Viele Abzüge, darin jeweils ein Kasten mit zwei Kabeln und vielen Schläuchen: Viel mehr gibt es nicht zu sehen bei einem Besuch der Labore von Patrik Stenner in Hanau. Er leitet die Technologieplattform „Electrochemical Processes and Products“ und ist umgeben von nüchternen Apparaturen, die auf den ersten Blick wenig spektakulär oder gar revolutionär wirken. „Hier sieht ja alles gleich aus“, habe ein Besucher sogar einmal angemerkt, wie der Verfahrensingenieur in „Geladen – dem Batteriepodcast zur Energiewende“ berichtet. Das alles gleich aussehe, stimme sogar. „Aber innen drin ist alles anders“, stellt Stenner klar.
»Die Elektrochemie ist eine Schlüsseltechnologie, die nicht nur zur Energiewende beiträgt, sondern auch die Kreislaufwirtschaft in unserem Unternehmen vorantreibt«
Heiko Mennerich Leiter der NextGen Technologies bei Evonik
Und genau auf dieses „innen drin“ kommt es in der Elektrochemie an. Lange in Vergessenheit geraten, erlebt sie seit einigen Jahren eine Renaissance. Und von der versprechen sich Experten Revolutionäres: „Die Elektrochemie ist eine Schlüsseltechnologie, die nicht nur zur Energiewende beiträgt, sondern auch die Kreislaufwirtschaft in unserem Unternehmen vorantreibt,“ sagt beispielsweise Heiko Mennerich, Leiter der NextGen Technologies bei Evonik.
Der Konzern bündelt seit 2021 die Aktivitäten zur Elektrifizierung in eben jener Technologieplattform.
Stenner erforscht darauf mit etwa 20 Mitarbeitern an den Evonik-Standorten in Hanau und Schanghai (China), wie sich Chemie mit Strom betreiben lässt. Entsprechend ist Evonik einer von 14 Industriepartnern, die gemeinsam mit sieben Universitäten und Forschungseinrichtungen in dem vom Bundeswissenschaftsministerium geförderten Projekt „ETOS – Elektrifizierung technisch organischer Synthesen“ an der grünen Transformation der Chemieindustrie arbeiten.
Ein Riesenvorteil
„Innen drin“ – damit ist bei Stenner die organische Elektrosynthese gemeint. Dieses Verfahren nutzt elektrischen Strom als Reaktanten und ermöglicht so, unterschiedlichste neue Verbindungen herzustellen. „Und zwar ohne hochreaktive Reagenzien und Abfälle. Damit habe ich einen Riesenvorteil“, erklärt der Verfahrensingenieur.
Ein Beispiel ist die Herstellung von Cystein. Dieser Rohstoff spielt zum Beispiel in medizinischen Anwendungen wie Schleimlösern oder auch in pflanzlichen Fleischalternativen eine Rolle. In dem herkömmlichen Prozess, dem sogenannten Birch-Verfahren, wird Ammoniak und Natrium eingesetzt. Bei der elektrochemischen Alternative hingegen werden Elektronen genutzt, um Cystein zu synthetisieren.
Um über Möglichkeiten wie diese zu diskutieren, kamen jüngst 70 der führenden Elektrochemie-Expertinnen und Experten des ETOS-Projekts am Evonik-Standort Hanau zusammen, und tauschten sich über die Fortschritte und Herausforderungen der insgesamt 22 Teilprojekte aus. Unter ihnen waren Vertreter von BASF, Bayer, Boehringer Ingelheim und Merck sowie akademische Partner vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und vom Max-Planck-Institut (MPI) für chemische Energiekonversion.
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Sie eint die Überzeugung, das in der Elektrochemie großes Potenzial für den nachhaltigen Wandel der Industrie steckt: „Dank der Elektrochemie können wir elektrischen Strom als Primärenergiequelle nutzen. Wir sind damit weniger abhängig von fossilen Quellen und verringern den CO2-Fußabdruck. Mehr noch: Wir werden weniger Rohstoffe benötigen, um chemische Substanzen herzustellen, und es entsteht weniger Abfall. Und mit ihrer Hilfe können Substanzen einfacher wiederverwendet werden. Es wird also leichter, in die Kreislaufwirtschaft einzusteigen“, erklärte Professor Siegfried R. Waldvogel vom Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion schon im ELEMENTS-Interview.
Waldvogel und Stenner arbeiten gemeinsam an einem Projekt zur elektrochemischen Carboxylierung. Bei diesem Verfahren wird Kohlendioxid (CO₂) mithilfe von Strom in organische Stoffe umgewandelt und somit ein Abfallprodukt zu einer nützlichen Chemikalie. „So können wir den Carbon Footprint unserer Produkte reduzieren und weniger Chemikalien einsetzen, um emissionsfreier zu werden“, erklärt Stenner.
Mit seinem Team forscht er in einer Pilotanlage in Hanau außerdem daran, mittels Elektrodialyse Salze, die in vielen chemischen Prozessen anfallen, zu trennen und wieder in ihre wertvollen Ausgangsstoffe umzuwandeln. Die Wissenschaftler versprechen sich einen besseren Zugang zu wichtigen Rohstoffen auf Kreislaufbasis sowie einfachere und effizientere Prozesse, die weniger Ressourcen benötigen.
„Das übergeordnete Ziel ist die Transformation der chemischen Industrie. Wenn wir frühzeitig handeln, können wir führend werden“, sagt Stenner. Vor allem aber vertraut er darauf, dass der Funke überspringt: „Die Elektrifizierung in der Chemie kann zum Transformationsmotor für andere Industrien werden.“ Und damit wäre längst nicht nur innen drin alles anders.
Das Projekt ETOS
Das Projekt ETOS verfolgt das Ziel, ein interdisziplinäres Innovationsnetzwerk zu etablieren, das die Transformation organisch-elektrochemischer Reaktionen vom Labor- bis zum Pilotmaßstab vorantreibt. Die Entwicklung industriell anwendbarer elektrochemischer Verfahren bildet dabei das Fundament, um die Skalierung und Integration in bestehende Produktionsprozesse zu ermöglichen.
Als erste große interdisziplinäre Technologieplattform verbindet ETOS die organische Synthesechemie mit der chemischen Verfahrens- und Reaktionstechnik. Dadurch werden neuartige Lösungsansätze und Schlüsseltechnologien für nachhaltige, robuste und zukunftsfähige Prozesse und Produkte entlang der gesamten Wertschöpfungskette ermöglicht.