Lange Zeit galt Lignin als Abfallstoff aus der Zelluloseherstellung. Der Holzbestandteil wurde hauptsächlich zur Energiegewinnung verbrannt. Dabei stecken in dem natürlichen Rohstoff verborgene Potenziale – als Baustein für Hochleistungskunststoffe.
Für die meisten Menschen sieht diese bräunlich-zähe Flüssigkeit, die regelmäßig in großen Mengen in Zellstofffabriken anfällt, wie Abfall aus. Jemand wie Dr. Frank Weinelt sieht darin jedoch einen chancenreichen Kandidaten für die Entwicklung von Hochleistungskunststoffen. Der Chemiker hat sich diesen Blick antrainiert: Als Leiter der Produkt- und Prozessentwicklung im Geschäftsgebiet High Performance Polymers bei Evonik ist Weinelt ständig auf der Suche nach Rohstoffen, aus denen sich Bausteine für Kunststoffe gewinnen lassen. Ihm geht es darum, natürliche Alternativen zum Erdöl aufzuspüren, seit Jahrzehnten die Grundlage für petrochemische Produkte.
Eines von Weinelts Erfolg versprechendsten Naturtalenten ist diese braune Brühe: Lignin, ein Bestandteil von Holz. Das natürliche Polymer ist ein Abfallstoff, der bei der Produktion von Zellulose entsteht, etwa für Schreib- oder Toilettenpapier. Weit mehr als 50 Millionen Tonnen Lignin fallen in der Papierindustrie weltweit pro Jahr an. „Lignin ist ein erneuerbarer Rohstoff und zudem günstig“, schwärmt Weinelt. „Die Natur liefert dieses Material frei Haus und in rauen Mengen.“
Da es sich nur sehr langsam biologisch abbaut, wurde Lignin bislang hauptsächlich getrocknet und zur Energiegewinnung verbrannt. Für die Polymerspezialisten von Evonik steckt darin jedoch viel mehr Potenzial: „Lignin ist ein nachhaltiger Rohstoff, der sich gut zur Erzeugung interessanter Monomere eignet“, sagt Weinelt. „Etwa von substituierter Adipinsäure, einem möglichen Bestandteil von Hochleistungskunststoffen, der uns bislang nicht zur Verfügung stand und sich aus petrochemischen Rohstoffen aller Voraussicht nach nicht so leicht gewinnen lässt.“
NEUE QUELLE FÜR HIGHTECH-MATERIAL
Die Anfänge seiner Suche reichen ins Jahr 2017 zurück: Damals traf sich Weinelt regelmäßig mit Siegfried Waldvogel, Professor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Experte für Elektrochemie. Die Gespräche kreisten zunächst um die Renaissance der Elektrolyse, die wegen stark gesunkener Kosten für erneuerbare Energien vermehrt zum Einsatz kommt – auch zur Produktion von Basischemikalien. Während der Treffen im Chemiepark Marl entwickelten die beiden Forscher nach und nach eine Idee: das Biopolymer Lignin mittels Elektrolyse in Monomere umzuwandeln, die anschließend zu Hochleistungspolymeren weiterverarbeitet werden können. „So machen wir aus einem scheinbar wertlosen Material ein wertvolles“, erklärt Weinelt.
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Die Elektrolyse eignet sich dafür in mehrfacher Hinsicht: „Zum einen stammt der Strom komplett aus regenerativen Energiequellen, die mittlerweile gut verfügbar sind“, erklärt Waldvogel. „Zum anderen bleibt, anders als bei klassischen organischen Verfahren, bei der Elektrolyse kein Reagenzabfall als Nebenprodukt übrig.“
Ein Projekt, 16 Partner
Im Forschungsprogramm „Liberate“ (Lignin Biorefinery Approach using Electrochemical Flow) beschäftigen sich insgesamt 16 Partner mit elektrochemischen Anwendungen des Ausgangsstoffs Lignin. Neben Evonik sind die beiden Chemiehersteller Perstorp und Oxiris an dem Konsortium beteiligt, außerdem weitere sieben kleine und mittlere Unternehmen, vier internationale Forschungseinrichtungen (unter anderem die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der Angewandten Forschung) sowie zwei Universitäten. Das Projekt wird mit einer Summe von insgesamt rund zehn Millionen € unterstützt.
Mit ihrer Idee bewarben sich die Forscher für das EU-Förderprogramm „Horizon 2020“ – und erhielten Anfang 2018 den Zuschlag. Seitdem sind Konzern und Lehrstuhl Teil des europaweiten „Liberate“-Konsortiums (mehr dazu im Infokasten). „Liberate besteht aus mehreren Teilprojekten“, erklärt Chefkoordinator Angel Manuel Valdivielso vom Technologiezentrum Leitat mit Sitz in Barcelona. „Ihnen ist allen gemein, dass sie elektrochemische Verfahren zur Umwandlung von Lignin in verschiedene Basischemikalien nutzen.“
Während Evonik und die Forscher in Mainz Monomere aus Lignin gewinnen, arbeiten andere Partner an der Umwandlung von Kraft-Lignin in den Aromastoff Vanillin. Ein weiterer Teil des Konsortiums treibt die Umsetzung des Biopolymers in oligomere Phenolderivate voran (siehe Schaubild).
