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Portrait Siegfried R. Waldvogel

»Es funktioniert – und es lohnt sich«

Siegfried R. Waldvogel
Lesedauer 5 min
29. Oktober 2024

Die meisten chemischen Prozesse werden heutzutage durch einen Katalysator beschleunigt. Durch Fortschritte in der Elektrochemie reicht künftig immer häufiger ­elektrischer Strom aus, um eine Reaktion anzutreiben, sagt Professor Siegfried R. Waldvogel vom Max-Planck-­Institut für Chemische Energiekonversion.

Alternativbild
Von Ralph H. Ahrens

Chemiker, beschreibt als Journalist gern Wege zu einer nachhaltigeren Chemie.

Nadine Albach
Von Nadine Albach

Redakteurin und Moderatorin

Herr Professor Waldvogel, die Chemieindustrie in der Europäischen Union will bis 2050 klimaneutral wirtschaften. Welche Rolle spielt dabei die Elektrochemie?

Dank der Elektrochemie können wir elektrischen Strom als Primärenergiequelle nutzen. Wir sind damit weniger abhängig von fossilen Quellen und verringern den CO2-Fußabdruck. Mehr noch: Wir werden weniger Rohstoffe benötigen, um chemische Substanzen herzustellen, und es entsteht weniger Abfall. Und mit ihrer Hilfe können Substanzen einfacher wiederverwendet werden. Es wird also leichter, in die Kreislaufwirtschaft einzusteigen.

Professor Waldvogel im Gespräch
Siegfried R. Waldvogel (55) ist seit Dezember 2023 Direktor der Abteilung Elektrosynthese am Max-Planck-Institut für Chemische Energie­konversion in Mülheim an der Ruhr, kurz MPI CEC. Der Chemiker und sein Team fokussieren sich darauf, Abfall- und Restströme durch das Einspeisen von Strom in wertvolle Chemikalien umzuwandeln. Zuvor erforschte ­Waldvogel als Professor an der Johannes Gutenberg-­Universität Mainz unter anderem, wie sich schnell testen lässt, wann Elektrosynthesen sinnvoll durch­zuführen sind und wie elektrosynthetische Umwand­lungen auch im industriellen Maßstab erfolgreich verlaufen können. 2018 hat er zu diesen Themen das Start-up ESy-Labs in Regensburg mitgegründet.

Wie schnell kann diese Transformation gelingen?

Es wird 20 bis 30 Jahre dauern, bis größere Teile der Chemieindustrie elektrifiziert sind. Aber es geht voran. Gerade in Deutschland tut sich sehr viel, etwa im ­Rahmen des Zukunftsclusters „Elektrifizierung Technischer Organischer Synthesen“, kurz ETOS. Dieses Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung läuft seit April 2023 – und viele Unternehmen sind dort vertreten. Die Umstellung wird ein schrittweiser Prozess sein, nicht alles kann sofort klappen. Aber es gibt bereits Bereiche, in denen wir schon heute ­zeigen können, dass es funktioniert und dass es sich lohnt. Dadurch wächst das Interesse an der Methode.

Die Zusammenhänge, die der Elektrochemie zugrunde liegen, sind schon lange bekannt.Warum erlebt sie gerade jetzt eine Renaissance?

Zum einen haben Wirtschaft und Wissenschaft verstanden, dass aufgrund der Klimakrise schnell etwas passieren muss. Zum anderen gab es in den zurückliegenden Jahrzehnten viele Innovationen, die den Einsatz elektrochemischer Verfahren erleichtern. So werden einige Elektroden heute aus nachhaltig hergestellten Kohlenstoffmaterialien produziert, die teure Edelmetalle oder giftiges Quecksilber ersetzen.

Derzeit hemmt der hohe Strompreis hierzulande die schnelle Verbreitung elektrochemischer Prozesse. Wie kann die Technologie wettbewerbsfähig werden?

"Wir brauchen alternative Produktionsmethoden"

Alternativbild

Im Moment kostet Strom in Europa in der Tat fünf-, sechsmal so viel wie in den USA, aber das dürfte sich ändern. Strom wird unsere Primärenergie der Zukunft sein. Windkraft und Photovoltaik machen ihn preiswerter– auch wenn das noch ein bisschen dauert. Stromspeichersysteme werden dazu beitragen, dass Strom künftig auch zu Zeiten zur Verfügung steht, in denen er heute noch knapp ist. Ich sehe in der mit regenerativem Strom betriebenen Elektrochemie die einzige Möglichkeit, chemische Reaktionen wirklich nachhaltig durchzuführen. Es lohnt sich also, weiter in Elektrochemie zu investieren, weil uns das einen Vorsprung gegenüber anderen Regionen verschafft.

