Er verbrennt zu nichts als Wasser, die Vorräte sind unerschöpflich, die Verwendungsmöglichkeiten vielfältig: Wasserstoff hat das Zeug, die Wirtschaft grundlegend zu verändern. Evonik leistet an vielen Stellen einen Beitrag dazu, dass eine Vision Wirklichkeit wird.
In Duisburg-Bruckhausen ist alles gigantisch. Auf einer Fläche, 22-mal so groß wie der Vatikan, produziert Thyssenkrupp Steel Europe hier etwa jede vierte Tonne deutschen Stahls – rund 11,5 Millionen Tonnen im Jahr. Die Hochöfen des Werks ragen mehr als 100 Meter in den Himmel. Seit Jahrzehnten spucken sie jede Stunde Hunderte Tonnen glühendes Eisen aus.
Ganz klein und unsichtbar hat jedoch ein Wandel begonnen, der diese scheinbar unverrückbaren Riesen komplett verändern soll. Mit Förderung des Landes Nordrhein-Westfalen probiert Thyssenkrupp den ersten Schritt in Richtung klimaneutraler Stahlproduktion. Statt Kohlenstaub wird dazu Wasserstoff in einen Hochofen geblasen – zunächst testweise „in homöopathischen Mengen“, wie es beim Unternehmen heißt. Wenn aber alles gut läuft, soll bis Ende 2021 der erste Hochofen umgestellt werden. Weil Wasserstoff nicht zu Kohlendioxid, sondern zu Wasserdampf verbrennt, könnte Thyssenkrupp damit gut drei Millionen Tonnen CO2 pro Jahr einsparen – mehr, als alle deutschen Inlandsflüge verursachen. Und das ist erst der Anfang.
Wasserstoff soll der Energieträger der Zukunft werden, nicht nur in der Stahlbranche. Wirtschaft und Politik in aller Welt treiben die Entwicklung mit Hochdruck voran. In der Europäischen Union könnte deren „Hydrogen Roadmap“ zufolge bis 2050 knapp ein Viertel des EU-weiten Energiebedarfs mit Wasserstoff gedeckt werden. Bis zu 5,4 Millionen Jobs sollen entstehen in einer Wasserstoffwirtschaft, die das geruchslose Gas mit dem Elementsymbol H in allen möglichen Bereichen nutzt. Von der Heizung im Keller über den Linienbus bis hin zu Raffinerien und Stahlwerken – all das ließe sich klimaneutral betreiben, dank grünem Wasserstoff, hergestellt mittels erneuerbarer Energie aus Wind und Sonne. Die meisten Puzzlestücke dieser Zukunftsvision sind bereits vorhanden. Es scheint, als müssten sie nur noch zusammengesetzt werden. Doch noch sind viele Fragen zur Umsetzung offen. Einige Antworten darauf will auch Evonik geben.
„Das Wasser ist die Kohle der Zukunft“, schrieb Jules Verne vor fast 150 Jahren. Die Energie von morgen sei Wasser, das durch elektrischen Strom zerlegt werden könne: in Wasserstoff und Sauerstoff. Ihre Faszination hat diese Idee nie verloren. Ende der 1980er-Jahre hievte das Nachrichtenmagazin Spiegel die „Energie der Zukunft“ auf den Titel. Solarenergie und Wasserstoff würden erfüllen, was die Kernenergie versprochen, aber nie gehalten habe.
Und auch heute sind die Hoffnungen, die sich mit dem H verbinden, groß. „Wir müssen die Produktion und den Einsatz von Wasserstoff so schnell wie möglich vorantreiben“, sagt Bundesumweltministerin Svenja Schulze. „Wir dürfen beim Thema Wasserstoff nicht noch mehr Zeit verlieren“, drängt Bundesforschungsministerin Anja Karliczek. Und Kabinettskollege Peter Altmaier aus dem Wirtschaftsressort fordert, Deutschland müsse „bei Wasserstoff die Nummer 1 werden!“.