Die Zeit läuft. Ende 2021 soll eine elektrochemische Pilotanlage im norwegischen Trondheim in Betrieb gehen, in der die Elektrolyse von Lignin im industriellen Kontext durchgeführt werden kann. „Mit dieser Pilotanlage erhalten wir die Möglichkeit, Chemikalien auf Lignin-Basis elektrochemisch so effizient herzustellen, dass sie perspektivisch mit konventionellen Produkten konkurrieren können“, sagt Valdivielso. „Weltweit stellen immer mehr Unternehmen ihre Produktion auf biobasierte Materialien um – der Bedarf an nachweislich nachhaltigen Chemikalien ist dementsprechend groß und wird weiterwachsen.“
UNTER STROM GESETZT
Wie das Verfahren im Kleinen bereits funktioniert, kann man in den Laborräumen der Universität Mainz begutachten.Hier arbeitet Siegfried Waldvogel Tag für Tag mit gelöstem Lignin, das ihm von Zellstoffherstellern zugesendet wird. Dessen Elektrolyse vollzieht sich in mehreren Schritten: „Zunächst lösen wir die benötigten Bausteine aus dem Polymer heraus“, sagt Waldvogel. Dafür setzen seine Forscherkollegen das in Natronlauge gelöste Lignin in einem Druckbehälter aus Edelstahl unter Strom.
Aus diesem ersten Schritt, der Depolymerisation, entstehen Phenole, die anschließend mithilfe eines Katalysators mit Wasserstoff reagieren. War diese Hydrierung erfolgreich, erhalten die Forscher wachsartige Cyclohexanole, die im finalen Schritt in einer großen Glaszelle oxidiert werden. „Nach Abschluss der Oxidation bekommen wir biobasierte Dicarbonsäuren, beispielsweise substituierte Adipinsäure, die zur Weiterverarbeitung in Copolymere genutzt werden können“, sagt Waldvogel.
Im Mainzer Labor geht es um die Grundlagenforschung, die produzierten Mengen sind dementsprechend gering. Künftig soll die Elektrolyse von Lignin in großem Maßstab stattfinden: „Während die Schritte bis zu den Cyclohexanolen extern durchgeführt werden, wollen wir die Oxidation zu den Adipinsäurederivaten bei Evonik vornehmen, sobald es wirtschaftlich sinnvoll ist“, erklärt Polymerspezialist Weinelt. „Die Kooperation mit der Universität Mainz ist die beste Basis, um unser elektrochemisches Know-how in diese Richtung zu vertiefen.“
VOM MONOMER ZUM COPOLYMER
Aktuell fokussieren sich die Forscher darauf, Verfahren und Ausbeute zu optimieren. Es geht um Menge und Qualität: Je reiner die aus Mainz gelieferten Produkte, desto mehr können die Evonik-Polymerspezialisten in Marl damit anfangen. Etwa Dr. Franz-Erich Baumann, der dort seit mehr als drei Jahrzehnten die Entwicklung von Basispolymeren vorantreibt. Baumanns Labor steht voller Messgeräte und Apparaturen, mit denen er die frisch eingetroffenen Dicarbonsäuren zunächst untersucht: Eignen sie sich überhaupt für eine Weiterverarbeitung zu einem Copolymer? Ist das der Fall, beginnt die Prüfung, mit welchen potenziellen Partnern – weitere Monomere und Diamine – sie sich kombinieren lassen. „Diese Kombination verleiht dem Polyamid am Ende seine charakteristischen Merkmale“, sagt Baumann. „Die Adipinsäure auf Lignin-Basis ist ein wichtiger Baustein, mit dem wir diese Eigenschaften beeinflussen können.“ Ein Baustein, dessen Anteil je nach Kombination bis zu 62 Prozent der gesamten Stoffmenge ausmacht.
Erweist sich eine Verbindung als aussichtsreich, beginnt die Polykondensation: Die Ausgangsstoffe werden in einen Reaktor in Form eines Stahlzylinders gefüllt, wo sie unter starker Hitze und hohem Druck miteinander reagieren. Nach einiger Zeit öffnet Baumann dann den erkalteten Zylinder und holt mit einer Zange vorsichtig ein schmales Röhrchen hervor, in dem sich eine erstarrte weißliche Schmelze befindet: ein neues Polyamid. „Jedes Mal, wenn uns das gelingt, wird unser Baukasten ein Stück größer.“
Die Verwendungsmöglichkeiten sind vielfältig. So könnten schon in naher Zukunft Lifestyleprodukte wie Sonnenbrillen aus Polyamiden gefertigt werden, die auch auf Lignin-basierten Monomeren beruhen. Das Gleiche gilt für Komponenten, die heute aus Metall und Stahl gefertigt werden, beispielsweise in der Automobil oder Bauindustrie. Doch so weit sind die Forscher noch nicht. „Für eine Produktion im industriellen Maßstab müssen wir effizienter werden und das vielfältige Know-how klug bündeln“, sagt Frank Weinelt, der dazu jetzt verstärkt mit den Ingenieuren der Verfahrenstechnik zusammenarbeitet. Darüber hinaus halten die Polymerspezialisten die Augen offen auf der Suche nach weiteren biogenen Rohstoffen, auch aus unkonventionellen Quellen. Schließlich hat die Erfahrung gezeigt, dass selbst in manch trüber Brühe Chancen auf ein wahres Naturtalent stecken.