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Neustart für Altreifen

Circularity Mobilität Klimaschutz
Lesedauer 8 min

Der Hauptbestandteil alter Autoreifen lässt sich bisher kaum für die Produktion neuer Pneus verwenden. Das liegt auch daran, dass sich die für die Gummibildung wichtige Vulkanisation nicht einfach umkehren lässt. Evonik forscht an einer Technologie, die mehr Altreifenmaterial fit für den Neueinsatz macht.

Es war ein Meilenstein der Chemie, als es Charles Goodyear und Thomas Hancock vor 180 Jahren unabhängig voneinander gelang, aus labberigem Naturkautschuk elastisches und zugleich strapazierfähiges Gummi herzustellen. Den Prozess nannten sie Vulkanisation – schließlich waren Hitze und Schwefel im Spiel. Gummi trat in der Folge einen Siegeszug an und ist heute aus dem Alltag kaum wegzudenken. Zu den wichtigsten Produkten aus dem Allround-Werkstoff gehören Reifen, ohne die Mobilität auf unseren Straßen unmöglich wäre.

Rund 1,6 Milliarden Fahrzeuge sind weltweit unterwegs, die in ihrem Leben mehrfach mit Reifen ausgerüstet werden müssen. 2023 wurden knapp 1,8 Milliarden Reifen produziert und gleichzeitig ähnlich viele Alt­reifen für immer von den Felgen abgezogen (siehe Data Mining, Seite 57).

Im Idealfall würde man das Material der ausgedienten Reifen als Rohstoff für deren Nachfolger nutzen. Alt­reifen lassen sich gut einsammeln und liegen, anders als die meisten Kunststoffe, sortenrein vor. Warum also die Gummibestandteile nicht einfach einschmelzen und für neue Reifen verwenden? Das geht leider nicht. Die Vulkanisation hat nämlich eine Kehrseite: Chemisch lässt sie sich bislang nur mit viel Aufwand rückgängig machen.

Blick durch die Mitte einer langen Reihe von Autoreifen.

VOM ABFALL ZUM ROHSTOFF

Lange Zeit galten abgefahrene Reifen als Abfall. Noch in den 1990er-Jahren landet selbst in Europa ein Großteil auf Deponien. Der Rest wurde meist verbrannt, um etwa in Zementwerken Energie zu erzeugen. Irgendwann kam die Idee auf, alte Reifen zu schreddern und zu mahlen. Das so erzeugte Gummimehl geht seither allerdings vor allem in Straßenbeläge, Sportböden oder Baumaterialien.

Dass Reifengummi wieder für Reifen genutzt wird, ist die Ausnahme. „Branchenexperten schätzen, dass Reifenhersteller allenfalls fünf Prozent des Kautschuks in ihren Gummirezepturen durch Recyclingmehl ersetzen“, sagt Dr. ­Christian Mani. Mehr, so heißt es, könnte die Eigenschaften der Reifen verschlechtern.

Seit einigen Jahren aber ist in der Branche viel in Bewegung gekommen. Praktisch alle weltweit aktiven Reifenproduzenten haben sich ehrgeizige Nachhaltigkeitsziele gesetzt und wollen den Anteil erneuerbarer und recycelter Materialien in ihren Rezepturen stark steigern. Ein US-Hersteller präsentierte Anfang 2023 einen Demo-Reifen, der zu 90 Prozent aus nachhaltigen Rohstoffen besteht, immerhin sieben Prozent stammen dem Unternehmen zufolge aus Altreifen. Das Ziel vieler Hersteller ist klar: Stoffkreisläufe schließen.

Zwei Hände in blauen Handschuhen entnehmen ein Prüfstück aus einer Halterung.

Der Weg dorthin hält jedoch viele technische Herausforderungen bereit. Denn die Einarbeitung von altem Gummi in neues ist eine komplizierte Angelegenheit. Die Eigenschaften des damit hergestellten Materials reichen nicht an das von Gummi aus ausschließlich neuen Rohstoffen heran. Das liegt Christian Mani zufolge vor allem daran, dass sich die Moleküle aus dem Recycling-Gummi­mehl bei der erneuten Vulkanisation kaum mit neuem Material vernetzen und potenzielle Schwach­stellen entstehen. Um das zu ändern, müsste man das molekulare Netzwerk im Altgummi zuvor aufbrechen, also devulkanisieren (siehe Infografik).

Devulkanisieren – aber richtig

Eine Grafik erklärt den Unterscheid zwischen bisherigen Verfahren und dem neuen von Evonik.
Für den Wiedereinsatz von altem Gummi gilt es, dessen molekulares Netzwerk selektiv aufzubrechen.

Genau daran arbeitet Mani. Bei der Creavis, der strategischen Innovationseinheit von Evonik, forscht der Chemiker seit einigen Jahren in Marl an Kreislaufkonzepten für Polymermaterialien. Eines seiner Projekte dreht sich um Altreifen und darum, die Vulkanisation im darin enthaltenen Gummi zumindest teilweise rückgängig zu machen. So wollen er und sein Team den bisherigen Anteil recycelten Gummis in neuen Reifen vervielfachen.