Die Begeisterung hat gute Gründe. Die Qualitäten des Wasserstoffs klingen angesichts unserer Klimasorgen fast wie Utopie: Er verbrennt zu nichts als Wasser. Kein Ruß, kein Kohlendioxid, keine Stickoxide bleiben übrig – theoretisch zumindest löst Wasserstoff auf einen Schlag wesentliche Probleme des Erdölzeitalters. Zudem sind die Vorräte praktisch unerschöpflich. Neun von zehn Atomen im gesamten Universum sind Wasserstoffatome. Auf der Erde ist der Stoff vor allem im Meerwasser enthalten. Der Rest findet sich chemisch gebunden in praktisch allen fossilen und biologischen Rohstoffen. Wirtschaftlich wird das Potenzial des Wasserstoffs jedoch kaum genutzt.
WICHTIGER BAUSTEIN FÜR DIE CHEMIE
Bedeutendster Nutzer bislang ist die chemische Industrie, die damit Moleküle baut. Mehr als die Hälfte des weltweit produzierten Wasserstoffs wird zu Ammoniak verarbeitet, vor allem für Düngemittel. Auch Raffinerien brauchen immense Mengen, etwa zum Aufspalten (Cracken) und Entschwefeln von Erdölprodukten.
Evonik nutzt Wasserstoff zur Herstellung zahlreicher Produkte, vor allem aber zur Synthese von Wasserstoffperoxid (H2O2). Das wird unter anderem als umweltschonendes Bleichmittel in der Papier- und Zellstoffproduktion eingesetzt, dient aber auch zum Sterilisieren von Getränkeverpackungen oder als Treibstoff in der Raumfahrt. Mit mehr als einer Million Tonnen Jahreskapazität ist Evonik einer der größten Hersteller von H2O2 weltweit. Eine wichtige Rolle spielt Wasserstoff außerdem in der Aminosäureproduktion für Tierfutter sowie in den Herstellungsprozessen für Silane, pyrogene Kieselsäure und Spezialoxide – vielseitige Produkte, die etwa in Klebstoffen, Kunststoffen oder Autobatterien zum Einsatz kommen. Nicht selten fällt Wasserstoff auch als Neben- oder Koppelprodukt an und wird anderswo im Verbund weiterverwendet.
Aktuell ist das Unternehmen in Projekten in allen Gliedern der Wertschöpfungskette – von der Gewinnung über die Verteilung bis zur Nutzung – vertreten, um die künftigen Kundenbedürfnisse und die damit verbundenen Potentiale für Spezialchemie besser zu verstehen. „Wer die Energiewende will, kommt an der Sektorkopplung mittels Wasserstoff nicht vorbei“, sagt Oliver Busch, Leiter Sustainable Businesses bei der Creavis, der strategischen Innovationseinheit von Evonik, die an neuen Geschäften in Sachen Nachhaltigkeit tüftelt. „Und wenn wir’s richtig machen, auch nicht an uns.“ Gemeinsam mit Axel Kobus, dem Leiter des Geschäftsgebiets Verfahrenstechnik und Engineering bei Evonik, will Busch das Thema Wasserstoff vorantreiben. „Wir als Unternehmen haben besonders viele Berührungspunkte“, sagt Kobus. So stellt Evonik Wasserstoff für zahlreiche Anwender her und betreibt Wasserstoffpipelines für die Versorgung verschiedener Industrieunternehmen. Der Konzern liefert zudem innovative Prozesstechnologien und Produkte, die Lücken in der Wasserstoffökonomie schließen könnten. Kobus und Busch sind sich einig: „Hier können wir als Lösungsanbieter einen wesentlichen Mehrwert leisten.“
GRÜN IST DIE HOFFNUNG
Wie vielseitig Wasserstoff bereits heute eingesetzt wird, zeigt sich im Chemiepark Marl besonders deutlich. „Der Stoff kommt auf dem Gelände mit knapp 20 Unternehmen in fast jedem Labor und jeder Anlage zum Einsatz – nicht immer in großen Mengen, aber fast immer bei entscheidenden Prozessen“, sagt Swen Fritsch. Fritsch ist Betriebsleiter für den Wasserstoffbetrieb am Standort. Dessen sogenannter Steam Reformer liefert mehrere 10.000 Kubikmeter reinen Wasserstoff pro Stunde. Der Großteil der Produktionsmenge deckt den Bedarf vor Ort, einen Rest zapfen Industriegasversorger aus der Region an eigenen Abfüllstationen direkt ab. Marl besitzt die größte Wasserstofftankstelle Europas.
