Ein großer Teil des Süßwassers verschwindet heute ungenutzt im Meer und lässt den Meeresspiegel zusätzlich ansteigen. Der Hydrologe Johannes Cullmann arbeitet als Fachberater für die Vereinten Nationen. Er hält das Thema Wasser global noch für lösbar – wenn die Schritte schneller kommen als beim Klimawandel.
Herr Dr. Cullmann, von Waldbränden in den Rocky Mountains über den trockengefallenen Rhein bis hin zu Überschwemmungen in Pakistan – die Medien widmen dem Mangel und dem Überfluss an Wasser immer mehr Raum. Erhält das Thema mittlerweile die Aufmerksamkeit, die es verdient?
Johannes Cullmann: Grundsätzlich finde ich es gut, dass die Medien auf das Thema Wasser aufmerksam geworden sind, weil die ganze Debatte um Nachhaltigkeit und Resilienz stark damit zusammenhängt: Ungefähr 80 Prozent aller Naturkatastrophen haben mit Wasser zu tun. Klimawandel ist immer auch Wasserwandel. Unsere soziale und ökonomische Resilienz hängt ebenfalls vom Wasser ab: Wie können wir unsere Landwirtschaft weiter betreiben? Wer erleidet auf Dauer die größten Schäden durch hydrologische Veränderungen? Leider konzentrieren sich die Medien meistens auf spektakuläre Ereignisse. Diese sind nicht zu vermeiden und werden in den kommenden 60 bis 100 Jahren zunehmen. Dürren oder Überschwemmungen sind aber nur ein Teil des Gesamtbilds.
Worauf sollten wir denn genauer schauen?
Auf die Ursachen, die diesen Katastrophen zugrunde liegen – und auf die Konsequenzen, die sich daraus ergeben: Als Erstes müssen wir den Wasserkreislauf verlangsamen. Im Zuge der Gestaltung unserer Landschaft haben die Menschen den Wasserkreislauf durch bauliche Maßnahmen immer mehr beschleunigt, das ging schon bei den Römern los. Wir versuchen seit Langem, Wasser aus unserer unmittelbaren Umgebung fernzuhalten, weil wir Angst haben vor Fluten oder weil wir Land nutzen wollen, um darauf etwa Landwirtschaft zu betreiben. Wenn dann Regen ausbleibt, verschärft das erhöhte Abflusstempo die Gefahr von Dürren. Und Hochwassersituationen werden gefährlich verschärft, weil zu viel Wasser gleichzeitig an einem Punkt ankommt.
Also Tempo runter – was noch?
Der zweite wichtige Punkt: Wir müssen wieder mehr Wasser in unser Gesamtsystem bringen. Die amerikanisch-deutsche Weltraummission Grace beobachtet mithilfe von Satelliten, wo wir weltweit Süßwasser verlieren. Das sind zu einem guten Teil Schnee und Eis, die schmelzen und in die Meere fließen. Aber es passiert auch in wärmeren Regionen wie Brasilien oder in Teilen der USA, wo es keinen Schnee und kein Eis gibt. Hier geht Grundwasser verloren, weil immer mehr Landwirtschaft betrieben wird ohne Rücksicht auf die Ressourcen. Auch in Deutschland verlieren wir jedes Jahr mehr Wasser aus unserem System, als die Deutschen trinken. Das alles führt dann zu dem Teil des Anstiegs des Meeresspiegels, der nicht durch thermische Expansion, also durch die Ausdehnung des vorhandenen Meerwassers, bedingt ist. Wir müssen zusätzliche Speicher schaffen, um diese Verluste auszugleichen, sei es durch Biosysteme und im Grundwasser, sei es durch neue Infrastruktur.
Beim Klimawandel haben wir begriffen, dass er vor allem auf einen übermäßigen Ausstoß von Treibhausgasen zurückzuführen ist. Beim Ozonloch wussten wir irgendwann, dass wir auf FCKW verzichten müssen. Warum tun wir uns so schwer, die Zusammenhänge beim Wasser zu erkennen?