Ein Prüfgerät zieht an einem Prüfkörper, um die Reißfestigjeit zu testen.
Elastisch: Die Zugfestig­keit unterschied­licher Gummimischungen wird an hantelförmigen Prüfkörpern getestet, sogenannten Schulterstäben.

AUSSICHTSREICHER KANDIDAT

Vielerorts arbeiten Forscher derzeit an der Devulkanisation. Bislang haben sie jedoch noch keinen Ansatz gefunden, der zu einer breiten industriellen Anwendung geführt hätte. Thermisch-mechanische Verfahren etwa haben unerwünschte Nebenwirkungen auf das molekulare Netzwerk im Altgummi. Durch chemische Zusätze versucht man daher, das Reaktionsgeschehen besser zu kontrollieren und in die richtigen Bahnen zu lenken. Devulkanisationshilfen heißen solche Zusätze. „Einige Substanzen schaffen das bereits recht gut, doch leider sind sie giftig oder sorgen für unerwünschte Gerüche im späteren Gummiprodukt“, sagt Prof. Dr. Wilma Dierkes, außerordentliche Professorin an der Universität Twente in Enschede, wo sie sich seit mehr als 20 Jahren mit Devulkanisation beschäftigt. Ihr Forschungsbereich kooperiert seit einigen Jahren mit dem Evonik-Team um Mani.

Während dieser Zusammenarbeit kam ein Stoffkandidat in den Blick, der viele Anforderungen erfüllt und die Nachteile bisheriger Devulkanisationshilfen vermeidet. Zentraler Bestandteil ist ein Vinylsilan – eine Verbindung, bei der ein zentrales Siliziumatom eine seiner Bindungen zu einer Vinylgruppe bildet.

Weil diese recht reaktionsfreudig ist, kann das Vinylsilan während der Devulkanisation als Radikalfänger dienen. „Radikale bilden sich beim Brechen der Schwefelbrücken“, erklärt Mani: „Auf beiden Seiten bleiben Molekül-Enden zurück, die so reaktiv sind, dass sie sofort neue Bindungen knüpfen.“

Christian Mani lehnt leicht seitlich an einem Geländer. Er trägt einen blauen Anzug und ein weißes T-Shirt.

Devulkanisationshilfen „versiegeln“ diese Molekül-Enden chemisch und nehmen ihnen ihre Reaktivität. „Die Vinylgruppe in unserem Silan verhindert so eine Rückvernetzung“, so der Forscher. Zugleich soll das Vinylsilan auch solche Radikale abfangen, die die Kautschuk-Polymerketten aufbrechen können – und so eine unerwünschte Nebenwirkung verhindern.

Daneben erfüllt das Vinylsilan eine weitere Aufgabe, die vor allem beim Recycling von Pkw-Reifen wichtig ist. Anders als etwa Exemplare für Lkw enthalten sie in ihrem Laufflächengummi nämlich einen chemisch eingebundenen Füllstoff: Kieselsäure. „Fürs Recycling ist es von großer Bedeutung, diese Kieselsäure zu reaktivieren, sodass sie beim abermaligen Vulkanisieren neue chemische Bindungen eingehen kann“, erklärt Mani. Genau das leistet Vinylsilan.

Um herauszufinden, wie gut eine Devulkanisationshilfe ihren Job erledigt, sind eine Reihe von Tests notwendig: zum einen mit dem Devulkanisat, also dem Produkt der Devulkanisierung von altem Gummi, zum anderen mit dem neuen Gummi, für dessen Herstellung das Devulkanisat verwendet wurde.

Für solche Untersuchungen reist Christian Mani immer wieder nach Wesseling südlich von Köln. Dort befindet sich die Evonik-Anwendungstechnik Tire & Rubber. Unter anderem entwickelt sie Kieselsäureprodukte für Pkw-Reifen und stellt Proben für Versuchszwecke her. Die dafür erforderliche Testinfrastruktur nutzt Mani nun mit. Der Creavis-Forscher kann hier Gummiteile mit beliebigen Rezepturen herstellen lassen. Und es ist möglich, die Eigenschaften des produzierten Gummis direkt zu untersuchen.

Ein rechteckiges Stück Gummi liegt auf einer gitterförmigen Unterlage.

TESTS MIT GUMMIHANTELN

Auch an diesem sonnigen Tag steht Christian Mani wieder einmal im Prüflabor. Mit Dr. Jens Kiesewetter, dem Leiter der Anwendungstechnik in Wesseling, schaut er auf eine Apparatur, die gerade ein schwarzes, hantel­förmiges Gummiteil in die Länge zieht. Ein Monitor daneben zeigt ein Diagramm, in dem die aufgewendete Kraft gegen die Dehnungslänge des Gummiteils aufgetragen ist: eine Linie, die ansteigt.

Als die Gummihantel ihre Länge annähernd verdoppelt hat, reißt sie in der Mitte. Im selben Moment fällt die Kurve auf dem Monitor senkrecht ab. „Das war jetzt die Bruchdehnung“, sagt Kiesewetter und erklärt, dass sich aus der am Ende aufgewendeten Kraft und der dabei erreichten maximalen Dehnung des Gummis die Zug­festigkeit errechnen lässt.