Steam Reformer wie der in Marl decken heute mehr als 95 Prozent des weltweiten Wasserstoffbedarfs. Mittels Hitze, Druck und Katalysatoren gewinnen sie Wasserstoff aus fossilen Quellen wie Erdgas. Dabei entsteht Kohlendioxid (CO2) – rund zehn Tonnen pro Tonne Wasserstoff. Der Internationalen Energieagentur (IEA) zufolge verursachte die Wasserstoffproduktion zuletzt den Ausstoß von weltweit etwa 830 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr – das entspricht etwas mehr als den Emissionen des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und Tschechiens zusammen. Keine gute Bilanz für den Hoffnungsträger der Energiewende.
Doch es ginge auch anders. Wasserstoff lässt sich per Elektrolyse direkt aus Wasser gewinnen. Das Prinzip ist altbekannt und simpel: Eine Spannung zwischen zwei Elektroden spaltet Wasser in seine chemischen Bausteine Sauerstoff und Wasserstoff. In der Brennstoffzelle wird der Prozess umgekehrt: Wasserstoff und Sauerstoff aus der Luft reagieren verbrennungsfrei zu Wasser. Dabei entsteht elektrischer Strom und etwas Abwärme. In diesem Kreislauf ist Wasserstoff das Speichermedium für elektrische Energie. Es ist dieser potenziell klimaneutrale Kreislauf, der die Energiewende beflügeln soll und derzeit genauso viel Aufmerksamkeit wie Kapital anzieht.
Das Zauberwort heißt „Sektorkopplung“ oder „Power-to-X“: Es gilt, „grünen“ Strom zu speichern, transportabel zu machen und vielseitig zu nutzen. Wasserstoff macht das möglich. Er lässt sich direkt dort gewinnen, wo erneuerbare Energie billig zu produzieren ist. Er lässt sich gut speichern und durch Rohre zu weit entfernten Verbrauchern fördern. Und er kann nach Belieben verheizt, stofflich verwendet oder wieder in Strom umgewandelt werden.
HUNGRIGER MARKT
Die Einsatzmöglichkeiten für Wasserstoff sind vielfältig. Personenwagen mit Brennstoffzellen etwa fahren bereits heute mit einer Tankfüllung weiter als die meisten Batterieautos und lassen sich – anders als Plug-in-Fahrzeuge – in wenigen Minuten volltanken. Bislang ist der kommerzielle Erfolg jedoch ausgeblieben: In den USA waren nach letzter Zählung ganze 6.558 Wasserstoffautos unterwegs, in Deutschland weniger als 400. Noch fehlt das Tankstellennetz, noch ist die Technik zu teuer und zu klobig für den Massenmarkt. Moderne Materialien könnten helfen, das zu ändern. So lassen sich dank speziellen Vernetzern von Evonik sichere Wasserstoffspeichertanks für Fahrzeuge und Tankstellen aus faserverstärktem Kunststoff herstellen, die deutlich leichter und günstiger als heutige Gasbehälter sind.
Schneller als bei Pkw dürfte sich die Technik bei Nutzfahrzeugen durchsetzen. Linienbusse zum Beispiel fahren immer dieselbe Tankstelle an, wiegen voll besetzt an die 20 Tonnen und kosten in der Anschaffung ohnehin mehr als 200.000 €. Da fallen heutige Nachteile der Brennstoffzelle weniger ins Gewicht. Ähnlich auf der Schiene: Vor allem auf langen Nebenstrecken ohne Oberleitung seien Wasserstoffzüge erste Wahl, um Dieselloks zu ersetzen, befindet eine Studie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Rund um Cuxhaven verkehrt bereits regulär Deutschlands erster Wasserstoffzug. Schiffswerften proben ebenfalls den Einsatz der Technik. Norwegen will seine vielen Fähren auf Brennstoffzellen umrüsten. Und selbst die Luftfahrt hofft auf Wasserstoff, der entweder Brennstoffzellen oder, weiterverarbeitet zu Methanol und dann zu Kerosin, normale Turbinen antreiben soll.
