Sogenannte Schmelztabletten erleichtern vielen Patienten das Leben. Neuartige Hilfsstoffe aus Kalziumsilikat verbessern die Alltagstauglichkeit der Medikamente – und machen sie noch vielseitiger.
Der Name ist eigentlich absurd“, sagt Professor Jörg Breitkreutz. „Aber daran ändern wir wohl nichts mehr.“ Der Leiter des Instituts für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie an der Uni Düsseldorf beschäftigt sich seit fast zwei Jahrzehnten mit dem, was die deutsche Fachliteratur „Schmelztabletten“ nennt. „Dabei schmilzt da nichts, weder beim Herstellen noch beim Einnehmen“, sagt Breitkreutz. Auch mit einer glatten Glasur – einem „Schmelz“ – hat die Arznei nichts zu tun, im Gegenteil. Schmelztabletten sind unbeschichtet und spröde. Das Besondere daran ist, dass sie sich im Mund schnell auflösen. Im Englischen spricht man daher treffender von orodispersable tablets oder orally disintegrating tablets, kurz ODTs.
SCHNELLE LÖSUNG
So frustriert Breitkreutz von der deutschen Fehlbenennung ist, so begeistert ist er von der Erfindung an sich. „Rund die Hälfte aller neuen Tabletten, die in den USA derzeit entwickelt werden, sind ODTs“, sagt er.
Dass die Entwickler mehr und mehr auf diese Form der Medikamentengabe setzen, hat gute Gründe. Sie verbindet die Vorteile einer Tablette mit denen einer Wirkstofflösung: ODTs lassen sich einfach und exakt dosieren, und man benötigt zur Einnahme kein Wasser. „Die meisten neuen Varianten lösen sich in weniger als zehn Sekunden auf, viele sogar in weniger als fünf Sekunden“, sagt Breitkreutz. So ist der Wirkstoff schnell für den Körper verfügbar, weil er bereits gelöst im Magen ankommt.
ODTs bringen Patienten, die mit herkömmlichen Tabletten Schwierigkeiten haben, deutliche Vorteile. „Bei einem akuten Migräneanfall etwa sind Patienten oft physisch gar nicht in der Lage, lindernde Medikamente zu schlucken“, erklärt der Forscher. Der Magen mache buchstäblich zu.
Um epileptische Anfälle bei Kindern zu unterbrechen, verabreicht man bislang oft krampflösende Mittel wie Diazepam in Form eines Gels rektal. Ein mühsames und für die kleinen Patienten unangenehmes Verfahren. Breitkreutz hat stecknadelkopfgroße ODTs mitentwickelt, die selbst bei Babys und Kleinkindern kein Erstickungsrisiko darstellen und den Wirkstoff zum Teil schon über die Mundschleimhaut in den Körper abgeben, und das besonders schnell: „Sie legen dem Kind eine Tablette in die Wange, streichen einmal drüber, und schon ist sie weg.“
ANFÄLLIG FÜR FEUCHTIGKEIT
Mit kindgerechten Arzneizubereitungen hat sich Breitkreutz bereits 2004 in seiner Habilitation beschäftigt. „Damals gab es kaum speziell für Kinder entwickelte Darreichungsformen“, erinnert er sich. Wenn überhaupt, hätten viele Hersteller zur flüssigen Formulierung als vermeintlich kindgerechtem Saft gegriffen. Der bringt aber ganz eigene Probleme mit sich. So bemängelt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass für flüssige Formulierungen oft Hilfsstoffe wie Lösungsund Konservierungsmittel oder Tenside nötig seien, die zwar für Erwachsene unproblematisch sind, aber Kinder beeinträchtigen können. Zudem sind Säfte teurer und müssen aufgrund ihrer geringeren Stabilität meist gekühlt gelagert werden: zwei große Hindernisse, gerade wenn es darum geht, Kinder in Entwicklungsund Schwellenländern medizinisch zu versorgen. „Die WHO und auch die EU-Initiative ‚Better Medicines for Children‘ haben maßgeblich die Entwicklung neuer ODTs angeschoben“, sagt Breitkreutz. Beendet ist sie noch nicht.
So haben viele herkömmliche ODTs bislang auch einen entscheidenden Nachteil: Sie sind nicht besonders robust und zudem anfällig gegen Feuchtigkeit. Daher müssen sie aufwendig einzeln verpackt werden, damit sie nicht schon vor der Einnahme zerbröseln. Für dieses Problem haben die Experten von Evonik eine Lösung auf Basis von Kieselsäure in der Hand: Rxcipients.
Die Kompetenz in diesem Gebiet übernahm der Spezialchemiekonzern vor drei Jahren mit der Silica-Sparte des US-Unternehmens J.M. Huber. Am Standort Havre de Grace im Bundesstaat Maryland werden Kieselsäuren als Inhaltsstoffe für viele Tablettenformen produziert, darunter auch Rxcipients für ODTs.
J.M. Huber beschäftigte sich zu Beginn des neuen Jahrtausends erstmals mit ODTs. Ein amerikanisches Pharmaunternehmen suchte damals einen Hilfsstoff für eine neue Tablette zur Behandlung von Schizophrenie. Bei der Behandlung solcher psychischen Störungen sind ODTs sehr hilfreich, weil sie eine verlässliche Einnahme erleichtern. Unter Beobachtung eingenommen, lassen sie sich nicht einfach ausspucken.