Weil es für die meisten noch kein drängendes Problem darstellt. Das Ozonloch erschien den Leuten unmittelbar bedrohlich, weil sie fürchteten, Hautkrebs zu bekommen. Beim Klimawandel dämmert es den Menschen zumindest, dass er existenziell mit ihrer Zukunft zu tun hat. Beim Wasser sind wir noch nicht so weit – für die meisten ist es erschwinglich und praktisch unbegrenzt verfügbar. Dabei unterschlagen wir jedoch, dass unser Verbrauch weit über das hinausgeht, was wir täglich aus unserem Wasserhahn entnehmen. Er ist um ein Vielfaches größer, wenn wir uns anschauen, wie viel Wasser in all den Lebensmitteln und sonstigen Gütern drinsteckt, die wir konsumieren. Da geht es um den sogenannten Wasserfußabdruck.
Was müsste getan werden, um dieses Bewusstsein zu schärfen?
Wir müssen den Leuten zum Beispiel mehr Informationen darüber geben, unter welchen Umständen die Billigrose, die sie beim Discounter gekauft haben, in Kenia angebaut wurde. Das Wasser, das dafür benötigt wird, fehlt der lokalen Bevölkerung. Wir müssen erklären, dass die Produktion eines halben Pfunds Butter etwa 1.400 Liter Wasser erfordert und Margarine vielleicht eine bessere Alternative darstellt. Wir sollten keine Vorschriften machen, wer was wann konsumieren kann, aber es sollten alle wissen, was ihr Handeln auslöst.
So lobenswert es ist, wenn bewusster konsumiert wird – wäre es nicht wichtiger, den Wasserverbrauch so zu regulieren, dass Sparsamkeit belohnt und Verschwendung bestraft wird?
Mit Subventionen und Steuern lässt sich sicherlich eine Menge erreichen. Zum Beispiel indem der Staat generell Prozesse unterstützt, in denen Wasser wiederverwendet wird. Das könnte auch für kommunale Kläranlagen greifen, die das gesäuberte Wasser bislang zumeist einfach in Flüsse einleiten. Man könnte es auch nutzen, um Flächen wiederzuvernässen oder das Grundwasser aufzufüllen – also den Kreislauf verlangsamen und Speicher schaffen. Keine Kommune macht das von selbst, weil es mehr kostet als die heutige Praxis. Die Differenz müsste man finanziell ausgleichen.
1.400 Liter
Wasser werden für die Produktion
eines halben Pfunds Butter benötigt.
Beim Kohlendioxid hat erst die Bepreisung zu einer signifikanten Verhaltensänderung geführt. Müsste nicht auch Wasser einen Preis haben, der Anreize zum Sparen setzt? Warum sollten die Menschen in Saudi-Arabien ihren Konsum einschränken, wenn der Kubikmeter Leitungswasser bloß drei Cent kostet?
Richtig, es müsste eine globale Einigung her, um Wasser als ökonomisches Gut neu zu bewerten. Zugleich braucht man internationale Vereinbarungen, damit verhindert wird, dass Konsumenten auf Produkte aus dem Nachbarland ausweichen, in denen Wasser billiger oder sogar kostenlos ist. Eine pauschale Verteuerung ohne sinnvolles Regularium ist jedoch gefährlich, weil man damit immer die Ärmsten trifft und nicht die Großverbraucher. Beim Kohlendioxid ist das anders. Wenn Sie den CO2-Preis heraufsetzen, belasten Sie nicht überproportional die unteren Einkommensschichten.
Wie realistisch ist so eine globale Vereinbarung? Angesichts der Dringlichkeit der Probleme bleibt ja nicht viel Zeit zum Verhandeln.