Große Brennstoffzellen zur Rückverstromung sind derweil interessant als Puffer fürs Stromnetz, und gleich mehrere Heizungshersteller haben kleine Aggregate, die gleichzeitig Strom und Wärme liefern, für den Hausgebrauch im Angebot.
Den größten Wasserstoffhunger melden indes Industrieunternehmen an – allen voran die Stahlhersteller. Bis 2050, heißt es beim Branchenverband, könne die deutsche Stahlerzeugung komplett CO2-neutral laufen. Das muss sie wohl auch, wenn steigende Strafzahlungen für den Ausstoß von Kohlendioxid sie nicht vom Weltmarkt drängen sollen. Thyssenkrupp will die Emissionen seiner Hochöfen mit Wasserstoff mindern und die restlichen Abgase für chemische Produkte nutzbar machen. Carbon2Chem heißt ein Entwicklungsprojekt, an dem Evonik beteiligt ist und das Wege aufzeigen soll, wie sich aus verbranntem Kohlenstoff chemische Vorprodukte gewinnen lassen. Langfristig setzen allerdings praktisch alle Stahlproduzenten auf die sogenannte Direktreduktion, die dank Wasserstoff ganz ohne Kohlenstoff und Koks auskommt.
Dieser Technologiewandel wird Thyssenkrupp in den kommenden Jahrzehnten rund zehn Milliarden € kosten, heißt es in Duisburg. Und die dazu erforderlichen Wasserstoffmengen sind gewaltig: „Um 2050 werden wir jährlich rund acht Milliarden Kubikmeter Wasserstoff benötigen“, sagt Jens Reichel. Er leitet bei dem Duisburger Konzern den Bereich Nachhaltige Produktion. Um die Menge per Elektrolyse zu produzieren, seien 40 Terawattstunden Energie nötig, etwa so viel, wie acht der größten Erdgaskraftwerke vom Typ Irsching 5 oder rund 3.800 Offshorewindkrafträder der Drei-Megawatt-Klasse liefern.
ANSCHUB FÜR DIE ELEKTROLYSE
Ein enormer Ansporn für die Entwickler effizienter Elektrolyseverfahren. Die älteste und bislang am häufigsten verwendete Technologie der Wasserstoffproduktion mittels Strom ist die alkalische Elektrolyse. Eine neuere Technologie namens Proton-Exchange-Membrane- oder kurz PEM-Elektrolyse ist seit etwa zwei Jahrzehnten auf dem Vormarsch. Weitere Verfahren wie die sogenannte Solid-Oxide-Elektrolyse versprechen noch mehr Effizienz, sind aber derzeit erst Gegenstand der Forschung. Auch Evonik arbeitet an Schlüsselmaterialien für neue Verfahren (erfahren Sie hier mehr).
Laut IEA stammen derzeit weniger als 0,1 Prozent des weltweit produzierten Wasserstoffs aus Elektrolysen. Der Ausbau der Kapazitäten hat zwar begonnen, die Datenbank der IEA zählt seit dem Jahr 2000 mehr als 300 Wasserstoffprojekte in Bau oder Planung, die meisten davon in Deutschland. Im Schnitt verfügten neue Elektrolysen aber zuletzt gerade einmal über eine Leistung von einem Megawatt. In Wesseling bei Köln baut Shell gerade die weltweit größte Elektrolyse mit zehn Megawatt. Die nächste Generation soll laut IEA schon 100 Megawatt und mehr liefern. Aber von diesen Anlagen brauchte man zehn, um ein einziges Stahlwerk mit Wasserstoff zu versorgen. Nicht wenige Experten sind daher skeptisch, ob Deutschland seinen prognostizierten Wasserstoffbedarf schnell genug mittels Elektrolyse wird decken können.
Zu den technischen Hürden kommen die wirtschaftlichen hinzu: Derzeit ist grüner Wasserstoff in Mitteleuropa noch etwa dreimal so teuer wie der sogenannte graue aus Erdgas. Weil moderne Steam Reformer wie in Marl effizient und verlässlich Wasserstoff liefern, der gerade beim Aufbau der Netze unerlässlich ist, werden sie in den Augen vieler Branchenexperten mittelfristig noch eine entscheidende Rolle spielen müssen. Das dabei entstehende Kohlendioxid ließe sich einfangen und einlagern. Man spricht in diesem Zusammenhang von „blauem“ Wasserstoff. Großtechnisch geht das etwa in unterirdischen Hohlräumen, die nach der Förderung von Erdgas zurückbleiben. Die sind aber nur in wenigen Regionen zu finden, zudem ist die Technik umstritten.
