Das Material, das Bauteilen in Fahrzeugen, Pipelines oder Medizinprodukten zu Höchstleistungen verhilft, kommt dezent daher: als schlichtes Granulat. In einer funktionalen Werkshalle mit Betonboden wird es von einer Packmaschine in 25-Kilo-Säcke gefüllt, die zu je 40 Stück auf Paletten gestapelt werden. Mit dem Lastwagen geht es dann aus dem Evonik-Chemiepark in Marl raus zu den Kunden.
Doch der Inhalt dieser Säcke hat es in sich. Es handelt sich um Polyamid 12, kurz PA12. Es gehört zur Premiumklasse der Kunststoffe. Man braucht es dort, wo es technisch anspruchsvoll wird – etwa bei der Fertigung von Kraftstoff- und Kühlmittelleitungen in Autos. Solche Komponenten müssen Höchstleistungen erbringen, um Chemikalien, permanenten Vibrationen und Schmutz standzuhalten. Für den Energiesektor wird PA12 zu leichten und robusten Rohren verarbeitet, und im Bereich der Optik entstehen daraus kristallklare, kratzfeste Sonnenbrillen.
Seit mehr als 60 Jahren ist Evonik Weltmarktführer und verlässlicher Lieferant dieses Kunststoffs. „PA12 kommt hauptsächlich in Spezialanwendungen zum Einsatz, doch der Bedarf wächst: Erst 2021 haben wir hier in Marl die PA12-Kapazitäten weiter ausgebaut und damit die weltgrößte Produktionsanlage für diesen Hightech-Werkstoff in Betrieb genommen“, sagt Florian Hermes, Nachhaltigkeitsexperte im Bereich High Performance Polymers bei Evonik.
Zu den Eigenschaften, die von einem zeitgemäßen Material erwartet werden, gehört heute die Nachhaltigkeit. Die Europäische Union hat ein klimaneutrales Europa bis zum Jahr 2050 zum Ziel. Viele Kunden von Evonik stehen vor der Herausforderung, ihre Kohlendioxidemissionen zu verringern und innerhalb der Lieferkette einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit zu leisten – auch in der Kunststoffbranche. Ein großer Hebel zum Einsparen von Treibhausgas ist die Verringerung des CO2-Rucksacks, den die Rohstoffe mitbringen.
»Wir wollen ihnen allen gerecht werden. Die Universallösung nach dem Motto ‚One size fits all‘ kann es da nicht geben.«
FLORIAN HERMES Nachhaltigkeitsexperte im Bereich High Performance Polymers bei Evonik
„Ein wesentlicher Punkt unserer Strategie ist es, unser PA12 noch nachhaltiger zu machen“, bestätigt Hermes. Die Herausforderung dabei: Da die Kunden das Material in ganz unterschiedlichen Anwendungen einsetzen, stellen sie auch unterschiedliche Anforderungen. „Wir wollen ihnen allen gerecht werden“, sagt Hermes. „Die Universallösung nach dem Motto ‚One size fits all‘ kann es da nicht geben.“ So ist rund um das Kernmaterial eine ganze Produktfamilie gewachsen. Für die Unternehmen heißt das: Sie können zwischen mehreren PA12-Varianten wählen, die unterschiedlich nachhaltig sind. Das hilft ihnen, eigene Ziele zur Kohlendioxidreduktion und gesetzliche Vorgaben zu erfüllen, ohne ihre Produktionsprozesse kostspielig zu ändern. Denn der Kunststoff bleibt stets der gleiche – PA12, mit all seinen herausragenden Eigenschaften.
Stufenweise nachhaltig
Das für jeden Kunden und jeden Einsatzzweck individuell zugeschnittene Polyamid 12 entsteht in einem großen Anlagenverbund mitten im Chemiepark Marl. Im obersten Abschnitt des Komplexes wird das Rohpolymer mit weiteren Zusatzstoffen vermengt: Farbstoffen, manchmal auch Glasfasern, die den Kunststoff besonders fest machen, oder Zusätzen, die dem Kunststoff bestimmte mechanische Eigenschaften verleihen, sogenannte Schlagzähmodifizierer.