Mit dem UN-Klimasekretariat ist es uns 1992 gelungen, einen Mechanismus zu installieren, in dem alle Länder der Erde zusammenarbeiten, um die Erderwärmung zu begrenzen. Das wichtigste Ergebnis war 2015 das Klimaabkommen von Paris, in dem sich 195 Staaten verpflichtet haben, den Klimawandel einzudämmen und die Weltwirtschaft klimafreundlich umzugestalten. Auf der UN-Wasserkonferenz in diesem Frühjahr wurde ein Prozess angestoßen, der auch zu einem Gremium führen wird, in dem die Mitgliedstaaten der UN miteinander sprechen und Leitlinien erarbeiten. Klar ist aber, dass wir uns nicht wieder wie beim Klima 23 Jahre Zeit nehmen können für eine Einigung.
Prof. Dr. Johannes Cullmann, 50, ist seit 2022 wissenschaftlicher Berater des Präsidenten der UN-Generalversammlung und koordiniert Fragen der nachhaltigen Entwicklung. Zuvor leitete er acht Jahre lang die Wasser- und Klimaaktivitäten der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) in Genf. In seiner Funktion als Referatsleiter in der Bundesanstalt für Gewässerkunde vertrat Cullmann Deutschland in der Kommission für die Hydrologie des Rheins und hat die erste Klimawandelfolgenanalyse für den Fluss mitorganisiert. Von 2012 bis 2014 war der Hydrologe Senior Advisor für die Wasseraktivitäten der WMO und Präsident des Zwischenstaatlichen Rats für Wasser der UNESCO.
In der Landwirtschaft wird weltweit das meiste Wasser verbraucht. Wie könnte eine sparsamere Bewirtschaftung aussehen?
Weniger Monokulturen wären ein Anfang. Bei manchen Pflanzen ist es zudem schlauer, sie in der Reifephase ruhig mit ein bisschen Wasserstress zu konfrontieren, anstatt sie dauernd zu bewässern, weil dann die Frucht besser wird. Es springen vielleicht ein, zwei, drei Tonnen weniger Ertrag pro Hektar heraus, aber dafür lässt sich die Ernte zu einem höheren Preis verkaufen. Bei hochwertigen Agrarprodukten kann es sinnvoll sein, etwas teurere, aber intelligente Bewässerungssysteme zu installieren.
3 Cent
kostet der Kubikmeter Trinkwasser in
Saudi-Arabiens Hauptstadt Riad.
Und was kann die Industrie tun, die in den meisten wohlhabenden Staaten zu den größten Verbrauchern zählt?
Es gibt heute noch viele nicht nachhaltige Prozesse aus einer Zeit, in der über die sparsame Nutzung von Wasser nicht nachgedacht werden musste. Es wurde einfach als Restglied in einer ökonomischen Betrachtung behandelt. Man kann eine Menge Wasser einsparen, indem man es im Kreislauf führt. Das hilft auch, die sogenannte Wärmeverschmutzung zu reduzieren. Der Rhein ist als Folge menschlicher Aktivitäten im Winter bis zu vier Grad wärmer als vor der Industrialisierung. Durch solche Praktiken heizen wir unsere Umwelt auf, und die mit viel Aufwand erzeugte Wärme geht verloren. Als hielte man einen Tauchsieder in den Fluss – das ergibt wenig Sinn. Und anstatt Prozesswasser aus dem verarbeitenden Gewerbe geklärt in Flüsse zu leiten, könnte man es besser in der Landwirtschaft oder der Landschaftspflege nutzen.
Die Industrie verursacht Probleme, inwieweit kann sie aber auch Teil der Lösung sein in Form von Entwicklungen, die dem Wasserschutz dienen?
Die Klärung von Abwässern auch aus der Industrie hat sich durch Innovationen so sehr verbessert, dass man das Ergebnis heute gefahrlos nutzen kann. Das ist ein riesiger Fortschritt. Bei der Meerwasserentsalzung sehe ich viel Potenzial, wenn wir dabei statt fossiler Energieträger weniger klimaschädliche Alternativen nutzen. In Verfahren und Produkten für die Landwirtschaft stecken ebenfalls enorme Möglichkeiten, Wasser intelligenter zu nutzen – Stichwort Tröpfchenbewässerung. Das alles sind Innovationsfelder, an denen Industrie und Wissenschaft einen großen Anteil haben und die der Menschheit enorm helfen.
