stratege
Andere kostspielige Inhaltsstoffe, mit denen Darwish arbeitet, sind Platin, Saphir- und Diamantstaub, die in kleinen, unscheinbaren Fläschchen gelagert werden. Wer ihn aber nach dem wertvollsten Rohstoff fragt, erhält als Antwort: „Wasser.“ Wenn das kontaminiert sei, gefährde es ganze Tagesproduktionen. Das Wasser – es kommt nicht aus der Leitung, sondern wird eigens angeliefert – wird deshalb aufwendig gereinigt und kontrolliert. Über ein Rohrsystem wird es direkt zu den drei großen Mischreaktoren geleitet. Darin werden, oft über Stunden, die vielen Zutaten der Kosmetikprodukte zusammengerührt – alles von Computern überwacht, temperiert und dosiert.
Start-up-Geist im Konzern
Darwish ist seit dreieinhalb Jahren im Unternehmen. In dieser Zeit, so sagt er, habe er Infinitec auf dem Weg vom kleinen zum mittleren Unternehmen begleitet, das die Sprache der Konzerne spricht. Jeder Schritt wird dokumentiert. „Was nicht aufgeschrieben ist, existiert nicht“, sagt der Pharmazeut.
Insgesamt unterstehen Darwish acht Bereiche, von der Logistik bis zum Kundenservice, mit gerade einmal 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. „Wer krank oder im Urlaub ist, muss immer ersetzt werden können, damit die Produktion nicht stoppt.“ Er hat sein Team also geschult, bis jeder die zentralen Aufgaben eines anderen übernehmen konnte.
Die nachhaltige Ausrichtung und das unternehmerische Denken der Spanier haben auch den Evonik-Strategen Satzinger beeindruckt. „Diese Mentalität inspiriert uns: Alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen unternehmerisch denken, schnelle Entscheidungen treffen und kalkulierte Risiken eingehen, wenn es für das Geschäft sinnvoll ist.“