Am EU Policy Lab werden Zukunftsszenarien für die Europäische Union entwickelt, damit Politiker bessere Entscheidungen treffen. Vizechefin Fabiana Scapolo über die Folgen des Brexit, den Einsatz künstlicher Intelligenz und darüber, wie wichtig es ist, dass Politiker und Bürger miteinander sprechen
„Research“, „Innovation“, „Foresight“ – in riesigen bunten Lettern prangt der Zweck des futuristischen Gebäudes auf der Glasfassade. Im Joint Research Centre der Europäischen Kommission im Zentrum Brüssels sitzt unter anderem das EU Policy Lab, in dem Fabiana Scapolo und ihre Kollegen Visionen für die Zukunft der Union entwickeln. Zum Interview empfängt die Italienerin in einem Besprechungsraum mit Flipcharts, Pinnwänden und Stehtischen, auf denen Schalen mit Lego-Figuren verteilt sind. „Die benutzen wir oft in Diskussionen, um verschiedene Interessengruppen darzustellen“, erklärt Scapolo. Beim einstündigen Gespräch mit den Evonik-Reportern bleibt jedoch keine Zeit für den Einsatz von Cowboys, Krankenschwestern und Feuerwehrmännern aus Plastik.
Frau Scapolo, bald wird das Europäische Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommen und den nächsten Kommissionspräsidenten wählen. Kann Europa positiv in die Zukunft blicken?
FABIANA SCAPOLO Die Frage stellen Sie besser jemandem mit einer Glaskugel. Wir Foresighter sagen nicht die Zukunft voraus. Im Moment steht die EU vor einer Reihe sehr wichtiger Herausforderungen. Europa braucht mehr Bürgernähe und muss versuchen, die Distanz zwischen den Bürgern und den Institutionen abzubauen. Das ist für mich die Basis für die erfolgreiche Arbeit der nächsten Europäischen Kommission und des nächsten Europäischen Parlaments.
Klingt nachvollziehbar. Aber wie wollen Sie mehr Bürgernähe schaffen?
Die Kommission ist nicht für die Gesetzgebung in allen Bereichen zuständig. Auf bestimmten Gebieten sind Gesetzgebung und Umsetzung des EU-Rechts Sache der Mitgliedstaaten. Wir müssen positive Beispiele der Arbeit der europäischen Institutionen besser vermitteln und auf diese Weise mehr Bürgernähe schaffen. Die Kommission ergreift in diesem Bereich gerade die Initiative, und ich denke, wir kommen in dieser Richtung voran.
Die Welt ändert sich zurzeit furchtbar schnell. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus, bei der Sie Prognosen für die ferne Zukunft erstellen?
Es ist mit Sicherheit schwieriger geworden, plausible Szenarien für die nächsten 20 Jahre zu entwickeln. Aber wenn wir nicht wenigstens versuchen, zukünftige Entwicklungen zu verstehen, werden wir noch weniger Möglichkeiten haben, zu reagieren und die Zukunft mitzugestalten. Wir müssen unsere Politiker dazu bewegen, verstärkt die langfristigere Perspektive zu berücksichtigen. Andernfalls werden wir Chancen verpassen.
Schenken Politiker Ihnen heute mehr Gehör als noch vor ein paar Jahren?
Ja. Sie verstehen, dass die Entwicklung einer sogenannten antizipatorischen Kultur notwendig ist. So könnte künstliche Intelligenz (KI) einerseits zu einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen führen – etwa dort, wo Routineaufgaben automatisiert werden. Andererseits eröffnet die Technologie auch zahlreiche Chancen. KI könnte Prozesse erleichtern und beschleunigen, die Produktivität steigern und damit das Wachstum fördern. Der KI-Bereich ist noch voller Unsicherheiten. Indem wir einen Blick in die Zukunft werfen, können wir Möglichkeiten erschließen. Wir erkennen dadurch nicht nur Ängste und Bedrohungen, sondern auch Chancen und Hoffnungen.
