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Alles im Blick

Lesedauer 10 min
15. November 2019

Mit Precision Livestock Farming bringt Evonik Big Data und Biotech in die Geflügelzucht. Das anspruchsvolle Ziel: Fleisch erzeugen – mit weniger Ressourcen und mehr Tierwohl

Tom Rademacher
Von Tom Rademacher

Freier Journalist in Köln

Gerd Aepker weiß, ob es seinen Hühnern gut geht. „Das sieht man daran, wie sie sich bewegen“, sagt der 70-jährige Landwirt. Vor knapp 20 Jahren hat er den kleinen Familienhof zum Großmastbetrieb umgebaut. Mittlerweile hat Sohn André übernommen. Zwei Ställe, je gut 80 Meter lang, stehen inmitten von Weizenfeldern irgendwo zwischen Bielefeld und Bremen. Drinnen wuseln 74.000 Küken der Rasse „Ross 308“ umher. Sie sind drei Tage alt, flauschig und so groß wie Tennisbälle. Dazwischen staksen an diesem Morgen Männer und Frauen in Gummistiefeln und Overall. Sie sammeln Hühnerkot in Tütchen. Es geht um Wissenschaft, um Tierwohl – und um die Zukunft der Landwirtschaft.

BIG DATA SORGT FÜR HÖHERE PRÄZISION

Die Gäste in Aepkers Stall sind Biotechnologen von Evonik. Der Essener Konzern liefert Futtermittelherstellern seit Langem Additive, die dafür sorgen, dass Tiere ihr Futter besser verwerten. Damit hat Evonik den Grundstein dafür gelegt, Fleisch effizienter und nachhaltiger zu produzieren. Darauf aufbauend entwickelt das Unternehmen jetzt Lösungen, die mehr Produktivität, Qualität und Tierwohl in den Hühnerstall bringen.

Die Fleischproduktion hat erheblichen Einfluss auf Umwelt und Klima. Stickstoffeintrag als Folge der Tierhaltung belastet Grundwasser, Böden und Luft. Ein erheblicher Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche wird für den Futteranbau verwendet. Natürliche Ökosysteme werden durch Äcker oder Viehweiden ersetzt, die Biodiversität leidet. Wo früher Regenwald stand, wächst heute oftmals Soja – ein wichtiger Futtermittelrohstoff. Alle Effekte zusammen tragen zum ökologischen Fußabdruck bei.

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»Wir können den Ausbruch einer Krankheit fünf Tage im Voraus erkennen, ohne ein einziges Tier zu schlachten.«

EMEKA IGWE BIOTECHNOLOGE

Um den Fleischhunger der wachsenden Weltbevölkerung zu stillen, ohne die Ressourcen der Erde überzustrapazieren, ist ein radikaler Wandel nötig. Es gilt, Fleisch mit weniger Ressourcen zu produzieren, ohne dabei die Bedürfnisse der Tiere außer Acht zu lassen. Eine Antwort auf die drängende Ernährungsfrage lautet „Precision Livestock Farming“, kurz PLF, ein Mix aus großen Datenmengen, neuen, vernetzten Technologien und einem ganzheitlichen Verständnis davon, was Tiere gesund hält.

Eine knappe Autostunde südlich vom Aepker-Hof beugt sich Dr. Emeka Igwe über seinen Laptop. Im Labor von Evonik in Halle-Künsebeck vollführt er ein Kunststück, das selbst erfahrene Bauern staunen lässt: Die Kurven auf dem Bildschirm verraten dem Biotechnologen nicht nur, wie gut es Aepkers Hühnern gerade geht, sondern auch, wie es nächste Woche um ihre Gesundheit bestellt sein wird. Ermöglicht wird dies durch ein neues Testverfahren namens ScreenFloX®. Per genetischem Fingerabdruck identifiziert es Krankheitserreger im Hühnerkot – ähnlich wie Kriminaltechniker DNA-Spuren am Tatort nachweisen. Aber Igwe weiß nicht nur, ob Erreger da sind, sondern auch, wie viele. Und das ist entscheidend.

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74.000 Küken leben auf dem Aepker-Hof in Ostwestfalen. In 40 Tagen werden sie zur Schlachtreife aufgezogen – unter ständiger Aufsicht.