Die Kunststoffmischung gelangt über ein langes Rohr zum nächsten Anlagenteil: Im beheizten Extruder kneten rotierende Metallelemente die Zutaten so lange durch, bis eine homogene Masse entsteht. Diese wird dann durch Düsen zu bleistiftdicken Endlossträngen gepresst. Messerscharfe Stahlklingen zerkleinern die erkalteten Stränge am Ende wieder zu feinem Granulat. Anschließend geht es in die Abfüllung und von dort zu den Kunden – Zulieferern der Automobilindustrie, Brillenherstellern oder Schuhfabriken. Ein scheinbar einfacher Prozess, an dessen Ende ein echtes Hightech-Produkt steht.
Wie nachhaltig das jeweilige Polyamid 12 am Ende ist, entscheidet sich an verschiedenen Stellen der Produktionskette. Grundsätzlich wird jede Variante des PA12-Granulats zu 100 Prozent mit Strom aus erneuerbaren Energien hergestellt. Dafür kauft Evonik entsprechende Mengen an Grünstrom ein. Doch darüber hinaus können die Kunden gegen Aufpreis weitere Nachhaltigkeitsoptionen wählen. Beispielsweise erfordert die Polyamid-Produktion viel Dampf und Wärme. Sie werden üblicherweise aus fossilem Erdgas erzeugt. Als grüne Alternative bietet Evonik Dampf und Wärme aus abfallbasiertem Biogas an.
Auch das Thema Erdöl haben Florian Hermes und seine Kollegen angepackt. So können sich Kunden für Polyamid 12 entscheiden, das ganz oder teilweise auf Basis von Recyclinggut hergestellt wird – aus alten Reifen, aus Altkunststoffen oder Öl aus landwirtschaftlichen Abfällen. Diese Rohstoffe gelangen bereits ganz am Anfang in die Produktionskette, dort, wo auch petrochemische Grundstoffe für die Polyamid-Herstellung aufbereitet werden: in den Raffinerien von Energiekonzernen. Das Öl wird dort in sogenannten Crackern in seine Bestandteile zerlegt – unter anderem in eine gasförmige Mischung aus Kohlenstoffketten mit je vier Kohlenstoffatomen. C4-Schnitt heißt diese Mixtur. Sie ist der Grundstock für die Polyamid-Synthese.
Der C4-Schnitt gelangt über eine Pipeline oder per Schiff nach Marl, wo er weiterverarbeitet wird: erst zu Butadien, dann zu einer Kette aus zwölf Kohlenstoffatomen, die PA12 seinen Namen gegeben hat. Über weitere Schritte entsteht daraus schließlich das Polyamid. Dass all diese Schritte in großer Dimension an einem einzigen Ort stattfinden, macht die Anlage in Marl europaweit einzigartig.
Im Kreis geführt
Füttert man die Cracker in der Raffinerie nicht mit Rohöl, sondern zum Beispiel mit altem Speiseöl, verbessert sich der CO2-Fußabdruck. „Wenn sich ein Kunde für die Variante auf Basis solch biozirkulärer Rohstoffe entscheidet, stellen wir sicher, dass für den Gesamtprozess entsprechende Mengen an Altfetten eingekauft und dann in der Raffinerie mitverarbeitet werden“, sagt Hermes. Die Menge der verwendeten nachhaltigen Stoffe kommt in der sogenannten Massenbilanz zum Tragen. Sie ermittelt den Anteil umweltfreundlicher Rohstoffe, der im Endprodukt steckt.
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Das Konzept dahinter ist vergleichbar mit dem des Grünstroms der Energieversorger. Wer möchte, kann den meist etwas teureren Strom aus Sonne und Wind kaufen. Zwar lässt sich am Ende nicht feststellen, ob ein Elektron, das der Kunde aus der heimischen Steckdose zieht, in einem Windpark oder einem Kohlekraftwerk ins Stromnetz eingespeist wurde – insgesamt geht die Rechnung aber auf. „So ist es auch bei unserer Massenbilanz. Chemisch lässt sich im fertigen Produkt nicht mehr unterscheiden, ob ein Molekül aus Erdöl oder Frittenfett stammt“, erklärt Hermes. Für PA12 können die Rohstoffe, die bisher aus fossilen Quellen stammten, rechnerisch vollständig durch wiederverwertete, biozirkuläre oder biobasierte Rohstoffe ersetzt werden.