Eine andere Möglichkeit ist es, das ausgestoßene CO2 einzufangen und weiterzuarbeiten. So könnte der Steam Reformer in Marl statt Wasserstoff und Kohlendioxid auch Synthesegas, eine Mischung aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid, produzieren – ein gängiges Vorprodukt für die Chemie. Evonik selbst arbeitet in einer ganzen Reihe von Forschungsprojekten, um in kleinen, modularen Anlagen aus Industrieabgasen wertvolle Zwischen- und Spezialprodukte für die Chemie zu gewinnen. So verfolgt das Unternehmen mit dem Kraftwerksbetreiber STEAG und der Universität Duisburg-Essen unter dem Projektnamen Vulcanus die Entwicklung einer neuen Prozesskette, bei der aus Kohlendioxid und Methan höhere Alkohole zur Produktion von Hochleistungskunststoffen gewonnen werden.
KALT GEPRESST
Mehr und günstigeren Wasserstoff aus regenerativen Quellen könnten Industriestaaten künftig womöglich auch importieren, zum Beispiel aus Nordafrika. Dort hat man vor gut zehn Jahren das Projekt Desertec ins Leben gerufen. Ursprünglich sollte Sonnen- und Windstrom aus der Sahara über Gleichstromtrassen durchs Mittelmeer nach Europa gelangen. Daraus wurde nichts. Die neue Hoffnung: Als grüner Wasserstoff könnte der Saharastrom per Pipeline oder per Schiff zu den Verbrauchern geliefert werden.
Der Transport von Wasserstoff ist zwar im Prinzip einfach, aber nicht auf jedem Weg effizient. Wegen der extrem geringen Dichte des Gases können selbst 40 Tonnen schwere Lkw mit ihren imposanten weißen Hochdrucktanks teilweise nur etwa 300 Kilogramm Wasserstoff laden. Das ist etwas mehr als die erlaubte Zuladung eines Smart. Sogar die größten verfügbaren Tankwagen transportieren bei 500 Bar Druck maximal lediglich 1,1 Tonnen Wasserstoff.
Auch beim Speichern von Wasserstoff bereitet die geringe Dichte Probleme. Während sich in Chemieparks wie Marl überall Gasometer und große Druckbehälter mit Sauerstoff, Stickstoff, Methan oder Ethylen finden, sucht man große Wasserstofftanks vergebens. Wasserstoff lässt sich nur unter immensem Druck zu wirtschaftlichen Tankvolumina verdichten. In großem Stil kann Wasserstoff zwar in unterirdischen Hohlräumen gespeichert werden, die nach der Förderung von Salz oder Erdgas zurückbleiben. Aber die sind ebenso wie natürliche CO2-Lager nur in wenigen Gegenden zu finden. Flüssig und damit besonders kompakt speichern lässt sich Wasserstoff erst bei minus 253 Grad Celsius. Dazu sind viel Kühlenergie und eine aufwendige Isolierung nötig.
„Wirklich effizient lässt sich Wasserstoff eigentlich nur per Rohrleitung verteilen“, sagt Thomas Basten. Er leitet bei Evonik das Logistikgeschäft mit Pipelines für allerhand Gase und Flüssigkeiten in der Industrie. Der Konzern betreibt gut 2.000 Kilometer davon in ganz Deutschland, drei Viertel davon im Auftrag anderer Unternehmen. In dieser Funktion beteiligt sich Evonik auch an einer Initiative namens GET H2, die ein öffentliches Wasserstoffnetz für Deutschland plant. Den „Kern“ soll zunächst eine 100 Megawatt große Elektrolyse bilden, die der Stromkonzern RWE in Lingen plant – daher der Projektname Nukleus. Dort im Emsland, unweit zahlreicher Windparks auf dem Land und in der Nordsee, soll Wasserstoff mittels Windstrom entstehen.
