Durch Covid-19 und den Krieg in der Ukraine sind die globalen Lieferketten stark unter Druck geraten. Dies gilt vor allem für Rohstoffe, die für die Energiewende benötigt werden. René Kleijn, Professor für industrielle Ökologie an der Universität Leiden, erklärt, was Branchen und Länder angesichts der Preisschocks und Versorgungsengpässe jetzt tun sollten.
Herr Professor Kleijn, in einem Fachartikel haben Sie im vorigen Jahr beschrieben, wie ein plötzlich ausbrechender Krieg zu folgenschweren Lieferunterbrechungen bei Rohstoffen führen könnte, die für die Energiewende dringend benötigt werden. Nun ist mit dem Ukrainekrieg genau dieser Fall eingetreten. Können Sie hellsehen?
René Kleijn: Ich hätte mit meiner Prognose natürlich lieber komplett danebengelegen, als jetzt in dieser Situation zu sein. Der Umstieg auf erneuerbare Energien hat sich in den vergangenen Jahren beschleunigt. Das ist auch gut so, denn wir müssen die vereinbarten Klimaziele erreichen. Für eine erfolgreiche Energiewende werden jedoch Unmengen an Rohstoffen benötigt – und niemand weiß so genau, woher sie kommen werden. Ich arbeite schon eine ganze Weile an dem Thema und konnte die potenziellen Probleme deshalb vielleicht etwas früher erkennen.
In vielen Industrieländern hat die Energiewende bereits vor 20 Jahren begonnen. Warum sind wir auf Situationen wie jetzt nicht vorbereitet?
Es gab großes Vertrauen in die Märkte. Man ging davon aus, dass der Markt Angebot und Nachfrage selbst regulieren würde. In der Vorstellung vieler Politiker wird sich das Angebot irgendwie einstellen, wenn die Nachfrage da ist. Offensichtlich trifft das nicht immer zu. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie wurde uns unsere Abhängigkeit von globalen Lieferketten sehr deutlich vor Augen geführt – man erinnere sich an die Beschaffung von Masken oder Komponenten für Beatmungsgeräte. Als wegen der Lockdowns in den Häfen nicht gearbeitet wurde und deswegen keine Lieferungen mehr aus China eintrafen, brach praktisch das gesamte globale Versorgungsnetz zusammen.
Die logistischen Auswirkungen der Pandemie haben sich inzwischen abgeschwächt. Warum herrscht dennoch ein Mangel an kritischen Rohstoffen?
Wir befinden uns in einer Situation, in der Bergbauunternehmen weit im Voraus Investitionen tätigen müssen, um Minen in Betrieb zu nehmen. Das ist ein langwieriger Prozess, der zehn bis 20 Jahre dauern kann. Er reicht von der Entdeckung einer Lagerstätte über die Beantragung der Genehmigungen und die Exploration bis hin zur Finanzierung einer neuen Mine. Nehmen wir zum Beispiel Kupfer, das für Generatoren von Windturbinen, für Solarzellen und für das Stromnetz benötigt wird. Ich habe mir von Bergbauexperten sagen lassen, dass man ab sofort jedes Jahr in zwei große Minen investieren müsste, um den Bedarf für die nächsten 30 Jahre zu decken! Das verdeutlicht, wie aufwendig es ist, die für die Energiewende benötigten Rohstoffe zu gewinnen. Wir können uns nicht einfach nur auf die Märkte verlassen.
Bei diesen Überlegungen sind politische Probleme noch gar nicht berücksichtigt wie solche, die wir mit Russland haben – einem Land, von dem wir im Welthandel nun unabhängiger werden wollen.
Genau. Wir sind in einigen Fällen auf Importe aus autoritären Staaten angewiesen. Und wie wir jetzt bei russischem Gas sehen, ist es schwer, Sanktionen durchzusetzen, wenn man von diesen Importen abhängig ist. China könnten wir beispielsweise niemals mit derartigen Sanktionen belegen.
Heißt das, wir müssen uns von der Globalisierung ein Stück weit verabschieden und eher einen regionalen Ansatz verfolgen?
Nicht unbedingt. Aber wir müssen unsere Lieferketten belastbarer machen, sodass Störungen besser aufgefangen werden können. Das gilt sowohl für Nachfrageschocks, zum Beispiel das sprunghaft gestiegene Interesse an Elektrofahrzeugen, als auch für Angebotsschocks, wenn aufgrund eines Konflikts plötzlich keine Rohstoffe aus Russland und der Ukraine mehr zur Verfügung stehen.
Wie können wir unsere Lieferketten denn belastbarer machen?