Daneben kursieren Ideen, die nach Science-Fiction klingen: Da geht es darum, Süßwasservorkommen unter dem Meeresboden anzuzapfen oder Eisberge in wasserarme Gegenden zu schleppen. Haben solche Projekte Zukunft?
Vielleicht gibt es irgendwo auf der Welt einen guten Anwendungsfall dafür. Ich würde aber immer erst mal das besser machen, von dem ich weiß, dass ich es besser machen kann.
Verfügen wir denn über genügend Mittel, um einen umfassenden globalen Umbau der Wasserwirtschaft zu finanzieren?
Wenn ich mir anschaue, wie viel Geld wir für die Bekämpfung der Coronapandemie lockergemacht haben, halte ich das durchaus für finanzierbar. Manche sagen, wir brauchen mehrere Billionen US-Dollar, um das Wasserproblem weltweit zu lösen. Das Geld ist da. Es muss nur der Wille da sein, es richtig auszugeben.
Sie sprechen über Steuergelder. Was ist mit dem Kapitalmarkt?
Staatliche Finanzinstrumente allein werden nicht reichen, um dieses Problems Herr zu werden – zumal ein großer Teil der Wassernutzung Privatunternehmen betrifft. Daher brauchen wir auch den Kapitalmarkt für diese Refokussierung. Ich glaube nicht, dass der Mangel an Finanzierungsmöglichkeiten das Problem ist, sondern eher der Mangel an intelligenter Umsetzung von Transformationsprogrammen.
Beim UN-Wassergipfel in diesem Frühjahr haben Sie es als Erfolg gefeiert, dass sich die Teilnehmer freiwillig zu 689 Maßnahmen verpflichtet haben, um die Wasserkrise zu bekämpfen. Bringt uns Freiwilligkeit angesichts der Dimension des Problems wirklich weiter?
Freiwillige Verpflichtungen sind ein wichtiger Schritt, um Engagement zu erzeugen. Es ist ein guter Mechanismus, um den Leuten klarzumachen, wo Möglichkeiten liegen, Dinge besser zu machen.
689 Massnahmen
sollen als Ergebnis des jüngsten UN-Wassergipfels
weltweit umgesetzt werden
Als Wissenschaftler wissen Sie darum, dass wir schnell Lösungen finden und umsetzen müssen. Als Teil einer politischen Organisation haben Sie es jedoch mit zähen Entscheidungsprozessen zu tun. Verzweifeln Sie manchmal daran?
Natürlich wünsche ich mir, dass es schneller geht. Die letzten zwei Jahre empfand ich jedoch als ausgesprochen positiv, weil ich endlich eine Bereitschaft erkenne, sich mit Wasser zu beschäftigen – und sich zu einigen. Das hat es vor 15 Jahren so nicht gegeben. Zugleich wurde das Thema oft sicherheitspolitisch tabuisiert. Jetzt ist die Privatwirtschaft dabei, Wasser als Ressource zu verstehen und zu würdigen und nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Ich bin daher guter Dinge, dass wir relativ schnell Fortschritte erzielen können.
Es mag zynisch klingen – aber sind weltweit beachtete Ereignisse wie Rhein-Niedrigwasser, Waldbrände in den Rocky Mountains oder Überschwemmungen in Asien hilfreich, um den öffentlichen Druck aufrechtzuerhalten?
Der Mensch macht nur relativ wenig aus reiner Erkenntnis. Für viele Menschen auf der Welt ist das bestehende System ja durchaus vorteilhaft. Solange diese Mentalität bei uns verankert ist, wird es ohne solche Schreckmomente nicht gehen. Leider sieht es so aus: Wir stellen uns jeden Morgen einen Wecker, damit wir zur Arbeit gehen. Und so brauchen wir auch immer wieder eine kleine Katastrophe, um zu verstehen, dass nachhaltige Entwicklung kein Selbstläufer ist, der einfach so passiert.