WASSERSTOFF IM HUCKEPACK
„Das Pipelinegeschäft ist nichts für arme Leute“, sagt Basten. Pipelines zu verlegen sei schon immer teuer gewesen. Vor allem der bürokratische Aufwand verschlinge jede Menge Ressourcen. Bestehende Leitungen zu nutzen hat da eine Menge Charme. Deutschland verfügt heute über rund 50.000 Kilometer Hochdruckleitungen für Erdgas. Teile dieser Infrastruktur könnten zusätzliche Stromtrassen überflüssig machen, wenn grüner Strom in Form von Wasserstoff darin fließt.
Diesen Gedanken entwickelt man bei Evonik weiter: Dank einer konzerneigenen Membrantechnologie ließen sich auch die 500.000 Kilometer des deutschlandweit verzweigten Erdgasverteilnetzes teilweise nutzen. Im handelsüblichen Erdgas sind schon heute einige Prozent Wasserstoff enthalten. Gewissermaßen huckepack könnten aber problemlos auch größere Mengen in der Leitung mitfließen. Dann ließe sich mit den SEPURAN®-Membranen von Evonik an verschiedenen Punkten im Netz Wasserstoff abtrennen, um etwa Tankstellen oder andere Verbraucher zu versorgen.
Damit die Vision von der Wasserstoffökonomie nach 150 Jahren endlich Wirklichkeit wird, muss viel zusammenkommen. Das Netz, die Versorgung, die Nachfrage, die Technologie – alles muss sich parallel entwickeln, und zugleich muss der Preis für grünen Wasserstoff sinken. Hier sind nicht zuletzt Regierungen gefragt. „Alle warten auf die nationale Wasserstoffstrategie der Bundesregierung“, sagt Basten. „Sie müsste die Wasserstoffelektrolysen von der EEG-Umlage befreien, das Energiewirtschaftsgesetz so ändern, dass Wasserstoff in öffentlichen Netzen transportiert werden kann, und auf der Verbraucherseite Anreize für grünen Wasserstoff setzen.“ Wichtig ist es, nationale Planungen und internationale Kooperationen zu koordinieren. Auch Evonik will seine zahlreichen Aktivitäten in Sachen Wasserstoff unter eine umfassende Strategie stellen. Die Experten im Konzern spüren den wachsenden Druck des Markts: „Unsere Kunden wollen konkrete Antworten, wenn es um den CO2-Rucksack geht, den unsere Produkte mitschleppen“, sagt Verfahrenstechnik-Ingenieur Axel Kobus, in dessen Verantwortungsbereich auch das sogenannte Lifecycle-Management zu Hause ist.
Allen voran die Wasserstoffperoxid-Sparte des Konzerns evaluiert deshalb, wann und wie grüner Wasserstoff zu marktfähigen Preisen bezogen werden kann – und wie man bis dahin die Kohlendioxidemissionen der eigenen Steam Reformer einfängt und weiterverwertet.
Anders als in der Stahlbranche und in der Energiewirtschaft gehe es in der Chemie aber nicht darum, den Kohlenstoff aus den Prozessen zu verbannen. Er sei ein Grundbaustein für Chemieprodukte und schon deshalb viel zu wertvoll, um ihn verbrannt in den Himmel zu blasen, sagt Oliver Busch. „Das Ideal, an dem wir in der Chemie arbeiten, sind geschlossene Stoffkreisläufe“, so der Creavis-Manager. „Wasserstoff bietet die einmalige Chance, Stoff- und Energiekreisläufe gleichzeitig zu schließen.“ Man muss nur noch alle Puzzleteile zusammensetzen.
FARBENLEHRE DES WASSERSTOFFS
GRÜNER WASSERSTOFF
Wird Wasserstoff zum Beispiel per Elektrolyse mit erneuerbarem Strom gewonnen, entsteht kein CO2.
GRAUER WASSERSTOFF
Im Steam Reformer und aus fossilen Energieträgern wie Erdgas gewonnen, fallen pro Tonne Wasserstoff rund zehn Tonnen Kohlendioxid an.