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Was fasziniert Sie als Wissenschaftler an der Elektrochemie?

Die Vielfalt der Möglichkeiten. Vor allem bei Reak­tionen, die viel Energiezufuhr erfordern, ist die Elektrochemie häufig eine elegante Lösung. Chemische Bindungen bestehen aus Elektronen. Gibt man ein Elektron hinzu oder nimmt eins weg, werden diese Bindungen aktiviert. Bislang werden dafür oft Metalle oder andere Katalysatoren genutzt. Mit elektrischem Strom lassen sich Stoffe durch Wegnahme oder Hinzufügen von Elektronen viel stärker oxidieren beziehungsweise reduzieren als mit einem chemischen Reagenz. Auf einmal werden Reaktionen möglich, die wir vorher nicht durchführen konnten. Das Charmante an der Elektrochemie: Es werden Syntheseschritte eingespart oder weniger Reagenzien benötigt. Zudem werden die Prozesse auch sicherer.

Wie wollen Sie am Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion die Elektrochemie vorantreiben?

Wir arbeiten bildlich gesprochen an den weißen Flecken auf dieser wissenschaftlichen Landkarte. Unser Ansporn ist es, sehr viel besser zu sein als die traditionelle Chemie – indem wir die Synthese von Produkten vereinfachen oder ihre Aufarbeitung. Natürlich wollen wir auch, dass unsere Entwicklungen wirklich genutzt werden. Am Ende geht es also nicht nur darum, einen eleganten Prozess zu entwickeln. Wir müssen auch gute Argumente haben, die einen Betriebswirt überzeugen, ihn umzusetzen.

An was für Projekten arbeiten Sie zurzeit?

Häufig wollen wir Stoffkreisläufe schließen, um vermeintliche Abfälle weiternutzen zu können. In Norwegen sind wir zum Beispiel an zwei Projekten beteiligt. Es geht darum, Lignosulfonat beziehungsweise Kraftlignin – also Reststoffe aus der Holzverarbeitung – zu wertvollen Aromastoffen wie Vanillin zu verarbeiten. Die Prozesse unterscheiden sich voneinander, aber beide werden jetzt erstmals im Pilotmaßstab im industriellen Umfeld getestet. Sind sie erfolgreich, könnten sich Zellstofffabriken zu Bioraffinerien wandeln.

Könnte man mit solchen Verfahren auch Altlasten wieder in den Kreislauf zurückholen?

Ja, zum Beispiel das Insektengift Lindan. Es ist bereits seit vielen Jahrzehnten in der ­Bundesrepublik Deutschland verboten. Viele Millionen Tonnen Abfall, die bei seiner Herstellung angefallen sind, lagern aber bis heute in Deponien bei uns, in Rumänien oder Spanien. Drei Viertel des Gewichts dieser Abfälle macht das darin enthaltene Chlor aus. Indem wir es elektro­chemisch abspalten, erhalten wir ­zusätzlich ­Benzol oder chlorierte Produkte, die die Industrie ­benötigt. Ein anderes Beispiel sind Verbrennungsgase wie Schwefeldioxid. Dieses lässt sich elektrochemisch in organische Substanzen einbauen, und man erhält antibakterielle Wirkstoffe, die Sulfonamide, die in der Human- und Tiermedizin eingesetzt werden können. Sogar zum Gelingen der Energiewende wird die Elektro­­chemie beitragen.

Professor Waldvogel lehnt im Stehen an einer Wand. Hinter ihm ein dunkles Gebäude.

Das müssen Sie erklären.

Nehmen wir die Chlor-Alkali-Elektrolyse, das größte elektrochemische Verfahren, das wir in der ­Chemie betreiben. Um Ihnen ein Gefühl zu geben: Etwa 14 Prozent des in Nordrhein-Westfalen indus­triell genutzten Stroms wird für dieses Verfahren verwendet. Das entspricht einer Leistung von mehreren Gigawatt. Wird nun plötzlich deutlich mehr oder ­weniger Windstrom als prognostiziert erzeugt, können die Anlagen mit mehr oder weniger Leistung gefahren werden und so helfen, die Netze zu stabilisieren.

Die Elektrochemie kann also einen Beitrag leisten zur flexiblen Produktion?

Das ist durchaus eine Option. Dazu müssten Anlagen aber anders gebaut werden. Der Begriff beschreibt die Idee, bisher konstant betriebene Produktionsprozesse flexibel an das Stromangebot anzupassen. So sollen sich Stromverbraucher wie Elektromotoren oder ­-heizungen flexibel hinzu- oder abschalten lassen, ohne dass das allzu starke Auswirkungen auf den Produk­tionsprozess hat. Mit Elektrolysezellen ginge das recht einfach. Auch einige Prozesse sind so robust, dass sie die Leistung problemlos verdoppeln oder verdreifachen können. Aber es wäre wichtig, die notwendige Peripherie von Anfang an groß genug zu gestalten. Sie müssten viel größere Puffer einbauen, als das bisher der Fall ist.