DARMKRANKHEITEN WERDEN DEUTLICH FRÜHER ERKANNT

„Das Bakterium Clostridium perfringens zum Beispiel kommt praktisch überall vor“, erklärt Igwe. „Sobald es aber einen gewissen Anteil der Darmflora übernimmt, kann das eine subklinische nekrotische Enteritis auslösen.“ Die kostet Hühnerhalter weltweit jedes Jahr Milliarden €. Sie macht den Hühnerdarm löchrig, die Tiere leiden, wachsen schlecht. Ist die Krankheit erst ausgebrochen, helfen nur noch Antibiotika.

Um die Enteritis nachzuweisen, schlachtet man bislang stichprobenartig Tiere und inspiziert den Darm. Igwe und sein Team können einen Ausbruch fünf Tage im Voraus erkennen, ohne ein einziges Tier zu schlachten. Trefferquote: weit über 90 Prozent. Dann kann der Bauer noch sanft eingreifen, etwa indem er Butyrat ins Trinkwasser gibt, das Salz einer organischen Säure. Diese wird auch von den mikrobiellen Bewohnern des Darms produziert, wo sie den pH-Wert so verändert, dass die Erreger absterben.

Für vier der häufigsten Problemkeime in der Hühnerzucht hat Evonik solche Tests entwickelt. Igwe demonstriert sie dieser Tage in aller Welt – zuletzt bei einem US-Unternehmen mit rund 350 Mastbetrieben und permanent 56 Millionen Tieren. „Solche Konglomerate haben zwar eigene Labors und Veterinäre“, sagt Igwe. „Aber was wir können, können sie noch nicht.“ Eine Mästerei in China kam jüngst erst mit Igwes Hilfe einer verunreinigten Trinkwasserquelle auf die Spur.

Aepkers Hof passt eigentlich gar nicht ins Schema von Evonik. Viel zu klein. Aber Benjamin, der ältere der beiden Aepker-Brüder, arbeitet bei Evonik in Halle-Künsebeck. Und so findet manche Evonik-Entwicklung in Aepkers Ställen ihre erste Testanwendung. „Wir erfahren hier, was die Bauern bewegt“, sagt Igwe.

OPTIMALE VERWERTUNG DES TIERFUTTERS

Die Zeit macht auch vor dem Bauernhof der Aepkers nicht halt. Als André den Hof vom Vater übernahm, wurde die Stallfläche verdoppelt – die relative Zahl der Tiere jedoch verringert. „Damit erfüllen wir die Kriterien des staatlichen Tierwohl-Labels in Deutschland“, erklärt Aepker. Vor Erreichen des Schlachtgewichts wird noch einmal ausgedünnt. Die kleineren Tiere werden Grillhähnchen. Die übrigen erhalten mehr Platz, bis sie ihr Schlachtgewicht von 2,7 Kilo erreicht haben. Picksteine mindern Stress und helfen bei der Verdauung. Da Hühner keine Zähne haben, schlucken sie Steinchen, die im sogenannten Kaumagen das Futter zermahlen.

Effiziente Futterverwertung ist das A und O jeder Viehzucht. Rund ein Drittel der Kosten entfallen auf die Ernährung der Tiere. Elf Tonnen fressen Aepkers Hühner kurz vor der Schlachtung – jeden Tag. Etwa 1,7 Kilogramm Futter braucht ein Huhn, um ein Kilo an Gewicht zuzunehmen. Bei optimaler Fütterung reichen auch 1,5 Kilogramm. Beim Schwein sind es fast drei Kilo, beim Rind meist über sechs. Obendrein bezahlt Aepker für jede Tonne Mist, die entsorgt werden muss. Von dem, was vorne ins Huhn reingeht, sollte also möglichst wenig hinten rauskommen.

Binnen 40 Tagen erreichen die Küken in Aepkers Ställen ihr Zielgewicht. In fünf Wachstumsphasen wird die Futtermischung jeweils auf den Bedarf der Tiere abgestimmt. Den Großteil macht bei Aepker der lokal angebaute Weizen aus. Zur leichteren Verdauung sind die Körner gebrochen. Hinzu kommt ein Mix aus Protein, Vitaminen, Mineralien und essenziellen Aminosäuren, darunter Methionin. Denn die pflanzlichen Proteinquellen enthalten in der Regel relativ wenig Methionin. Dadurch wird die Verwertbarkeit der übrigen Inhaltsstoffe begrenzt.