Zunächst müssen wir unsere Versorgung breiter aufstellen. Viele Regionen wie die USA oder Europa suchen sichere und zuverlässige Partner wie Kanada oder Australien, von denen wir in einer für uns akzeptablen Weise viele Rohstoffe beziehen können. Wir müssen aber auch in Erwägung ziehen, mehr Rohstoffe innerhalb Europas abzubauen…
… was keine leichte Aufgabe ist.
Allerdings. Wir sind es nicht mehr gewohnt, einen großen Bergbaubetrieb direkt vor unserer Haustür zu haben. Für erneuerbare Energien müssen jedoch deutlich weniger Rohstoffe abgebaut werden, als wir es beispielsweise vom Kohlenbergbau kennen.
Die Menschen, in deren Umfeld plötzlich ein Bergwerk in Betrieb genommen werden soll, dürfte dieses Argument kaum überzeugen.
Das stimmt. Diese Bedenken müssen wir berücksichtigen und verstehen. Das Problem haben wir allerdings in vielen Bereichen der Energiewende, ob es nun um Bergwerke, Windkraftanlagen oder Hochspannungsmasten geht. Indem wir die Öffentlichkeit in diese Prozesse einbinden, können wir jedoch viele Bedenken ausräumen. Darum dauert in Europa manches ein bisschen länger.
Sie sprechen von finanzieller Entschädigung?
Man tut sich generell schwer damit, betroffene Anwohner finanziell zu entschädigen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem Heimatland. Wir haben ein riesiges Gasfeld im Norden der Niederlande aufgegeben, weil die Gasförderung kleinere Erdbeben verursachte, die wohlgemerkt keine katastrophalen Folgen hatten. Das Explorationsunternehmen und die Regierung haben mit der Gasförderung Riesensummen verdient. Hätte man nur ein Prozent der Einnahmen den betroffenen Kommunen zukommen lassen, hätten sich die Probleme vielleicht erledigt: Das Gasfeld könnte weiter genutzt werden und dazu beitragen, die aktuelle Versorgungslage zu entspannen.
Wie sieht es mit Menschen in anderen Ländern der Welt aus, aus denen wir kritische Rohstoffe wie Kobalt beziehen?
In vielen afrikanischen Staaten herrscht große Enttäuschung darüber, wie chinesische Firmen operieren: Sie bezahlen die Elite, gewinnen die Rohstoffe und bauen höchstens mal hier und da eine Eisenbahnlinie oder eine Straße. Das geht auch anders. Wir können langfristige Partnerschaften aufbauen. Wir können die Rohstoffgewinnung sozialverträglich und verantwortungsbewusst gestalten. Wir können die Kommunen in ihrer Entwicklung unterstützen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Menschen vor Ort am Rohstoffabbau mitverdienen. Ich weiß, das klingt idealistisch und ist in Ländern mit viel Korruption schwer umzusetzen. Wir könnten dies jedoch zu einem Alleinstellungsmerkmal für europäische Abbauvorhaben machen.
Wird diese Strategie in Zukunft zu höheren Preisen für strategisch wichtige Ressourcen führen?
Ja. Ich denke, wir müssen für unsere Versorgungssicherheit tiefer in die Tasche greifen. Darüber hinaus will die Europäische Kommission den Schwerpunkt auf nachhaltige Rohstoffgewinnung legen. Das bedeutet: Es gibt einen Preisaufschlag für verantwortungsvoll abgebaute Rohstoffe und nachhaltig produzierte Materialien aus Europa, wo wir Umweltschutzauflagen einhalten und auf die lokale Bevölkerung Rücksicht nehmen.
Sollten wir angesichts der schwierigen Sicherung unserer Rohstoffversorgung nicht überdenken, ob wir all diese Ressourcen überhaupt brauchen?
Man könnte sich in der Tat fragen, ob wirklich jedes E-Auto eine 60- oder sogar 100-Kilowattstunden-Batterie benötigt. Im Prinzip ist das eine riesige Materialverschwendung, weil das Auto die meiste Zeit ungenutzt herumsteht. Sollten Autos irgendwann in das Stromnetz eingebunden werden, sieht die Sache vielleicht schon anders aus. Doch unseren Energie- und Materialverbrauch zu senken ist immer noch der beste, billigste und nachhaltigste Weg.
Viele Unternehmen, darunter Evonik, arbeiten derzeit an der Entwicklung neuer Batteriegenerationen, die überhaupt keine seltenen und teuren Materialien wie Lithium enthalten. Wird die Ressourcenknappheit den technischen Fortschritt beschleunigen, der es uns ermöglicht, einige der aktuellen Probleme zu lösen?