Wo liegen die Grenzen der Elektrochemie?

Man muss sich immer den Einzelfall anschauen. Ammoniak etwa könnten wir prinzipiell elektrochemisch herstellen. Der Haken daran ist, dass dabei immer eine stark verdünnte wässrige Lösung entsteht, man meist aber wasserfreies Ammoniak weiterverarbeiten will. Das erhalten wir heute schon im Haber-Bosch-Verfahren, also durch die Synthese von Ammoniak aus Luftstickstoff. Hier ist das klassische Verfahren im Vorteil. Den größten Teil der Energie benötigt jedoch die Herstellung des für das Verfahren nötigen Wasserstoffs – und der ließe sich hervorragend durch Wasser-Elektrolyse herstellen. Entscheidend ist zudem, wofür das Ammoniak genutzt wird.

Professor Waldvogels hand beim Interview auf einer Elements-Prontausgabe.

Sagen wir, wir machen Düngemittel daraus …

Dann würden Sie also Nitrate herstellen. Es gibt erste Arbeiten, die zeigen, dass sich der Stickstoff elektrochemisch direkt zum Nitrat oxidieren lässt. Ganz ohne Umweg über das Ammoniak. Das zeigt, wie wichtig es ist, vom Ende her zu denken. Die Frage ist: Welches Produkt will man nutzen, und wie lässt es sich energetisch am besten herstellen?

Evonik entwickelt eine bestimmte Spielart der ­Elektrochemie, die Elektrodialyse, weiter. Worauf kommt es dabei an?

Bei der Elektrodialyse sind die Membranen der Schlüssel. Sie sind ionenselektiv, lassen also entweder nur negativ oder nur positiv geladene Teilchen durch. Dadurch können sie Stoffe trennen und zum Beispiel Säuren oder Laugen aufbereiten, die oft in chemischen Reaktionen als Nebenprodukt entstehen. Grundsätzlich soll eine Anlage möglichst lange laufen, ohne das manuell eingegriffen werden muss. Die Membranen haben aber eine begrenzte Standzeit: Bei der Chlor-­Alkali-Elektrolyse müssen sie nach etwa acht Jahren gewechselt werden. Das ist ein aufwendiger Prozess, der viel händische Arbeit erfordert. Zudem erhöht so eine Membran den Energiebedarf des Systems, für jede einzelne brauchen sie einige 100 Millivolt zusätzlich. Am Ende wird sich in der Regel das kostengünstigste Verfahren durchsetzen. Das kann – je nach Zielmolekül – ein elektrochemisches Verfahren wie Elektro­dialyse oder Direktsynthese sein oder auch mal ein klassisches Verfahren.

Eignet sich Elektrochemie dann überhaupt für die Herstellung von Grundchemikalien?

Grundsätzlich schon. Über Nitrate haben wir bereits gesprochen, das Verfahren hierfür steckt aber noch in den Kinderschuhen. Und auch von der kommerziellen Treibstoffherstellung sind wir weit entfernt. Dafür ist Strom jetzt noch viel zu teuer. Bei der Synthese organischer Verbindungen betritt man hingegen ein anderes Preissegment. Da ist, abhängig vom ­konkreten Produkt, schon vieles möglich. Neben dem Preis ­spielen manchmal auch ganz andere Überlegungen eine Rolle. Pharmaunternehmen etwa setzen heute für manche Prozesse teure und seltene Metalle wie ­Iridium oder Ruthenium als Katalysatoren ein. Viele dieser Metalle werden aus politisch wenig zuverlässigen Staaten bezogen. Deshalb ist es sinnvoll, über Alternativen nachzudenken.

Worin besteht – neben den wirtschaftlichen und ­technischen Punkten – die größte Herausforderung bei der Umsetzung elektrochemischer Prozesse?

Wir müssen sicherstellen, dass wir gut ausgebildete Experten haben. Elektrochemie ist mehr als Batterieforschung und das Erlernen von Strom-Spannungskurven. Auch das Herstellen und Isolieren der Produkte ist wichtig. Das ist im Prinzip die präparative Chemie kombiniert mit der Elektrochemie: Es kommen also zwei Disziplinen zusammen, und es wäre gut, wenn dies an mehreren Universitäten gelehrt würde. 

Professor Waldvogel spricht beim Interview in ein Aufnahmegerät.