Dr. Duenwu Hua begleitete die Entwicklung damals. Der gebürtige Taiwaner war Mitte der Achtzigerjahre in die USA gekommen, um in Chemie zu promovieren. Kurz nach der Jahrtausendwende heuerte er bei J.M. Huber an. „Dass ausgerechnet wir die Anfrage bekamen, war eigentlich ungewöhnlich“, erinnert sich Hua. Silica und Silikate kamen zwar seit Langem in der Tablettenproduktion zum Einsatz, etwa um im Produktionsprozess eine homogene Wirkstoffverteilung und damit eine exakte Dosierung in jeder Tablette zu gewährleisten. Für ODTs spielten sie damals aber kaum eine Rolle.
Für den sekundenschnellen Zerfall der ODTs im Mund sind bis heute vor allem sogenannte Sprengmittel entscheidend. Ein gängiges ist Polyvinylpyrrolidon (PVP) in quervernetzter Form, besser bekannt als Crospovidon. Das unverdauliche Polymer quillt im Kontakt mit Wasser oder Speichel schnell an und sprengt so die Tablette.
Damit solche Sprengmittel optimal wirken, dürfen die Tabletten selbst nicht allzu stabil sein. Viele ODTs können deshalb nicht in herkömmlichen Blisterverpackungen verkauft werden. Beim Herausdrücken würden sie schlicht zerbröseln. Die in den USA übliche lose Verpackung in orangefarbenen Plastikdosen mit Deckel ist besonders problematisch: Einfaches Schütteln lässt die Tabletten zerbrechen. Zudem lässt das regelmäßige Öffnen immer wieder Luftfeuchtigkeit eindringen. Dann zerfallen die Tabletten bereits in der Verpackung. Daher stecken ODTs oft in sogenannten Peel-off-Blistern, deren Folie der Patient vorsichtig abziehen soll. Das aber ist gerade für ältere Patienten nicht immer einfach.
Die Herausforderung war damit klar definiert: Ein Zusatzstoff musste her, der dafür sorgt, dass die Tabletten zum einen härter und widerstandsfähiger werden, zugleich die Wirkung der Sprengmittel nach der Einnahme beschleunigt wird. „Das ist eigentlich ein Widerspruch“, erklärt Hua. Doch ein gebranntes Kalziumsilikat ermöglichte schließlich genau diese gewünschten Effekte. J.M. Huber taufte die 2002 patentierte Entwicklung Rxcipients FM 1000. Das Kunstwort leitet sich ab vom englischen Begriff excipients für Hilfsstoffe und dem Kürzel Rx, mit dem in den USA Rezepte gekennzeichnet sind.
WASSERABWEISENDE WIRKUNG
Dr. Falk Rohrbach, der in Hanau die SilicaAnwendungstechnik für Health Care leitet, sieht in Rxcipients ein kleines, aber feines Produkt mit vielen Einsatzmöglichkeiten: „Der besondere Kniff ist das Brennen des Kalziumsilikats“, sagt er. Dadurch erhält man eine Partikeloberfläche mit wasserabweisender Wirkung. Sie hält Feuchtigkeit aus der Luft draußen. Im Mund hingegen baut sich durch die Kombination von Sprengmittel und Rxcipients in der Tablette eine Art Wasserdruck auf, der die Tablette rasend schnell aufbricht.
Joseph Zeleznik, Technical Product Manager beim weltweit tätigen Spezialchemiehändler IMCD, hält auf den Hilfsstoff große Stücke: „Rxcipients hat das Zeug, noch sehr viel mehr ODT-Anwendungen zu verbessern, sowohl für die Pharmahersteller als auch für die Patienten“, sagt er. Ob in Antiallergika, Psychopharmaka oder trendigen Nahrungsergänzungsmitteln oder dort, wo Wasser knapp oder verunreinigt ist – robuste ODTs seien praktisch überall gefragt: von Markeninhabern und Generikaherstellern, für die Pädiatrie ebenso wie für die Geriatrie.
SCHÜTTELN, WIRBELN UND VERMESSEN
Zeleznik muss es wissen. Er betreut für IMCD zahlreiche Pharmaunternehmen im amerikanischen Markt, hat 25 Jahre Erfahrung bei Herstellern und Zulieferern der Branche. Im Pharmaceutical Technical Center in Rochelle Park (New Jersey) arbeitet das Technikteam von IMCD im Auftrag von ODT-Herstellern an Lösungen von Formulierungsproblemen. „Häufig geht es genau um diese Balance zwischen größtmöglicher Robustheit und schnellstmöglicher Löslichkeit“, sagt Zeleznik. Hinzu komme die Kostenfrage: „Viele ODTs konnten bislang nicht auf herkömmlichen Tablettenpressen hergestellt werden, sondern wurden zum Teil direkt in der Verpackung gefriergetrocknet. Hierfür sind spezielle Anlagen erforderlich.“ Dank Rxcipients ließen sich ODTs mit Standardmaschinen pressen und einfacher verpacken. „Unterm Strich haben die Hersteller mehr Verpackungsoptionen, die Kosten sinken, und die Eigenschaften sowie die Qualität des Produkts werden verbessert“, so Zeleznik.
Auf dem aktuellen Stand bleibt die Forschung allerdings nicht stehen. Rohrbach und sein Team wollen ODTs immer weiter verbessern. Sie produzieren dazu Tabletten anhand von Kundenspezifikationen und unter möglichst realen Herstellungsbedingungen. Diese Testtabletten durchlaufen anschließend ein wahres Folterprogramm: Spezielle Apparate schütteln, pressen, wirbeln, wiegen und vermessen die ODTs unermüdlich, um festzustellen, welchen mechanischen Belastungen sie standhalten. In einem industriell standardisierten Verfahren werden sie dann in Wasser aufgelöst, um die exakte Zerfallszeit zu bestimmen.
„Unsere Daten liefern entscheidende Argumente, um Rxcipients in ODTs Standard werden zu lassen“, sagt Rohrbach. „Auch für weitere Anwendungen besteht großes Potenzial.“