BLAUER WASSERSTOFF
Das Kohlendioxid aus dem Steam Reformer lässt sich einfangen und in unterirdische Kavernen – meist alte Erdgaslagerstätten – pressen. Das Verfahren ist umstritten.
TÜRKISER WASSERSTOFF
Bei der sogenannten Methanpyrolyse wird Bio- oder Erdgas in einem Reaktor mit Flüssigmetall gespalten. Neben Wasserstoff entsteht dabei nur fester Kohlenstoff, der sich einlagern oder verwerten lässt. Noch wird an dieser Methode geforscht.
Weltweite Vorreiter
Während in manchen Staaten Wasserstoff nur punktuell zum Einsatz kommt, werden anderswo ambitionierte Masterpläne entwickelt. Sechs Länder, sechs Strategien
JAPAN
Japan gilt seit Langem als einer der ambitionierteste Verfechter der Wasserstoffzukunft – allen voran im Mobilitätssektor. Die Regierung will den Preis für Wasserstoff bis 2050 um 90 Prozent senken, sodass er billiger ist als Erdgas. Maßgeblich dazu beitragen soll ein Projekt, bei dem in Australien Wasserstoff aus Braunkohle gewonnen werden soll, das entstehende CO₂ unterirdisch verpresst und der Wasserstoff per Schiff nach Japan verfrachtet wird. Das an fossilen Rohstoffen arme Japan importiert schon heute mehr als 90 Prozent seines Energiebedarfs.
NIEDERLANDE
Angesichts des für 2022 beschlossenen Ausstiegs aus der Erdgasförderung bringen die Niederlande ihre Nordregion rund um Groningen als künftiges „Hydrogen Valley“ Europas in Stellung. Mit grünem Strom aus Offshorewindparks in der Nordsee soll genügend Wasserstoff für die Industrie, die Region und für den Export entstehen. Der vormals größte Erdgaslieferant der EU könnte über frei gewordene Leitungen auch seine Nachbarn versorgen.
NORWEGEN
Vor allem Lastwagen und Fähren sollen in Norwegen bald mit Wasserstoff laufen. Das Land könnte zudem eine international bedeutsame Rolle beim blauen Wasserstoff spielen: Die die Regierung in Oslo treibt den Aufbau von CO₂-Lagerstätten in großem Stil voran. Nach jahrzehntelanger Förderung hat der Öl- und Gasexporteur große unterirdische Kapazitäten, die sich bestens eignen, um große Mengen Klimagas aus ganz Europa einzuspeichern.
SAUDI-ARABIEN
In Erdöl und Erdgas fördernden Ländern wie Saudi-Arabien ist die Produktion von grauem Wasserstoff aus Erdgas besonders günstig. Auch blauer Wasserstoff, bei dem entstehendes Kohlendioxid im Erdreich verpresst wird, lässt sich hier laut Internationaler Energieagentur billiger produzieren als irgendwo sonst. Der Erdölmulti Saudi Aramco hat Mitte 2019 seine erste Wasserstofftankstelle im Land eröffnet.
USA
In den Vereinigten Staaten gibt vor allem Kalifornien hohe Ziele in Sachen Klimaschutz und Energiestandards vor. Und so werden dort auch die ambitioniertesten Pläne in Sachen Wasserstoffwirtschaft geschmiedet: Der Bundesstaat im Südwesten will allein bis 2030 mindestens 1.000 Wasserstofftankstellen eröffnen und eine Million Wasserstofffahrzeuge zulassen – so viele, wie ganz China bis dahin anstrebt. Grauer Wasserstoff ist in den USA dank der heimischen Schiefergasproduktion billiger als in vielen anderen Ländern, was den Wechsel zu grünem Wasserstoff ohne politische Preiseingriffe weniger attraktiv macht.
SÜDKOREA
Seoul hat im vorigen Jahr besonders ambitionierte Ziele vor allem für den Mobilitätssektor vorgelegt: Bis 2030 will Südkorea führender Hersteller von Brennstoffzellen und Wasserstoffautos werden. Und 2035 sollen laut Verkehrsministerium bereits alle Nutzfahrzeuge im Land auf Wasserstoffantrieb umgestellt sein. Zur Versorgung soll in der Hafenstadt Ulsan die größte Flüssigwasserstoffanlage der Welt entstehen.