Ich traue der Technologie einiges zu. Es gibt bereits Lithium-Eisenphosphat-Batterien ohne Kobalt. Sie haben eine etwas geringere Kapazität als herkömmliche Batterien, sind aber im Hinblick auf die Brand- oder Explosionsgefahr sicherer. Unterm Strich kommt es allerdings nicht nur auf technische Errungenschaften, sondern auch auf wirtschaftliche Aspekte und Geschäftsmodelle an: Das Produkt, das sich am besten verkauft und mit dem am meisten Geld verdient wird, ist nicht zwangsläufig das technisch beste. Daher ist es wichtig, dass die Regierungen ihre Vorurteile ablegen. Wenn wir unsere technischen Kompetenzen, unseren Einfallsreichtum und unsere Kreativität wirklich in die richtige Richtung lenken wollen, brauchen wir zum Beispiel eine Bepreisung von CO2.
Die wurde in den vergangenen Jahren ja bereits eingeführt…
… und das ist gut so. Wenn wir die Kosten für Umweltbelastungen in die Rohstoffkosten einbeziehen, steigt der Rohstoffpreis. Das macht die Kreislaufwirtschaft wesentlich attraktiver. Man geht mit den Rohstoffen viel bewusster um.
Warum tun wir uns dann mit Recycling so schwer? Liegt das nur an den verhältnismäßig geringen Kosten für neu gewonnene Rohstoffe?
Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft, in der Ressourcen so billig sind, dass sie nicht richtig wertgeschätzt werden. Im Rahmen des Susmagpro-Projekts, das vom EU-Förderprogramm Horizont 2020 finanziert wird, untersuchen wir gemeinsam mit der Universität Pforzheim die Recyclingmöglichkeiten für die Metalle der seltenen Erden, denn sie sind von zentraler Bedeutung für die Energiewende. Sie stecken etwa in den Magneten von Windturbinen und in den Motoren von Elektrofahrzeugen. Der Bedarf an Magneten wird in Zukunft enorm sein. Die für das Recycling notwendige Technologie wird derzeit im Rahmen des Projekts optimiert. Die entscheidende Frage lautet jedoch: Wie bekommt man die Magneten aus den Elektrofahrzeugen in die Recyclinganlagen? Haben Sie schon mal einen Elektromotor gesehen? Der Rotor besteht aus Stahlblechen mit Löchern. Die Magnete werden meist in diese Löcher hineingeklebt. Möchte man die Magnete recyceln, muss das ganze Gehäuse auseinandergebaut werden, um an den Motor zu gelangen. Anschließend muss man den Motor herausnehmen und ebenfalls zerlegen, um an den Rotor zu kommen und diese eingeklebten Magnete irgendwie zu entfernen. Der Materialwert beträgt aber vielleicht nur 100 €. Wirtschaftlich ist das also vollkommen unsinnig.
Fordern Sie eine strengere Regulierung?
Ja. Entweder muss das Recycling solcher Rohstoffe Pflicht werden, oder es müssen hierfür heftige Preisaufschläge erhoben werden. Anders wird es nicht funktionieren. Der Rohstoffpreis allein reicht heutzutage nicht mehr aus, um das System in die richtige Richtung zu lenken. Rohstoffe sind unglaublich billig, und in Ländern wie den Niederlanden oder Deutschland sind Arbeitskräfte extrem teuer. Der niedrige Rohstoffpreis ergibt sich zum Teil daraus, dass die Umwelt- und Sozialkosten nicht eingerechnet sind. Oft werden Rohstoffe in Ländern gewonnen, in denen es keine ausreichenden Umweltschutzgesetze und kein Bewusstsein für soziale Verantwortung gibt. Berechnungen zeigen, dass ein iPad aus nachhaltig beschafften Rohstoffen um die 10.000 € kosten könnte.
Für einige Ressourcen wie Kobalt oder Nickel scheint das Recycling schon sehr gut zu funktionieren. In der EU werden schätzungsweise 95 Prozent dieser Materialien recycelt. Die Verwertungsquote von Kupfer liegt bei bis zu 80 Prozent. Lithium hingegen wird bisher praktisch überhaupt nicht recycelt. Können Sie das erklären?
Auch das ist wieder vom Rohstoffpreis abhängig. Nickel und Kobalt sind wertvoller als Lithium. Der Lithiumpreis ist allerdings in den letzten Monaten dramatisch gestiegen. Vielleicht wird damit auch das Recycling wirtschaftlich attraktiver. Aus technischer Sicht ist das Recycling der Hauptbestandteile von Batterien nicht besonders schwierig. Man entlädt die Batterie, wirft sie in einen Schredder und trennt die Materialien voneinander. Das ist ein kostengünstiger und beliebig skalierbarer Prozess. Und das ist der springende Punkt: Recycling lohnt sich wirtschaftlich nur, wenn es in großem Maßstab betrieben werden kann.