Wir haben immer angenommen, Politiker würden eher kurzfristig denken, da sie nicht über ihre Amtszeit hinaus planen ...
… und das ist uns bewusst. Während ihrer Amtszeit versuchen Politiker tatsächlich, sich auf die Lösung aktueller Probleme zu konzentrieren. Allerdings muss klar sein, dass einige der Probleme und Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, Megatrends sind, die sich in Zukunft fortsetzen werden. Wenn wir berücksichtigen, welche Auswirkungen diese Megatrends heute auf politische Fragen haben, dann kommen wir zu tragfähigeren politischen Konzepten. Politiker beginnen das zu verstehen.
Auf welche Herausforderungen in der EU sollten sie sich vor allem konzentrieren?
Zunächst einmal auf die Veränderungen in unserer Umwelt und die Art und Weise, wie wir mit all den Bedrohungen umgehen, die mit dem CO2-Anstieg, der Umweltverschmutzung und -zerstörung sowie unserem übermäßigen Ressourcenverbrauch verbunden sind. Das ist deswegen so wichtig, weil es sehr starke wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen hat. Wenn die Bürger erkennen, dass Politiker ein Problembewusstsein entwickeln und Maßnahmen gegen die globale Erwärmung oder zum Schutz der Umwelt ergreifen, liegt hier jedoch eine Chance für die Politik. Außerdem stehen wir vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen, die mit der Globalisierung und Europas Rolle in der Welt zu tun haben.
Werden wir den Brexit 2040 rückblickend als einen „Game Changer“ in der EU-Geschichte betrachten?
Es ist ja noch nicht einmal klar, wohin die Reise in den kommenden zwei Jahren geht. Egal ob es einen geordneten oder ungeordneten Brexit geben wird –
es wird nicht das Ende der Geschichte sein, sondern erst der Anfang. In den vergangenen Jahren haben Nationalismus und Populismus zugenommen. Darin könnte ein großes Potenzial für politische Instabilität liegen, von dem wir nicht wissen, wie es sich entwickeln kann. Das ist ein Punkt, den wir bei unseren Prognosen sorgfältig berücksichtigen sollten.
Innerhalb der EU streben Regionen wie Katalonien nach Unabhängigkeit. Welche Folgen wird es für die Europäische Union haben, wenn diese Bestrebungen weitere Nachahmer finden?
Würde dies eintreten, müsste Europa sich anpassen und den Regionen mehr Macht geben. Das ist nicht unbedingt ein negativer Trend. Vor Kurzem haben wir eine Studie über die Zukunft des Regierens abgeschlossen, bei der dieses Thema angesprochen wird: Eines der Szenarien nennt sich „Extrem kooperative Regierung“. Darin prognostizieren wir eine neue Institution auf Unionsebene, die „Europäische Bürgermeisterkonferenz“. Die Politik auf lokaler Ebene kann den engsten Austausch mit den Bürgern erreichen. Dort kann die Bevölkerung politische Maßnahmen mitgestalten, die ihre Bedürfnisse berücksichtigen. Möglicherweise werden wir eine Verschiebung des politischen Gewichts hin zu regionalen Institutionen erleben, doch wir müssen gewährleisten, dass wir weiterhin eine Regierungsebene haben, die dazu beiträgt, Regionen zusammenzubringen sowie überregionale und länderübergreifende Fragen anzugehen.
Zuwanderung ist Umfragen zufolge die größte Sorge vieler Europäer. Wie sollte die Politik auf den stetigen Migrationsstrom reagieren?
Dieser Strom wird wahrscheinlich nicht abebben. Und das hat Einfluss darauf, wie die EU in 20 Jahren aussehen wird. Die Frage ist: Wie stellen wir sicher, genug für die Integration zu tun? Angesichts der immer älter werdenden Bevölkerung in Europa können uns Zuwanderer helfen, dem demografischen Wandel zu begegnen. Manche sind sehr gut ausgebildet, sodass wir mit ihnen dem Fachkräftemangel entgegenwirken können. Andererseits müssen wir aufpassen, die kulturellen Werte Europas zu erhalten. Es ist eine Frage der richtigen Balance.