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Landwirt André Aepker erfährt von Evonik-Mitarbeiter Dr. Frank Thiemann (l.), was die Analyse der Proben aus dem Hühnerstall an Ergebnissen geliefert hat.
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Evonik ist einer der führenden Hersteller von Methionin und produziert die Aminosäure in Deutschland, Belgien, den USA und Singapur. Darüber hinaus bietet das Unternehmen weitere Aminosäureprodukte an, die Defizite im Futter ausgleichen. Spezielle Methionin-Varianten wurden maßgeschneidert für Milchkühe, Fische oder Garnelen.

DIE UMWELT WIRD NACHHALTIG ENTLASTET

Besonders bei der Mast von Huhn und Schwein bieten die Aminosäuren messbare Vorteile. Betriebe, die die Futtermitteladditive und Fütterungskonzepte von Evonik einsetzen, entlasten die Umwelt signifikant. „Würde die gesamte Branche so arbeiten, ließen sich 2030 rund 60 Millionen Tonnen Treibhausgase, 17 Millionen Hektar Ackerfläche und sechs Millionen Tonnen Stickstoff einsparen“, sagt Dr. Ralf Kelle, im Evonik-Segment Nutrition & Care für Nachhaltigkeit verantwortlich.

Um zu wissen, wie viel von welcher Aminosäure einer Futtermischung zugesetzt werden soll, muss die Zusammensetzung der Rohstoffe bekannt sein. Seit 1997 betreibt Evonik die inzwischen umfangreichste Datenbank über den Aminosäuregehalt von Futterpflanzen in aller Welt. Von diesem Wissen profitieren Kunden heute per Smartphone-App. Futtermittelhersteller können ihre Rohstoffe von Evonik sogar in Minutenschnelle mittels Nahinfrarotspektroskopie (NIR) analysieren lassen.

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Um belastbare Ergebnisse zu erhalten, werden die Kotproben überall im Stall nach einem bestimmten Schema eingesammelt.

Precision Livestock Farming soll nun tiefere Einblicke ins Tier und in die Haltungsbedingungen liefern. Allein 2018 hat Evonik in drei Start-ups investiert, die zeigen, wohin die Reise geht. Das niederländische Start-up InOvo hat eine Technologie entwickelt, mit der sich das Geschlecht von Küken schon vor dem Schlüpfen erkennen lässt – das Schreddern männlicher Küken könnte damit der Vergangenheit angehören. Optifarm aus England überwacht mittels Sensoren und Kameras Hühnerställe in aller Welt. Porphyrio – die Ausgründung der belgischen Universität Löwen wurde komplett von Evonik übernommen – entwickelt Big-Data-Systeme und selbstlernende Algorithmen für Prognosen zu allen Teilbereichen der Geflügelzucht.

GUTE KEIME STATT ANTIBIOTIKA

„Beim Precision Livestock Farming geht es darum, das Tierwohl ganzheitlich zu verstehen und möglichst exakte Vorhersagen zu treffen“, erklärt Prof. Dr. Stefan Pelzer, Forschungsleiter Gut Health Solutions bei Animal Nutrition. Ein wichtiges Werkzeug dazu hat er gemeinsam mit dem belgischen Unternehmen ProDigest entwickelt: DAISy, das Dynamic Avian Intestine In-vitro System. Das ist ein Labormodell des Hühnerdarms und Ergebnis eines öffentlich geförderten Forschungsprojekts. In einer Kaskade von Glasgefäßen simuliert DAISy exakt die mikrobiologischen Vorgänge im Hühnerdarm. „Die Medizin hat zuletzt viel darüber gelernt, wie der Darm und das Mikrobiom darin die Gesundheit des Menschen beeinflussen“, sagt Pelzer. Mit DAISys Hilfe sammeln Pelzer und sein Team in Halle-Künsebeck Daten und Erkenntnisse, um Antibiotika im Stall auf das therapeutisch notwendige Maß zu reduzieren.

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Evonik-Mitarbeiterin Michelle Dargatz bereitet in Halle-Künsebeck eine Probe in einem mehrstufigen Prozess auf.