Der E-Mobilitätstrend ist nur wenige Jahre alt, und es sind erst ein paar Millionen Elektroautos auf unseren Straßen unterwegs. Deren Batterien werden wir in 15 oder 20 Jahren recyceln können. Sind wir zu ungeduldig, was den Einstieg in die Kreislaufwirtschaft betrifft?
In den nächsten zehn bis 20 Jahren werden wir uns noch nicht darauf verlassen können, dass die Kreislaufwirtschaft einen nennenswerten Teil der Ressourcen liefert. Vorerst müssen wir also viele Rohstoffe aus primären Quellen nutzen. Wir müssen jedoch heute schon sicherstellen, Produkte so zu gestalten, dass wir diese Materialien irgendwann zurückgewinnen und recyceln können.
Wenn unser Ziel eine Kreislaufwirtschaft für wichtige Rohstoffe ist – warum sollte ein Bergbauunternehmen dann Milliarden in ein Geschäft stecken, das in 30 Jahren überflüssig wird?
Das ist in der Tat ein Dilemma. Minenbetreiber sind generell skeptisch, denn vor 20 Jahren wurde ihnen ein riesiger Markt für ihre Rohstoffe versprochen, die für all diese grünen Technologien benötigt werden. Sie investierten also in Minen, aber dann wuchs der Markt viel langsamer als erwartet. Es gab eine Überproduktion, und die Preise fielen. Warum sollten sie also jetzt Geld in neue Minen stecken?
Man könnte öffentliche Gelder investieren.
Das könnte eine sinnvolle Strategie sein. Nehmen wir als Beispiel die Metalle der seltenen Erden, die in Wirklichkeit gar nicht so selten sind. Im Vergleich zu den Endprodukten, in denen sie zum Einsatz kommen, sind sie extrem billig. Der Gewinn, der sich mit der Investition in ein paar Hundert Kilotonnen Rohstoffe generieren lässt, ist also gigantisch. Seltsamerweise haben riesige Wirtschaftsmächte wie die USA oder die EU darauf nicht reagiert. Japan hingegen investiert in eine Reihe von Minen und Raffinerien, etwa in das australische Bergbauunternehmen Lynas.
Könnte sich die EU ein Beispiel daran nehmen?
Industrie und Regierung in Japan sind eng miteinander verflochten. Daher orientiert sich die Regierung stark an den Wünschen der Industrie. In China sind viele strategisch wichtige Unternehmen sogar in staatlicher Hand. Die US-Regierung setzt sich sehr dafür ein, die Versorgung mit Rohstoffen für Batterien durch gesetzliche Maßnahmen wie den Defense Production Act zu sichern. In Europa ist es hingegen eher unüblich, dass sich die Regierung in diese Branchen einmischt, außer vielleicht in Frankreich. Doch selbst in Deutschland verschwimmen die Grenzen mittlerweile: Wenn sich die großen Autohersteller über fehlende Rohstoffe beklagen, schließt die Regierung bilaterale Abkommen mit anderen Ländern. In Ländern wie den Niederlanden oder Dänemark wäre das undenkbar.
2020 wurde die Europäische Rohstoffallianz ERMA gegründet, um einen zuverlässigen, sicheren und nachhaltigen Zugang zu Rohstoffen zu sichern. Könnte die Organisation nicht mehr Investitionen in diesem Bereich auf den Weg bringen?
Die ERMA denkt zumindest über diese Probleme nach. Und sie fördert zahlreiche Forschungsprojekte. In Europa sehe ich nicht die Art von Machtpolitik, wie wir sie aus Japan, den USA oder China kennen. In naher Zukunft könnte sich das allerdings ändern, denn die EU plant ein Rohstoffgesetz. Ich bin zwar nicht sicher, welche Folgen das haben wird, aber es ist ein Schritt in diese Richtung.
Angesichts des Kriegs in der Ukraine sind plötzlich wieder fossile Brennstoffe wie Kohle gefragt. Sind Sie besorgt, dass der Trend zu erneuerbaren Energien an Tempo verliert?
Es ist richtig, dass sich die Umstände ändern. In vielen Regionen ist Solarenergie die günstigste Form der Energie überhaupt, selbst ohne staatliche Förderung. Auf einem freien Markt sollte sie sich also eigentlich durchsetzen können. Aber jetzt steigen die Preise wegen der Verteuerung der Rohstoffe wieder. Ich glaube, dass sich viele Probleme lösen lassen. Doch die Regierungen müssen die richtigen Grenzen innerhalb der Marktwirtschaft setzen, damit sich die Technik in die richtige Richtung entwickeln kann. Technik und Wirtschaft allein werden das nicht schaffen.