„Damit der Massenbilanz-Ansatz funktioniert, ist Transparenz und Vertrauen wichtig“, so Hermes. „Daher lassen wir unser Vorgehen jedes Jahr von unabhängigen Prüfern kontrollieren.“ Evonik hat das ISCC-Plus-Nachhaltigkeitszertifikat erhalten. Damit ist sichergestellt, dass das Produkt tatsächlich den Umwelteffekt liefert, den es verspricht. Chemisch ist es am Ende mit dem PA12 aus petrochemischen Rohstoffen identisch. Die Qualität des Kunststoffs ändert sich aufgrund der Nachhaltigkeit also nicht.
Wegbereiter für Kunden
„Unser Ziel ist es, den CO2-Fußabdruck unseres Produkts so weit wie möglich zu verringern – und den Kunden durch die verschiedenen Nachhaltigkeitsansätze die Möglichkeit zu geben, zwischen den Varianten zu wählen“, sagt der Experte. Damit sei Evonik ein Wegbereiter, der die Käufer dabei unterstütze, ihre eigenen Nachhaltigkeitsziele zu verwirklichen. Denn bietet eine Firma Produkte aus nachhaltigen Rohstoffen an, zahlt das auf die eigene Klimabilanz ein und auch auf die ihrer Abnehmer.
Das nachhaltige Polyamid verkauft Evonik unter verschiedenen Namen: die mit grünem Strom hergestellte Standardvariante als VESTAMID, jene, bei der Dampf und Wärme aus Biogas hinzukommen, als VESTAMID RFP – das steht für „reduced footprint“, verkleinerter Fußabdruck.
Bei der dritten, besonders nachhaltigen Variante kommt alles zusammen: Grünstrom, Biogas und nachhaltige Rohstoffe, insbesondere aus Pflanzenabfällen. Sie wird unter dem Namen VESTAMID eCO angeboten. Mit VESTAMID eCO wird eine CO2-Reduzierung von bis zu 70 Prozent gegenüber einem Polyamid erreicht, das aus Erdöl und mit Kohlestrom hergestellt wurde.
Die RFP-Variante ist derzeit vor allem bei Kunden aus der 3D-Druck-Branche gefragt. Sie setzen allerdings kein Granulat ein, sondern ein feines Polyamid-Pulver mit dem Namen VESTOSINT. Es wird im 3D-Drucker Schicht für Schicht aufgeschmolzen, sodass ein Gegenstand in die Höhe wächst.
Nachhaltigkeit als Verkaufsschlager
Auch die eCO-Variante ist im Markt bereits durchgestartet – insbesondere bei den Herstellern von Brillen. Sie benötigen einen kristallklaren, bruchfesten und kratzfesten Kunststoff. Diese Eigenschaften bietet das Polyamid, das Evonik der Optikbranche unter dem Namen TROGAMID anbietet. „Viele Kunden wünschen sich eine nachhaltig hergestellte Brille“, erzählt Jennifer Haßelberg, die das entsprechende Marktsegment leitet.
Als Vorreiter in der Optikbranche hat Zeiss Sunlens bereits sein gesamtes Polyamid-Portfolio für Sonnenbrillengläser ohne Sehstärke auf den nachhaltigen Hightech-Kunststoff umgestellt. Modische Sport- oder Lifestyle-Brillen seien oft Luxusgüter, sagt Haßelberg. „Die etwas höheren Materialkosten können durch einen leicht höheren Verkaufspreis ausgeglichen werden. Dieser Markt gibt das her, da Nachhaltigkeit von allen Seiten gefordert wird.“
Derzeit steige die Nachfrage insbesondere auf dem italienischen Modemarkt. Die Kunden hätten ein gutes Gewissen, wenn sie nachhaltige Brillen kauften, und die Hersteller sammelten Pluspunkte nicht nur bei ihren Kunden, sondern auch für die eigene Klimabilanz.
Mit dem Hochleistungsmaterial lassen sich sowohl Brillengläser als auch Gestelle herstellen. „Endkunden wollen eine leichte und robuste Brille, die Sonnencremes und Desinfektionsmittel standhält – und es auch verzeiht, wenn man sich aus Versehen einmal draufsetzt“, berichtet Haßelberg. Doch das sei erst der Anfang. „Vor allem in der hochpreisigen Modewelt will man auch ein einzigartiges Gefühl verkaufen, und genau das erzeugen wir mit TROGAMID eCO: nachhaltig und makellos.” Die Kunden seien davon begeistert, dass man aus Pflanzenabfällen einen glasklaren Kunststoff bester Qualität erzeugen könne, der weder einen Gelbstich noch Rückstände wie Krümel oder Flecken aufweise.