Seit den Fünfzigerjahren werden Antibiotika in der Tierzucht als Wachstumsförderer eingesetzt. Diese Praxis ist in der Europäischen Union zwar seit 2006 verboten, in anderen Teilen der Welt aber nach wie vor üblich. Experten fürchten, dass dadurch Krankheitserreger herangezüchtet werden, die gegen immer mehr Antibiotika resistent und somit auch für den Menschen gefährlich sind. Ohne Antibiotika wird aber etwas anderes zum Problem: Mastküken, die nach dem Schlüpfen aus dem Ei keinen Kontakt mehr zur Mutter haben und deshalb von ihr auch keine guten Bakterien übernehmen können, besitzen eine gering ausgeprägte Darmflora. Sie ist weniger robust und anfälliger für schädliche Keime.

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»Es geht darum, Tierwohl ganzheitlich zu verstehen.«

STEFAN PELZER FORSCHUNGSLEITER GUT HEALTH SOLUTIONS BEI ANIMAL NUTRITION

Evonik setzt auf Probiotika als Lösung. 2016 übernahm der Konzern von dem spanischen Unternehmen Norel dessen Probiotikageschäft, ein Jahr später brachte man das erste selbst entwickelte Präparat auf den Markt. Es enthält einen Bacillus-subtilis-Stamm, der sich in Tests gegen mehr als 500 andere Stämme durchgesetzt hat und gegen jene Bedingungen wirkt, die eine nekrotische Enteritis begünstigen. Außerdem übersteht er hohe Temperaturen bei der Verarbeitung in der Futtermühle.

Landwirte verlassen sich auf ihre Erfahrung. „Wenn der Boden im Stall feucht wird, stimmt was mit der Verdauung der Hühner nicht“, sagt André Aepker. „Dann geben wir erst mal mehr Weizen ins Futter. Das bringt meistens den Darm schon wieder ins Lot.“ Viele Bauern sind jedoch auch offen für Neues. Vor Jahren schon hat Aepker senior mit Probiotika experimentiert. Eine mühsame Prozedur: „Die musste man selbst anrühren und dann gären lassen“, erinnert er sich. Und viel gebracht habe es nicht. Aber im Futter verarbeitet und mit nachgewiesener Wirkung, warum nicht?

Probiotika bilden nur einen von vielen Bausteinen des Precision Livestock Farming. „Moderne Fütterungskonzepte, die gezielte Gabe nutritiver und funktionaler Futtermittelzusätze, die Stärkung des Darmsystems der Tiere und die Optimierung der Haltungsbedingungen – all das trägt zu einer zukunftsfähigen Nutztierhaltung bei“, sagt Pelzer. Er hofft, dass es gelingt, durch diesen ganzheitlichen Ansatz Fleisch zukünftig nachhaltiger und schonender zu produzieren. Davon profitieren am Ende alle.

„Ich mag Hühner“, sagt André Aepker zum Abschied. Anders könne man den Job gar nicht machen. „Im Kopf ist man immer bei den Tieren.“ Dass es ihnen gut geht, ist für den Landwirt existenziell. Als er die Stalltür abschließt, kommt außen ein vergilbter Aufkleber zum Vorschein: „Niemand soll es je vergessen, Bauern sorgen für das Essen.“

Ein Fass voller Aminosäuren

Aminosäuren werden gern als „Bausteine des Lebens“ bezeichnet. Das ist wörtlich gemeint. Jedes Lebewesen auf Erden baut Aminosäuren zu langkettigen Proteinen zusammen – alles von der DNA des Borkenkäfers bis zum Knorpel im Kniegelenk. Um bestimmte Proteine bilden zu können, müssen Mensch und Tier sogenannte essenzielle Aminosäuren über die Nahrung aufnehmen. Die Krux: Fehlt ein einzelner Baustein, werden auch die übrigen unverbaut ausgeschieden. Der deutsche Chemiker Justus Liebig etablierte für dieses Minimumgesetz im 19. Jahrhundert den Vergleich mit einem Fass: Jedes seiner Dauben steht für einen Baustein. Die kürzeste ist in diesem Bild die „erstlimitierende“ Aminosäure – beim Huhn das Methionin. Wer dessen Gehalt im Futter gezielt erhöht, macht auch mehr von den übrigen Nährstoffen nutzbar.

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