Christian Mani und Jens Kiesewetter besprechen sich vor einem Monitor.

Mani und Kiesewetter kontrollieren die Werte, dann geht es weiter zum nächsten Testaufbau. „Unsere Gummi­proben enthalten unterschiedliche Anteile an Devulkanisat, und wir wollen schauen, wie sich diese Anteile auf die Eigenschaften auswirken“, erklärt Mani. Neben der Zugfestigkeit seien das etwa die Härte oder die Materialhomogenität.

Die Forscher verwenden bei ihren Versuchen eine Rezeptur für das Laufflächengummi von Pkw-Reifen, weil dies zu den anspruchsvollsten Reifenkomponenten zählt. Dazu ist es wichtig zu wissen, dass ein Reifen zwar durchgehend aus Gummi besteht, die Rezepturen für die einzelnen Bestandteile wie Lauffläche, Karkasse, Seiten­wand, Wulst oder Innenbeschichtung aber jeweils unterschiedlich sind, etwa was die Art des verwendeten Kautschuks betrifft.

Die Lauffläche muss dabei den höchsten Anforderungen standhalten und garantiert nicht zuletzt die Sicherheit des Fahrzeugs. „Funktioniert ein Devulkanisat in dieser Komponente, dann wird es sich mit ­großer Wahrscheinlichkeit auch für einige der anderen Reifen­teile eignen“, sagt Wilma Dierkes von der Universität Twente.

Ein Gummistreifen liegt in einem Testgerät und wird mit bläulichem Licht angestrahlt.

DAS ZIEL: 20 PROZENT

„Die bisherigen Laborversuche deuten darauf hin, dass sich bis zu 20 Prozent des Kautschuks durch Devulkanisat ersetzen lassen und das damit hergestellte Gummi immer noch den hohen Qualitätsansprüchen von Reifen­herstellern genügen würde“, sagt Christian Mani. Das wäre etwa eine Vervierfachung gegenüber den Mengen an Gummimehl, die Reifenhersteller aktuell in ihre Rezepturen einarbeiten.

Dass nun so viel mehr möglich ist, erklärt Mani mit dem gelungenen Aufbrechen der Schwefelbrücken und auch der Bindungen zwischen Füllstoff und ­Polymer­netzwerk. Damit seien die in den Kautschuk­ketten noch vorhandenen Doppelbindungen besser zugänglich geworden und könnten bei der neuerlichen Vulkanisation für Vernetzungen genutzt werden.

DER WEG IN DIE INDUSTRIELLE PRAXIS

Trotz der bisherigen Erfolge sei es jedoch zu früh, auf Reifenhersteller zuzugehen, sagt Mani. „Bisher ­stammen unsere Devulkanisate aus Laborversuchen. Derzeit versuchen wir sicherzustellen, dass die Eigenschaften auch dann gewährleistet sind, wenn wir in größeren Anlagen devulkanisieren, wie sie für eine industrielle Anwendung nötig wären.“

Damit kann auch noch nicht gesagt werden, in welche Reifenkomponenten und mit welchem Anteil Hersteller das Devulkanisat später einmal einarbeiten würden. Wären es wirklich die 20 Prozent im anspruchsvollen Laufflächengummi, kann sich Recy­cling­forscherin Wilma Dierkes sogar vorstellen, dass die Wiederverwertungsquote in anderen Reifenkomponenten höher ist.

Verschiedene Gummi-Muster hängen an einem White-Board an einer Wand.

Und noch etwas gilt es vorab zu testen. Lange Zeit haben Mani und sein Team das Gummi für ihre Versuche selbst im Technikum produziert. In der ­industriellen Praxis käme das Material direkt von Firmen, die Alt­reifen aufarbeiten. Sie trennen zwar im Reifen enthal­tene Stahl- und Textilanteile ab, aber die verschiedenen Gummi­typen von Karkasse, Seitenwand oder Lauffläche lassen sich dort nicht separieren. Gummimehl von Alt­reifen ist daher ein Gemisch. Derzeit probieren die Evonik-Forscher um Mani aus, ob sich ihre für definiertes Gummi bewährte Methode auch hierfür eignet. Um das zu ermitteln, wird Mani noch einige Zeit auf die Unterstützung von Jens Kiesewetter und seinem Team zurückgreifen.

Weder Charles Goodyear noch Thomas Hancock ­hätten sich wohl träumen lassen, dass es eines Tages ein Ziel sein könnte, ihre mit großen Mühen und Rückschlägen entwickelte Vulkanisation rückgängig zu machen. Um Rohstoffengpässe, Nachhaltigkeit und Kreislaufkonzepte mussten sie sich allerdings auch noch keine Gedanken machen. Das ist heute anders. Für Christian Mani wäre es daher ein großer Erfolg, wenn Evonik eines Tages mit einem von seinem Team entwickelten Produkt dazu beitragen würde, deutlich mehr Reifengummi als bisher im Kreislauf zu halten. 

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Christian Mani erklärt das Devulkanisieren von Altreifen

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