Neues Leben für alten Kunststoff
Und der Ehrgeiz der Evonik-Forscher geht noch weiter, denn sie wollen beim PA12 auch stark aufs Recycling setzen. Deshalb haben sie eine weitere nachhaltige Variante auf den Markt gebracht: VESTAMID R, wobei R für Recycling steht. Für VESTAMID R sammelt Evonik Polyamid-Reste unter anderem aus der Produktion bei den Kunden ein, um sie zu zerkleinern und dann in der Compoundierung dem Polyamid-Zutatenmix beizumischen. „Diese Diversifizierung von Rohstoffquellen ist wichtig, um Material in ausreichender Menge zusammenzubekommen“, sagt Florian Hermes.
Auch die Wiederverwertung von Produkten aus PA12, die ihr Nutzungsende erreicht haben, haben Hermes und seine Kollegen geprüft. Gemeinsam fuhren sie zu Schrotthändlern und Abfallverwertern, um sich einen Eindruck zu verschaffen, wie die Polyamid-12-Reste aussehen, wenn sie nach Jahren bei Autos und Lastwagen ausgebaut werden. Auf ihrer Tour wollten sie auch herausfinden, ob dort überhaupt genug PA12-Reste zusammenkommen. Ein Ergebnis: In der Regel sind Brems- oder Kraftstoffschläuche so stark verschmutzt, dass eine Aufbereitung für mechanisches Recycling nicht sinnvoll ist.
In solchen Fällen bietet chemisches Recycling die Möglichkeit, den Materialkreislauf zu schließen. Dafür werden gemischte Kunststoffe, die nicht für mechanisches Recycling genutzt werden, so lange erhitzt, bis sich eine dunkelbraune Flüssigkeit bildet: das Pyrolyseöl. Künftig könnte es sich aus sogenanntem Schredderleichtabfall herstellen lassen. Diese Fraktion macht beim Schreddern von Altfahrzeugen im Zuge des Fahrzeugrecyclings etwa ein Viertel des Endmaterials aus.
Das Pyrolyseöl könnte in einer Raffinerie wieder gecrackt werden, um C4-Schnitt für PA12 zu gewinnen. Derzeit treibt die Europäische Union mit der neuen Altfahrzeugverordnung eine Regelung voran, die unter anderem das Ziel hat, die Verwertungsquote in der Automobilindustrie zu erhöhen.
Der Entwurf sieht vor, mehr recycelten Kunststoff einzusetzen. „Durch solche europäischen und internationalen Reglements steigt bei vielen Herstellern der Bedarf an nachhaltigen Produkten. Unser PA12 aus Pyrolyseöl wird dabei helfen“, sagt Hermes. „Unsere unterschiedlichen PA12-Varianten geben dem Kunden die Möglichkeit, für jedes Produkt zu entscheiden, wie viel Nachhaltigkeit er sich wünscht und wie viel er bereit ist zu zahlen.“
Lifecycle-Management
Alle Erkenntnisse und Daten zu Energieverbrauch, Kohlendioxidemission sowie zur Land- und Wassernutzung hat das Lifecycle-Management-Team von Evonik in einer Polyamid-12-Ökobilanz zusammengeführt. Was bisher manuell innerhalb von einigen Wochen erstellt wurde, könnte künftig für einige Typen automatisiert werden.
Vom Öl über das fertige Produkt bis zu Recycling und den alternativen Rohstoffen wurde berechnet, welche Nachhaltigkeitspfade am meisten CO2 einsparen. Die Ergebnisse der Lebenszyklusanalysen sind im Internet einsehbar. Das schafft maximale Transparenz – insbesondere für die Kunden. „Sie sollen die Nachhaltigkeit unseres PA12 im Detail nachvollziehen können. Nicht zuletzt für ihre eigene Klimabilanz und einen kleineren CO2-Fußabdruck“, sagt Hermes.
Transparenz sei fundamental, wenn es darum gehe, die Wirtschaft nachhaltiger aufzustellen und über Unternehmensgrenzen hinweg zusammenzuarbeiten. „Denn letztlich kann man nur gemeinsam etwas bewegen. Dazu muss die gesamte Lieferkette zusammenspielen, vom Rohstofflieferanten bis zum Endkunden.“