Viele junge Leute haben vor allem Angst vor dem Klimawandel. Entwickeln sich die Streiks der „Fridays for Future“-Bewegung zu einem Megatrend?
Das wissen wir noch nicht. Aber diese Bewegung ist positiv. Auf gewisse Weise sind diese Aktionen eine Mahnung. Die junge Generation sagt uns: Leute,
das ist ein Thema, um das ihr euch kümmern müsst, denn es geht um unsere Zukunft! Mit unserem „Horizon Scanning“ versuchen wir, solche Phänomene zu entdecken, die in der Politik noch kein Thema sind, doch künftig sehr wichtig werden können.
Und es ist unsere Pflicht, die politischen Führer darauf aufmerksam zu machen.
Das EU Policy Lab
Das Joint Research Centre der Europäischen Kommission am Rande des Brüsseler Europaviertels beherbergt seit 2016 auch das EU Policy Lab. 24 Wissenschaftler erarbeiten hier Methoden und Prozesse, die europäische Politik effektiver und erfolgreicher machen sollen. Dabei kooperieren sie mit einer Reihe von Policy Labs in den Mitgliedstaaten der EU. Neben der Entwicklung von Szenarios nutzen die Experten Ansätze aus der Verhaltenswissenschaft, der Simulation und des Design Thinking. Ziel ist ein intensiverer Austausch zwischen den politischen Entscheidern und den Bürgern.
Als Wissenschaftlerin arbeiten Sie mit Fakten. Was passiert, wenn immer mehr Leute in die Politik gehen, denen Fakten egal sind und die sich ihre eigene Wahrheit basteln?
Unser Auftrag besteht darin, einen evidenzbasierten Ansatz für die Politik zu ermöglichen. Darum müssen wir Fake News und Fehlinformationen unbedingt bekämpfen. Ich bin optimistisch, dass uns das gelingen wird. Ein Beispiel dafür sind die großen Social-Media-Konzerne, die angefangen haben, etwas gegen Fake News zu unternehmen. In Italien hat Facebook zum Beispiel vor Kurzem Accounts gelöscht, die mit der Verbreitung von Fake News in Verbindung gebracht worden waren.
Wie können Länder zukunftsfähiger werden? Und welche Staaten sehen Sie in Europa als Vorbilder?
Estland ist ein Vorzeigeland auf dem Gebiet der Digitalisierung. Doch auch Projekte zur gesellschaftlichen Erneuerung in Frankreich, Schweden und Spanien haben eine Vorbildfunktion. In einigen Ländern wurden Politiklabors eingerichtet, durch die Bürger die Politik mitgestalten und mitentwickeln können. Das könnte ein guter Weg sein. Übrigens bietet die Digitalisierung politischen Entscheidern eine gute Möglichkeit, genauer zuzuhören, wenn es um die Sorgen der Bevölkerung geht.
Europa läuft jedoch Gefahr, seine Rolle als globale Innovationsmacht zu verlieren und hinter Länder wie die USA oder China zurückzufallen. Sind wir Europäer zu risikoscheu, wenn es um Innovation geht?
Das glaube ich nicht. Im Vergleich zu anderen Regionen der Welt sind wir vielleicht vorsichtiger. Doch über die langfristigen Auswirkungen zu diskutieren, das kann auch positiv sein – selbst wenn es bedeutet, vielleicht vorübergehend an Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen. Was wichtiger ist: Wir sollten uns auf unser Bildungswesen konzentrieren. Wir sollten von anderen Ländern lernen und jungen Leuten Chancen bieten, damit uns das Wissen, das wir entwickeln, nicht verloren geht. Viele studieren in Europa und gehen dann entweder nach China oder in die USA – für uns sind das verpasste Chancen.
Wo sehen Sie sich selbst im Jahr 2040?
(lacht) Ich würde gern in Südeuropa leben, denn ich brauche Sonne. Und ich hoffe, dass ich in 20 Jahren immer noch für die EU arbeiten kann – zusammen mit jungen Leuten.